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Neunzehntes Kapitel

Der Weihnachtsabend kam heran.

Bisher hatte er ihn immer im Folleniusschen Hause verlebt und das bunte Trara, das sich rings um prunkvolle Gabentische abspielte, als lästige Fessel empfunden.

Zum erstenmal war er allein und frei und konnte die Stunden der deutschen Herzensfeier ausnutzen, wie es ihm selber gefiel.

Als die Dämmerung kam, raffte er die Geschenke zusammen, die er für seine Wirtin und deren Tochter bestimmt hatte, und trug sie hinüber.

Aus dem Halbdunkel blinkte die glitzernde Last eines Tannenbaumes ihm entgegen, der auf dem Sofatische stand und mit seinem allesbeherrschenden Dasein den ganzen Raum zu erfüllen schien.

»Wer ist da?« hörte er die Stimme Helenens, die irgendwo daran herumhantierte.

Und als er seinen Namen genannt hatte, gab es ein jähes Rascheln und Klirren. Dann trat sie hinter dem Geäste hervor und stotterte allerhand von Nichtfertigsein und von Mama, die gleich erscheinen werde.

Damit schlüpfte sie zur Seitentür hinaus, und Sieburth bedachte erstaunt, wie wenig er von der Welt wußte, die neben ihm daherlief und die recht eigentlich auch die seine war.

Nach wenigen Augenblicken kam Frau Schimmelpfennig herein, eine Kerze in der Hand, und hinter ihr, gleichsam in ihrem Schutze, Helene. Sie war schon im Festgewande. Ein braunes Seidenkleid mit grünem Spitzengefältel an Hals und an Armen straffte sich über dem hochgeschnürten Busen, und in den schwarzen Flechten, die das hagere, strenggefügte Gesicht in welligem Bogen umrahmten, saß eine goldene Spange.

Sieburth brachte seine Weihnachtswünsche dar und legte mit einem Scherzwort die Pakete vor sie nieder.

Aber sein Scherz fand keinen Widerhall. Er sah in ein bestürztes Gesicht, dessen Augen von entweichendem Hochgefühl und zerstörten Hoffnungen zu erzählen wußten. Gleichzeitig legte sich von hinten her eine streichelnde Mädchenhand tröstend auf ihre Schulter.

Ein Stammeln erklang: »Ich hatte gehofft – Herr Professor – Sie gehen doch jetzt so wenig aus, nicht wahr? – und würden darum den Weihnachtsabend mit uns zubringen wollen – nicht wahr?«

»Das hätte ich früher wissen müssen, liebe Frau Schimmelpfennig«, log er. »Jetzt habe ich leider schon eine andere Einladung angenommen.«

»Ja, dann freilich – –«, ihre Stimme fror ein. Wie versteinert stand sie da; und die Mädchenhand auf ihrer Schulter streichelte unablässig.

Dann kramte er seine Geschenke aus, die schöne Skunksgarnitur für sie und für Helene die Webersche Weltgeschichte, deren mehrbändige Wucht ihm fast den Arm entzweigedrückt hatte. Daneben noch allerhand, das den Weihnachtstisch ziert und auch späterhin gerne betreut wird.

Aber noch immer zeigte sich kein Glücksschimmer auf den beiden Gesichtern, deren Lächeln nur als Geleit für stummhöfliche Verneigungen da war.

Mit dem bedrückenden Gefühl, lieben und wohlgesinnten Menschen die Festfreude verdorben zu haben, verließ er das Zimmer. Aber das hätte gerade gefehlt, den Handschellen des einen Familienglücks entronnen zu sein, um sich in die eines andern schmieden zu lassen.

Sein Verlangen ging dunklere Wege.

Den Einsamen und Ausgestoßenen wollte er sich gesellen, er, der nun selber einsam und ausgestoßen war. – –

Als er ins Freie trat, füllte ein leichtes Schneegeriesel die Luft. An den Laternenflammen strichen die Flocken wie Nachtschmetterlinge vorüber und setzten sich kitzelnd auf die brünstig atmenden Lippen.

Die Straßen waren dunkel und leer. Nur wenige Geschäfte hielten die Läden geöffnet, nur aus wenigen Kneipen drang Lichterglanz und Stimmenschall.

Es war die Stunde, da man sonst im Folleniusschen Hause zur Bescherung zusammenkam.

Ein Gefühl schmerzhafter Schadenfreude trieb ihn an, sich dorthin auf den Weg zu machen, um heimlich zu beobachten, wer sich nach wie vor in dessen Bann begab.

Das Haustor war weit geöffnet. Wagen fuhren vor und entluden sich ihrer Insassen. Fußgänger – wie er selber einst – schlüpften bescheiden mitten hindurch.

Diesen und jenen erkannte er. »Viel Vergnügen!« raunte er achselzuckend hinter ihnen drein. – Aber eine, die eine, die er, ohne es sich selbst zu gestehen, unter den Gästen erwartet hatte – sah er nicht.

Darum ging er nun auch vor ihr Haus.

Schwarze Fensterläden starrten zu ihm nieder. Nirgends dahinter ein huschender Lichtschein. Und der Laternenschimmer glitzerte höhnisch in dem gewölbten Glase.

›Vielleicht sind sie verreist. Vielleicht sind sie schon vor meiner Ankunft in die Folleniussche Tür getreten‹, dachte er. Gleichviel – daheim waren sie nicht. Was sollten sie wohl dort? Kinderlos, wie sie waren. Auf dem Wunschzettel in Hermas Herzen hatte zuerst auch diese Sehnsucht eine Stelle.

Gewaltsam raffte er sich hoch. Mit allem, was einst sein gewesen, mußte auch sie ins Nichts zurückgesunken sein.

Dann setzte er seine Straßenwanderung fort.

Hie und da rief einer, der mit Paketen beladen daher kam, ihm ein »Fröhliches Fest!« zu, und er antwortete jedesmal so munter, als sei der Wunsch schon in Erfüllung gegangen.

Aus der Höhlung eines Haustors zischte ein leises »Pst! Pst!« ihm entgegen.

Er hielt an. Den Laut kannte man wohl. Aber daß er selbst am Weihnachtsabend zu hören sein werde, war kaum zu vermuten gewesen.

In den finsteren Hoftoren, dort, wo selten jemand aus und ein ging, lauerten sie, die Ärmsten, die Letzten ihres Geschlechtes, und übten in der Enge zwischen Mauer und Türflügel, wohin niemals ein Blick sich verirrte, ihr schmutziges Gewerbe.

Es gelüstete Sieburth, stehen zu bleiben und der Schattengestalt, deren Umriß kaum zu erkennen war, ein Wort als Almosen – und ein klingendes Almosen auch – zur Weihnacht zu gönnen.

Aber auf seine Anrede folgte keine Erwiderung. Zu scheu, zu schuldbewußt schien sie, um die Lippen zu öffnen. Nur weiter in ihren Winkel zog sie sich zurück, erwartend, daß er ihr folge.

»Wer bist du?« fragte er.

»Pst!« war die Antwort.

»Wo wohnst du?« fragte er weiter.

»Pst!« war die Antwort auch jetzt.

»Wenn du mir was von dir erzählst, kriegst du 'n Taler.«

Die unerhörte Lockung verfehlte ihren Zauber nicht. Ein Schwall von rechtfertigenden Worten, gezischelt und gespien, fiel über ihn her. Sie sei eine ehrsame Person, und niemand könne ihr was Böses nachsagen, und für Herrschaften waschen tue sie auch.

›Mutter!‹ blitzte es ihm durch das Hirn.

Aber ihr Mann sei ein altes Schwein und versaufe alles. Und manchmal komme er acht Tage lang nicht nach Hause, und statt Lohn mitzubringen, fordere er noch was von ihr. Und sie habe doch drei Kinder zu Hause. Die wollten alle ernährt sein, und in die Schule gingen sie auch. Und die Nachbarsfrauen sagten alle »Madamchen« zu ihr. So geachtet sei sie im ganzen Hause. Und sogar ein Sofa habe sie. Und auf dem Tisch davor stehe heute ein Weihnachtsbaum, wie bei den feinsten Leuten. Und die Kinder dächten, sie bringe eine Bescherung mit, aber die müsse sie erst noch zusammenverdienen. Ja, wenn er wirklich ein feiner Herr sei und ihr den versprochenen Taler schenken wolle – –.

»Was nützt Ihnen der Taler?« fragte er, ihrer hohen Wohlanständigkeit zuliebe das Duzen fallen lassend. »Sie können ja heute doch nichts mehr dafür kaufen!«

Sie lachte verschmitzt. Eine Nachbarin habe sie. Die gehöre zu den Frommen und renne von einer Bescherung zur andern. Und weine und singe, wie die Herrschaften es gerne sähen. Dort habe sie haufenweise für ihre Kinder geschenkt gekriegt und habe dabei gar keine. Zu der brauche sie bloß hinzugehen. Für einen Taler – dafür kriege sie den ganzen Kram – und auch noch was für den Mann. Aber ob das alte Schwein heute noch komme, das sei sehr ungewiß.

Er faßte in die Tasche und reichte ihr das Geldstück. Eine harte Reibeisenhand tastete gierig danach. Doch als sie es fühlte, wagte sie nicht, es zu ergreifen.

»Aber Härrchen!« hörte er eine verdutzte Stimme.

»Nehmen Sie nur!« sagte er. »Ich gehör' auch zu den Frommen. Aber zu weinen und zu singen brauchen Sie nicht.«

Da riß die tastende Hand den Taler an sich, die Schattengestalt wich danklos zurück, und im nächsten Augenblick war sie in der Finsternis des Hofes verschwunden.

Lachend ging er seines Weges. Eine sorgende Hausmutter – was anderes war auch diese nicht. Selbst in den Abgründen des grausigsten Lasters wohnte die Rührsamkeit des Familiengefühls, der zu entrinnen sein Wunsch war.

Durch Straßen, auf deren Namen er nicht achtete, kam er zu einer Spelunke, durch deren dicht verhangene Fenster ein rätselhaft buntes Geräusch drang, das ihm sagte, daß dahinter auch heute Betrieb war.

›Hierher wird der Weihnachtsrummel hoffentlich nicht gedrungen sein‹, dachte er, in den schmutzigen Hausflur tretend, in dem der Geruch von Petroleumkannen und Teergefäßen sich mit manchem andern wenig erquicklich zusammenfand.

Ein niedriger, kahler, von einer Hängelampe dunstig erhellter Raum tat sich vor ihm auf, während über der Tür eine gellende Klingel seine Ankunft verkündete.

Aber niemand kam. Und das war kein Wunder. Denn der Lärm, der durch die Glastür des Hinterzimmers hereindrang, übertönte sie reichlich.

Männer-, Frauen-, Kinderstimmen, Blechtrompeten, Maultrommeln, Quackfrösche, Feuerknarren, Blasbalghähne und noch vieles andere grell durcheinander.

Er setzte sich auf einen der bretternen Sitze und hörte geduldig zu.

›Über kurz oder lang wird doch jemand kommen‹, dachte er.

Aber er täuschte sich.

Da griff er zu einem Gewaltmittel. Ging zur Eingangstür zurück und öffnete und schloß sie so oft nacheinander, daß das heisere Schreien der Klingel schlechterdings gehört werden mußte.

Da endlich öffnete sich die Glastür, und ein erhitzter, wirrhaariger Mädchenkopf lugte herein.

Was er wünsche.

Ein Glas Grog wünsche er – recht heiß und recht stark.

Der Mädchenkopf verschwand.

Hinter der Glastür wurde es stiller. Offenbar hielt man Rat. Dann öffnete sie sich von neuem, und ein dickwanstiger, feistbackiger Mann, in eine braune, bis auf die Schenkel herabhängende Strickjacke gekleidet, schob sich mit süßem Gastwirtslächeln herein.

»Schön' guten Abend und frohes Fest« – und das Glas Grog könne er natürlich haben, aber ob er es nicht vorziehen wolle, an dem bescheidenen Familienfeste teilzunehmen, zu dem er und seine Frau sich die Ehre gegeben hätten, die Herren Stammgäste einzuladen. Ganz gemütlich und zwanglos. Um den lieben Weihnachtsbaum herum. Mit den lieben Kinderchen. Und für ein kleines Geschenk sei auch gesorgt. Und wenn er sich erkenntlich erweisen wolle, so werde sich niemand beleidigt fühlen. Aber beansprucht werde es nicht. Denn es sei ja Heiliger Abend.

Sieburth freute sich an der haushälterischen Verquickung von Rührsamkeit und Geschäftssinn, und begierig nach neuem Erleben folgte er dem gastlichen Manne in den menschenerfüllten Raum, wo das Weihnachtsfest in einer noch nie geschauten Form sich vor ihm auftun sollte.

Um den Tannenbaum herum ein Kranz von geröteten, blinkäugigen Gesichtern, die ihm halb in Mißtrauen, halb in Übermut entgegenstarrten.

»Prost Fest!« schallte ein vieltöniger Chor, in dem das Krähen der Kinderstimmen nicht fehlte.

Und »Prost Fest!« erwiderte er, ein Dutzend der nächstgelegenen Hände in feuriger Freundschaft ergreifend.

Eine brünette, schwammige Frau mit den zärtlichen Augen der ehemaligen Schankmamsell trat auf ihn zu und begrüßte ihn als die Wirtin des Hauses. Zwei Mädchen hingen an ihr, die eine etwa vierzehnjährig, brünett und heißäugig wie sie, die andere ein langer, fahlblonder Schlacks, ein Jahr jünger vielleicht, aber schon mit mehr Gier als Neugier in den alles wissenden Blicken.

Eine kleine Überraschung für ihn werde sogleich bereit sein, sagte die Frau. Er möge es sich inzwischen nur gemütlich machen.

Und schon brachte das erhitzte und zerzauste Mädel, das ihn vorhin empfangen hatte – die zurzeit amtierende Kellnerin wahrscheinlich – ihm eine Kindertrompete getragen, in die er nach Vorschrift hineinblies.

Derweilen beobachtete er die Welt, in die er geraten war.

Kleinbürger, brav und unschädlich, mit der Marke des Subalternentums auf den vor Ausgelassenheit gedunsenen Gesichtern – Kommis vielleicht und Beamtenanwärter, deren Angehörige an andern Orten wohnten und die in prickelnder Weibstollheit ihre Freiheit genossen.

Dazwischen ein paar Falstaffgestalten, die sich wohl durch dauernden Biergenuß für die Fron des Tages entschädigten. – Alle im Grunde bereit, das Unziemlichste zu wagen, doch durch die Familienhaftigkeit des Ortes harmlos und albern geblieben.

Dann ließ er seine Blicke über den Gabentisch wandern. Da reihten sich in Bild und Spielzeug die eindeutigen Dinge, die man nachsichtig »Junggesellenscherze« zu nennen pflegt, der niederen Notdurft und sexueller Betätigung ihre Stoffe entnehmend.

Betroffen sah er sich nach den halbwüchsigen Mädels um, die diesen Unflat über sich ergehen lassen mußten – zum Überfluß waren auch noch zwei Jungchen da, zehn- und elfjährig dem Aussehen nach – aber alle handwerkten sie unschuldsvoll und selbstverständlich mit den dastehenden Schalkhaftigkeiten herum, daß ihnen jede Schädlichkeit genommen wurde.

Auch sein Geschenk wurde inzwischen dargebracht. Ob man ihm angesehen hatte, daß sein Geschmack einige Stufen über dem der andern stand, oder ob nichts von den saftigeren Dingen mehr da war, es unterschied sich mit einer gewissen Erfreulichkeit von dem lasziven Kram, das den Tisch der Stammgäste füllte. Ein pappenes Dukatenschwein war's, das seine Münze willig von sich gab, sobald man den linken Hinterfuß hochhob, was die Hausherrin selber mit Stolz ihm zeigen kam, worauf die ältere Tochter die Belehrung vervollständigte, indem sie die hinten erschienenen Schätze durch den Rüssel wieder ins Innere tat.

»Und nun zur Abwechslung, meine Herrschaften, singen wir ein Weihnachtslied«, befahl die Stimme des Hausherrn.

Zu gleicher Zeit erhob sich in einer Ecke des Raumes das Klappern und Quarren eines Klaviers, so arg verstimmt, daß man glauben konnte, seine Saiten würden wie eine verrostete Kehle andauernd mit Spirituosen getränkt.

Und siehe da! Der Lärm verstummte, die Mienen schmolzen zu seelischer Stille, und wer einen Sitz ergattern konnte, ließ sich friedlich darauf nieder. Die Töchter des Hauses sowie die Kellnerin fanden ihre Plätze auf den Knien der Gäste, aber nicht zu lüsternen Spielen – unangefochten und voll plötzlicher Würde steiften sie ihre Oberkörper, als säßen sie in der Kirche.

»Noch einmal anfangen!« rief eine Stimme.

Und als das Klavier sich diesem Wunsche fügte, setzte der Chor mit voller Stärke ein: »Schti–hille Nacht, heilige Nacht!«

Und immer so weiter.

Sieburths Blicke glitten von einem Gesichte zum andern, und auf jedem las er dieselbe Empfindung: Hier war Kindheit, hier war Unschuld, hier war paradiesische Seligkeit. – Wohl doch – der Kehlkopf quetschte sich, das Maul klaffte als aufgerissene Höhlung, und was ihr entquoll, war zumeist ein greulicher Mißton, aber in die Augen, in die Augen mußte man sehen! Die erzählten lange Geschichten von Muttermahnen und Artigkeitsstolz und herzzerfressender Sehnsucht – von großen Geschwistern und kleinen Geschwistern und jauchzendem Glockengeläut.

›Das hab' ich bei Follenius nie erlebt‹, dachte er.

Oder doch! Nur seine Seele war verschlossen gewesen.

›Segen der Einsamkeit‹, dachte er weiter.

Da war das Lied zu Ende, und die Verzauberung entwich.

Noch eine kleine Weile währte die Stille. Darauf setzte der Lärm, erst vereinzelt und schüchtern, dann in um so dreisterer Selbstbesinnung wieder ein. Die jungen Mädchen wurden gekitzelt und entrannen kreischend, die Kellnerin wanderte von Schoß zu Schoß und schlug sich lachend mit dem, der sie festhielt, und derjenige, der das Weihnachtslied soeben gespielt hatte, bearbeitete die Tasten mit seinem Rücksitz.

Sieburth fand, daß hier nichts Neues mehr zu erfahren sei, und suchte die Hausfrau auf, um ihr den erwarteten Dank halb heimlich anzuvertrauen.

Ein rascher Blick in die hohle Hand, und sie erkannte, daß er von Gold war.

Da gab es der Wünsche und Bücklinge viele, selbst die zwei jungen Mädchen mußten heran, um seine baldige Wiederkehr zu erbitten.

Und der braunbestrickte Hausherr, der ihn bis vor die Tür geleitete, erklärte mit Nachdruck und Schmalz, er dürfe sich fortan zur Familie zählen.

Ein wenig wirr und ein wenig benommen begann er die Wanderung durch schwarze Straßen von neuem.

Eine Turmuhr schlug elf.

Längere Zeit, als ihm lieb war, hatte die schale Gesellschaft ihm von dem Weihnachtsabend weggenommen.

Doch dann schalt er sich undankbar. Er fühlte, daß er die Bilder der vergangenen Stunde kaum jemals vergessen würde.

Ein Spuk vielleicht nur.

Doch was war nicht Spuk in seinem Leben?

Weiter, weiter! Mehr erleben, viel mehr noch, ehe die Christnacht zu Ende war, die Nacht, in der das Menschenherz seine Türen auftat – Türen zu Tempelhallen oder zu Abtritten.

Gleichviel, man trat ein – und oft fand man beides zugleich.

Da bemerkte er vor sich hergehend eine Mädchengestalt, mit Paketen beladen. In den Bewegungen, mit denen sie sich vorwärts schob, war etwas Unentschlossenes, Zuwartendes, als sei sie gleich ihm mit dem Erleben des Tages nicht fertig.

Er holte sie ein, und als er sie anredete, gewahrte er zwei große, argwöhnische Augen, die sich schielend zu ihm emporrichteten.

Sie sei gewohnt, allein zu sein, und bitte ihn, sie zu verlassen.

Es war eine dunkle, harte Stimme von fast männlicher Klangart.

Die Weihnachtsfeier dürfe niemand allein begehen, erwiderte er, und für den, dem dies Unglück begegne, müsse man Sorge tragen; das sei einfachste Menschenpflicht.

»Sie sehen doch, daß ich gefeiert habe«, erwiderte sie, auf die Pakete weisend.

»Wenn die Feier schon hinter Ihnen liegt«, erwiderte er, »dann ist sie wenig nach Ihrem Sinn gewesen. Sonst wären Sie nicht schon auf dem Heimweg.«

Die großen, argwöhnischen Augen, die in einem mageren, unjungen Gesichte steckten, wandten sich überrascht zu ihm empor.

»Das haben Sie richtig erkannt«, sagte sie. »Ich hasse so was alles, weil es einen Zwang ausübt und meistens falsch und verlogen ist.«

Eine kurze Freude stieg gallenbitter in ihm hoch.

»Da gehören wir beide zusammen«, erwiderte er, »denn ich denke genauso. Aber warum sind Sie denn nicht lieber einsam geblieben wie ich?«

»Weil ich eine Familie habe und den Zusammenhang aufrecht erhalten muß. Wenigstens bei Gelegenheiten wie heute. Denn sonst – –!«

Und sie stieß einen verächtlichen Laut aus, der ihre störrische Selbständigkeit über jeden Zweifel hinaushob.

Er beschloß, der Eigenart dieses herben Geschöpfes auf den Grund zu kommen, und begann behutsam zu forschen.

Nicht vieler Fragen bedurfte es, da wußte er, was er zu wissen begehrte:

Harte Eltern, harte Kinder. Verbote, Trotz, Liebesverhältnis, Ausstoßung, Versöhnung, die keine Versöhnung war, und als Endergebnis ein verspieltes Jugendglück.

»Jetzt halt' ich gerade noch notdürftig mit ihnen zusammen, damit wenigstens der Schein gewahrt wird, daß man eine Familie ist. Aber wohnen tu' ich allein. Und mein Brot verdien' ich mir auch. Und niemand hat mir was dreinzureden. Und wenn ich hundert Liebhaber nehme, so ist das meine Sache. Aber sie sind alle nicht gut genug. Seit dem einen, der nun wen anders geheiratet hat. Und wenn ich an seinem Hause vorübergehe, dann kann ich seinen Kindern die Köpfe streicheln. Und das ist auch bloß ein schäbiges Vergnügen.«

Die Eiskälte eines verlorenen Lebens schauerte über ihn hin.

»Was hat man Ihnen Gutes geschenkt?« fragte er, auf die Pakete weisend. Vielleicht, daß damit ein weicheres Gefühl aus ihr herauszuholen war.

Aber sie lachte nur kurz und grell auf. »Einen warmen Unterrock«, sagte sie. »So warm wie meine Gefühle. Und eine Silberspitzenkrawatte, die mich um zehn Jahre verjüngen wird, wie man mir zugesichert hat. Und einen bunten Teller mit viel Süßigkeiten. Sehr viel Süßigkeiten. Wenn Sie wollen, teil' ich mit Ihnen. Sie werden sich sicher daran den Magen verderben.«

Er dankte und sagte, auch das würde er gern, doch müsse er wissen, was er ihr als Gegengeschenk verehren dürfe.

Sie sah ihm mit scharfem Blicke prüfend ins Gesicht.

»Sie sind ein kluger Mann und ein gewitzter Mann, sonst würden Sie mich nicht so auszuholen verstanden haben. Schicken Sie mir ein Buch, das Ihnen lieb ist. Auf die Gefahr hin, daß ich mir auch den Magen verderbe.«

»Dazu müßt' ich aber wissen, wo Sie wohnen.«

»Das ist sehr einfach«, erwiderte sie. »Wir gehen eben an dem Hause vorüber. Und wenn Sie wollen, können Sie auch mit zu mir 'raufkommen. Rücksichten habe ich keine zu nehmen, und das Teilen würde hier auf der Straße sowieso nicht recht angehen.«

Er dachte: ›So erleb' ich noch richtig was Liebes‹, und folgte ihr zwei dunkle, steile Treppen hinan, durch eine räuchrige Küche, in deren Herd ein Kohlenfeuer noch glühte, und in ein Zimmer hinein, das mit zwei gelblich verhängten Fenstern und einem blaubeschirmten Nachtlicht in laulicher Dämmerung vor ihm lag.

Es roch nach Lavendel und Medizin, und ein wenig nach Weihnachten roch es auch.

Und als sie die Lampe angesteckt hatte, sah er auf dem Tische einen zwei Schuh hohen Weihnachtsbaum, schwarz und ungeschmückt, wie er aus dem Walde gekommen war, und daneben einen Teller mit geröstetem Zwieback.

Das war recht trostlos anzuschauen, und ihn wunderte nicht, daß sie sich einen Fremden mitgenommen hatte, um diesem Eindruck zu entfliehen.

Dann ließ er die Blicke weiterwandern und gewahrte neben dem rotbedeckten Bette ein langgestrecktes Büchergestell und darüber die Bilder von Schiller und Goethe.

»Ich bin Volksschullehrerin«, sagte sie, seinen fragenden Blick gewahrend, und knöpfte den Mantel auf.

»Und da haben Sie keine Rücksichten zu nehmen?« fragte er verwundert. »Ein Besuch wie der meine könnte genügen, Ihnen den Hals zu brechen.«

»Heute paßt keiner auf«, sagte sie gleichmütig, »und sonst tu' ich's auch nicht. Das mit den hundert Liebhabern, das war natürlich Unsinn. Was redet man nicht alles hin, bloß weil man sich einbilden will, man ist frei!«

Sie hatte die Lampe neben den schwarzen Baum gestellt, so daß dessen Geästel krause Schatten über sie hinwarf.

Ein lange goldene Kette umrahmte in zwei glitzernden Bogen die platte Brust; der hagere Hals steckte in einem weißen Herrenkragen, und aus dem schmalen, spitz zulaufenden Gesichte streckten die argwöhnischen Augen festhaltende Klammern nach ihm aus.

›Zur Liebe ist die nicht geschaffen‹, dachte er.

Da fiel sein Blick auf die kastanienbraune Wucht ihres glatt zurückgekämmten Haares, das in mächtigem Knoten bis tief in den Nacken herabfiel.

»Ist das nicht eine Last?« fragte er und ließ die Hand gleichsam prüfend über ihren Scheitel herniedergleiten.

»Was ist nicht eine Last?« fragte sie achselzuckend. »Aber wollen Sie nicht für einen Augenblick Platz nehmen?«

Und sie wies auf die Chaiselongue, die die Stelle eines Sofas versah und hinter der ein in drei bis vier Bogen geraffter Behang aus fahlbraunem Rips das Wandpolster ersetzte.

Er tat nach ihrem Geheiß, und als sie für sich einen der Rohrstühle zurechtschob, sagte er: »Kommen Sie neben mich, damit auch Sie es bequem haben.«

»Sie haben recht«, erwiderte sie. »Am heutigen Abend tut man gut, zusammenzukriechen.«

Und sie setzte sich so dicht neben ihn, daß ihre Schulter die seine berührte.

Er wußte nicht recht, was mit ihr beginnen, und ein wenig aus Mitleid nahm er ihre Hände in die seine, legte sie auf sein Knie und fuhr streichelnd darüber hin.

Matt aufseufzend ließ sie den Kopf gegen den Ripsbehang fallen und lag so eine Weile regungslos und mit geschlossenen Augen.

›Einsamkeit!‹ dachte er und streichelte unentwegt ihre Hand.

Da, wie er in zerstreuter Liebkosung den Arm nach ihrem Nacken erhob, sprang sie jählings in die Höhe, ihre Augen blitzten ihn feindselig an, und mit aufgellender Stimme rief sie: »Was wollen Sie von mir? Was haben Sie hier zu suchen? Glauben Sie vielleicht, Sie können mich verführen? Glauben Sie, ich werfe mich weg? Verlassen Sie mich augenblicklich, oder ich rufe um Hilfe!«

Er wußte zu gut in den Wirrnissen der weiblichen Seele Bescheid, um sich zu wundern.

Schweigend stand er auf und griff nach seinem Hute. Den Überzieher hatte er gar nicht abgelegt.

Sie stand in kauernder Abwehrstellung gegen den Tisch gelehnt und starrte ihn an.

»Ohne daß Sie mich hinuntergeleiten, werden Sie mich kaum loswerden«, sagte er.

Da fuhr sie zusammen und irrte, nach dem Hausschlüssel suchend, im Zimmer umher.

»Sie haben ihn auf den Herd gelegt«, sagte er, sich eines Klirrens erinnernd, das er beim Durchschreiten der Küche gehört hatte.

Ein wilder, weher Blick fuhr über ihn hin.

Dann ging sie schleppenden Schrittes an ihm vorüber zur Tür hinaus.

Er sah, wie sie sich mit den Streichhölzern mühte, um eine Kerze zu entzünden.

»Wenn ich mir einen Rat erlauben darf«, sprach er hinaus, »so machen Sie besser kein Licht. Heimkehrende würden Sie sofort auf der Treppe erkennen.«

Da warf sie die Streichholzschachtel von sich, öffnete die Flurtür und tappte ihm im Dunkeln vorauf.

Vor der Haustür lüftete er den Hut und sagte: »Ich wünsche Ihnen, mein Fräulein, daß Sie eine Weihnacht wie diese nie mehr zu erleben brauchen.«

Und als er sich nach drei Schritten noch einmal umwandte, gewahrte er im Laternenlicht, wie sie, ohne sich zu rühren, in der schwarzen Türöffnung stand und brennenden Auges, als wolle sie ihn zurückrufen, hinter ihm hersah. –

Wohl noch eine Stunde lang strich er in den Straßen umher. Aber außer etlichen Gruppen in Hochstimmung Heimkehrender, die ihm ein »Frohes Fest!« entgegenriefen, begegnete ihm nichts mehr.

Um den Sackheim herum häuften sich Eilende, offenbar um in der katholischen Kirche die Mitternachtsmesse nicht zu versäumen. Und er dachte:

›Wenn du dich in der Türgegend aufstellst, so siehst du sie vielleicht.‹

Wohl warf er den Gedanken in demselben Augenblick weit von sich fort, aber er war ihm doch wie ein Messerstich durch die Brust gefahren.

Nun wurde es Zeit, nach Hause zu gehen. Die Nacht auf der Straße zu verbringen war schließlich auch kein Glück. Eine Angst vor dem finsteren und einsamen Zimmer, wie er sie sonst niemals gekannt hatte, ließ ihn immer noch zögern.

»Auch ich hätte gerne, wie jenes arme Scheusälchen, jemanden mit mir heraufzunehmen«, sagte er vor sich hin.

Aber zugleich atmete er erleichtert auf, in der Freude darüber, daß heute nichts Fremdes an ihm hing.

Ehe er das Einfahrtstor aufschloß – denn er wollte wie gewöhnlich des Nachts, um Mutter und Tochter nicht zu stören, den hinteren Aufgang wählen – mußte er seiner Willenskraft einen Ruck geben; so wenig gelüstete es ihn, in seinen vier Wänden zu sein.

Da, wie er vor der Flurtür stand, die unmittelbar in sein Schlafzimmer führte, war's ihm, als sähe er einen Lichtschein durch das Schlüsselloch dringen, und wie er nun lauschte, hörte er drinnen ganz deutlich ein Wispern und Rascheln.

Eintretend fand er das Schlafzimmer wohl unerhellt, durch die halbgeöffnete Tür aber, die den Bibliotheksraum damit verband, strahlte das Lichtgebäude eines brennenden Weihnachtsbaumes.

Und beim Weitergehen fand er Helene auf einem Stuhl stehend, dünn in die Höhe gereckt, um die letzten der Lichter noch rasch zu entzünden. Die Mutter aber lehnte dicht neben ihr und stützte mit der einen Hand den Stuhl, mit der andern den Baum, damit beides nicht stürze.

Als man seiner gewahr wurde, gab's einen doppelten Schrei. Helene sprang eilends herab und rannte zur Tür hinaus, und ihre Mutter schien willens, ihr auf dem Fuße zu folgen.

Aber schon war er draußen im Flur und zog sie am Arme wieder zurück.

»Zuerst wird mal Rede gestanden«, rief er, »wie man auf die Idee gekommen ist, mir mitten in der Nacht eine Weihnachtsbescherung zu machen. Das war doch noch niemals der Fall!«

Die Mutter schwieg still und biß die Zähne zusammen, aber Helene, die sonst so scheu war, schien nicht abgeneigt, mit sich reden zu lassen, und nach etlichem Zaudern und Stottern kam die Wahrheit zum Vorschein: Er habe zwar gesagt, daß er in Gesellschaft gehe, aber er habe den Alltagsrock anbehalten, und daraus sei zu ersehen gewesen, daß er doch wahrscheinlich allein bleiben werde. Und damit der Heilige Abend nicht gar zu trist für ihn endige, habe man ihm den Baum ins Zimmer gestellt und fleißig zum Fenster hinausgeschaut, um sein Heimkommen nicht zu verfehlen. Von Rechts wegen hätte er niemand von ihnen vorfinden sollen, aber die Zeit vom ersten Sehen bis zum Türaufschließen sei falsch berechnet gewesen – »und darum müssen Sie schon entschuldigen, daß wir beide noch da sind«.

Etwas wie Dankbarkeit stieg warm in ihm hoch. Er ließ sich zum Arbeitstische führen, der zur Feier des Tages abgeräumt und mit weißem Damast bekleidet war, und hörte still zu, während Helene, die in ihrem Eifer immer noch zutraulicher wurde, ihm klar machte, was alles an Gaben seiner dort harrte.

Sie habe ihm ein Paar Pulswärmer gestrickt für die Morgenstunden, wenn der Ofen noch nicht einmal lau war, und das Sofakissen, das sie ihm schon zum Geburtstag habe schenken wollen, sei endlich fertig geworden. Die Mutter aber – doch das müsse die selber sagen.

Und sie wandte sich nach der hinter ihr Stehenden um und zog sie an ihre Seite.

Aber die redete immer noch nicht, und die Tränen rannen ihr über die Backen.

Lachend ermunterte er sie und strich ihr zum Troste die Arme hinab.

Da würgte sie ihre Bewegung herunter und begann ihr Geschenk zu entschuldigen, das als weißes Linnenpaket auf dem Tischtuche lag. Er hätte sich die Oberhemden ja ebensogut im Geschäft bestellen können, und sie habe ihn auch oft daran gemahnt, denn die seinen vertrügen die Wäsche nicht mehr, aber da sein Kopf nun einmal von anderen Dingen voll sei, so habe er's immer wieder verschoben, und darum – –

Er nahm ihre Hände zwischen die seinen und dachte: ›Wenn wir Männer vor Weihnachten in einen Laden gehen und irgendwas zusammenraffen, das daliegt, was wissen wir dann wohl vom Schenken?‹

Und als Mutter und Tochter sich nun bescheiden zurückziehen wollten, bat er sie, noch zu verweilen, damit das Fest, das sie ihm bereitet hatten, vollständig würde.

Frau Schimmelpfennig setzte sich gehorsam. Helene blieb hinter ihrem Stuhle stehen und schaute ihn fragend an, kommender Dinge gewärtig.

›Diese beiden‹, dachte er, ›die sind nun meine Heimat.‹

Aber er wußte nichts Rechtes mit ihnen zu reden.

Da glitt sein Blick von der müde zusammengesunkenen Mutter, die mit halb getrockneten Tränen stumpf vor sich niedersah, zur Tochter empor. Und plötzlich war's ihm, als sei sein Auge aufgetan: Statt des unflüggen Halbkindes, das er als unerheblich und unergiebig so lange hatte neben sich herlaufen lassen, stand vor ihm ein zu lächelnder Herrlichkeit erblühtes, jungstolzes Weib.

Lichtblondes Haargekräusel umrahmte die klare, leuchtende Stirn, hinter der ein Wellenschlag von ruhigfrohen, harmlosen Gedanken sein Frühlingsspiel trieb … In den Augen, groß und blau und eifrig, saß als verstohlener Triumph das Glück, ihn beglückt zu haben … Der Mund mit den süßgewölbten Lippenrändern war halb geöffnet, als wolle er geheimnisvolle Dinge sprechen und traue sich's nicht … Die Wangen, die noch kein widriges Schicksal, keine heimliche Schuld zerfurcht und zerhackt hatten, sanken in weichem Bogen zu dem schon fast üppigen Halse herab, der sich mit einer rosigen Furche in dem hochgeschlossenen Kragen verlor.

Er sah und sah und staunte.

›Das ist ja eine Göttergabe‹, dachte er. ›Wo hab' ich bisher meine Augen gehabt?‹

Durch sie konnte seinem Leben ein neuer, glückbringender Inhalt gegeben werden, der den verlorenen vielleicht mehr als ersetzte, und er nahm sich vor, ihr in seinen Mußestunden Lehrer und Bildner zu sein.

Wohlig dehnte er sich in dem Bewußtsein dieses unverhofften Besitzes, der Licht und Frieden brachte und ihn mit dem Geschenke reinen Hochgefühls zu begnaden versprach.

›Um ihretwillen nehm' ich auch die traurigen Augen der Mutter gern in den Kauf‹, dachte er.

Aber wie er nun den Blick zu der reglos Dasitzenden herniedergehen ließ, erschrak er beinahe. Denn traurig waren diese Augen durchaus nicht. In brennendem, gierigem, argwöhnischem Forschen fraßen sie sich in ihn hinein, als wollten sie ihn überwältigen und Rechenschaft von ihm fordern.

Etwas Verzerrendes, Befleckendes, das die Wohltat der Stunde zuschanden machte, lag in diesen Augen.

›Was willst du von mir?‹ fragte ein Gegenblick.

Aber die Antwort konnte er sich selber mühelos geben: Sie, die seine Neigungen kannte, hatte sein unbedachtes, unbeherrschtes Starren und Staunen mißdeutet, hatte Begehrlichkeit herausgelesen, hatte vielleicht gar sich selbst vernachlässigt gefühlt.

Und da stand sie auch schon auf.

»Geh auf dein Zimmer, mein Kind«, sagte sie. »Der Herr Professor braucht uns nicht mehr.«

Das klang böse, verweisend. Wahrhaftig, wie Eifersucht klang's.

Helene trat beklommen zwei Schritte auf ihn zu und wartete, bis er ihr die Hand geben würde. Er fühlte die ihre für einen Augenblick warm und zuckend zwischen seinen Fingern, dann war sie draußen.

»Der Herr Professor werden die Lichter wohl selber löschen!« sagte die Mutter.

Und er bejahte.

Dann gab es noch einen gezwungenen herzlichen Dank, einen Druck zweier rasch zurückgezogener Hände, und er war allein.

In den Lehnstuhl geworfen, ließ er die Kerzen räuchernd und prasselnd herniederbrennen und sann darüber nach, wieviel Glück und wieviel Schaden ein einziger Blick zu bringen vermag.

Und er fühlte, daß er nun einsamer war, als wäre ihm keine Weihnacht geworden.


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