Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel

Geh ins Licht, mein Freund!

Geh dorthin, wo die Sonne mit dir spielt – wo im Sande Kristallfunken aufblitzen und der Grashalm feuerwerkend sich als Flamme im Äther verliert!

Geh ins Licht – wälze dich im Licht, laß dich durchtränken von Licht, atme Licht und gib es von dir als Lachen!

Denn hier ist Schatten. Zwar lacht auch der Schatten hier, und soviel Sonne birgt er noch immer, daß dein Haus über und über davon bemalt ist – der Linksgiebel morgens, die Längswand mittags, und der Rechtsgiebel abends. – Zwar sprenkelt sich dein Schreibtisch von ihrem Treiben den halben Vormittag lang, und dein Bettgestell tüncht und lackiert sich gar schon morgens um fünfe, aber das Kieferngezweig umgittert dich doch und macht ein Schattengefängnis aus deiner Sonnenwelt.

Drum wirf die Feder auf das Schreibzeug, schichte die Bogen, soweit sie schon trocken, und zieh hinaus auf die Düne …

Deine Arbeitsgedanken kannst du ja mitnehmen, du mußt es sogar, denn die halten dich enger umklammert denn je. Die schleppst du mit dir als Qual und als Glück, als Fessel und als Geschmeide, die lassen dich selbst im Traum nicht los und können's auch nicht, denn sie sind ja du selbst – sind Schicksalsgnade und Existenzrecht zugleich!

So ungefähr sprach Sieburth zu sich an jenem Mittag, an dem er die erste Ferienwoche hinter sich hatte.

Reckte sich in wohliger Hirnmüdigkeit und stand auf.

Wenn die Arbeit ihn freigab, kam er sich immer noch wie verwunschen vor.

Er brauchte bloß um sich zu schauen, dann erschien ihm das, was ihm Umwelt und tägliches Leben war, noch immer als Wunder und durchaus nicht glaubenswert.

Er, das Stadtkind, der Zögling backsteinerner Ungestalt, erkannte mit Staunen, daß Wald und See und Flur und Heide mit demselben Anspruch auf schlichte und phantasiefreie Wirklichkeit da waren, wie Straßen und Plätze und Ziergärten – daß ein Bauernhaus keine Kulisse und der Knecht, der daraus hervortritt, kein Kostümträger zu sein braucht – und mehr noch, daß die Einsamkeiten, die er liebte und die ihm nötig waren wie das Brot, nicht erst durch künstliches Abschließen der Seelentür, nein doch, schon durch die bloße natürliche Daseinsart sich von selber ergaben.

So wohlig einsam war er noch nie im Leben gewesen, ja er hatte nicht einmal geahnt, daß man so einsam sein konnte.

Das kleine einstöckige Holzhaus, das er gemietet hatte, lag wohl eine Viertelstunde vom Dorfe entfernt, dessen Hütten und Gehöfte in der Talsenkung am Fuße des Dünenhangs um einen von uralten Linden beschatteten Weiher sich dicht aneinander reihten.

Mit Herrn Bosien, dem Wirte des einzigen Gasthauses dort unten, hatte er das Abkommen getroffen, daß ihm durch einen dienstbaren Geist das Essen heraufgeschickt und auf dem Herde gewärmt würde. Derselbe dienstbare Geist bereitete ihm morgens das Frühstück und räumte das Zimmer auf. Alle die andern Stunden war er allein.

Der richtige Einsiedelmann.

Auch von den übrigen Gästen, die bei Bosien und in den Bauernhäusern Quartier genommen hatten, wußte er nichts. Ja nicht einmal, wer in den sogenannten »Villen« – Holzhütten, wie die seine – seine Sommerwohnung hatte, war ihm bekannt.

Unterhaltungen mit Briefträger und Dienstmagd vermied er, und andere Menschenstimmen richteten sich nicht an ihn.

Die hörte er nur bisweilen dumpf und verworren seinem Hause sich nähern und in hundert Schritt Entfernung – denn dort führte der Fußpfad durch den Wald – an sich vorüberziehen.

Und kam der Stolz, der Glanz und Höhepunkt des Tages, stand er hoch oben auf dem Kamm der Düne, von dem der Sandsturz steil zum Strande abfiel, kantig und zerklüftet, wie sonst nur Felsen tun, dann drang wohl ab und zu von den dürftigen Buden, die in sittsamer Entfernung voneinander das Herren- und Damenbad darstellten, ein Johlen und ein Quieken zu ihm empor, ohne daß er das Verlangen gespürt hätte, sich zu den etlichen Püppchen zu gesellen, die dort unten im Kampfspiel mit der Brandungswoge Lust und Kraft verschwendeten und vermehrten.

Hatte er den Wunsch zu baden, dann wanderte er auf der Dünenhöhe eine Strecke nach Neukuhren zu, dorthin, wo der Sassauer Wald in jähem Absturz mit schiefgelagerten Stämmen, freigelegten Wurzeln und waagerechten Kronen bis zum Strande hinuntersank, eine phantastische und todgeweihte Wildnis, in der nur selten ein Mensch sich sehen ließ.

Dort kletterte er talwärts, warf im Schutze des halbabgestorbenen Buschwerks die Kleider ab und sprang in die Flut, um dann auf demselben Wege heimzukehren.

Das geschah meistens, wenn der Abend nahe war und die Sonne im Sinken ihre große Feuersbrunst abbrannte. Um die Mittagszeit wagte er sich nicht hinab, denn allzu belebt waren dann Düne und Niederstrand.

›Aber schließlich hab' ich nichts verbrochen‹, sagte er heute zu sich, ›und wenn ich Bekannten begegne, so trag' ich das Unglück mit Würde.‹

Zuerst ging er nach seiner Krähe sehen.

Die hatte er auf der Herfahrt mit zerschossenem Flügel am Wegrande kauernd gefunden und mit sich genommen.

Vom ersten Tage an hatte er sie als seine Gefährtin betrachtet. Wild war sie eigentlich nie gewesen, ein Krähenkind wohl, das Menschenfurcht noch nicht kannte und ihm von Anfang an die Bissen gierig aus der Hand riß.

Unerfahren im Umgang mit allem Tierzeug hatte er ihr in einem Korbe ein Lager zurechtgemacht.

Doch ihre Klauen verlangten nach Umklammerung, und darum tobte sie, mit dem gesunden Flügel um sich schlagend, im Zimmer umher, bis sie irgendein Rundholz, eine Stange oder Leiste gefunden hatte, auf der sie sitzen konnte.

Aber schließlich war es ihm an Lärm und Schmutz zuviel geworden, und darum hatte er sie draußen in einem hölzernen Käfig untergebracht, der früher Hühnern als Herberge gedient haben mochte. In dessen Innerm kam sie ihm gurgelnd und schreiend entgegengestürmt, sobald er sich ihr näherte, denn ihr Futternapf war allzeit leer.

Und als er sie auch heute satt gemacht hatte, schritt er in den Wald hinaus, der in seiner Mittagsschwüle einen Dunst von Harz und Moos und faulem Holze über ihn herströmen ließ.

Nur fünf Minuten noch, dann war die Dünenhöhe und mit ihr Salzwind, Licht und Kühle da.

Die Stämme rückten auseinander, das Flimmerspiel der Luft wurde stärker, und das blauglitzernde Meer stieg gegen den grau erglänzenden Himmel empor.

Wahrlich, so viel Licht war hier vergeudet, daß mit einem Bruchteil tausend Nächte sich in weißen Tag verwandelt hätten! Selbst das Erdreich war eine Feuerfläche, und wo ein Pflanzenteppich dunkelte, da sandte der Widerschein noch so viel Blitze aus, daß er die Helle nur zu vermehren schien.

Sieburth warf sich der Länge nach in den Sand zwischen Eryngiumstauden, die ihre blauen Stachelblätter schützend gegen das Allzuviel des Lichts über ihn breiteten.

Unten kamen weißsträhnige Brandungsstreifen gegen den Strand hin gewandert.

Eile hatten sie nicht – nichts und niemand hatte Eile hier, ausgenommen die Möwen vielleicht, deren Bogenflug, wenn sie Nahrung witterten, zu jähem Zickzack wurde.

Auch die Badenden unten eilten sich nicht. Ihr Puppenspiel zwischen dem ersten und dem zweiten der weißen Streifen verlängerte sich ins Endlose, obwohl die Sonne schon um Mittag stand und bis zur aufgetragenen Mahlzeit hin ein weiter Weg war … Erst unten am Strande entlang, dann die Steiltreppe empor, die eigentlich gar nicht »Treppe« genannt werden konnte, sondern nichts als rohe Bretter aufwies, die von eingeschlagenen Pflöcken in Stufenhöhe waagerecht gehalten wurden, dann ferner – – –

Doch wer mühte sich dort den Abhang hinauf? Nicht auf den Stufen, sondern im Sandhang nebenher, der bröckelnd und stäubend die haltsuchenden Füße wieder und wieder zurückgleiten ließ?

Zwei Frauen- – nein, Mädchengestalten, lichtweiß gegen lichtweiß stehend und nur dort in den schmalen Umrißlinien deutlich erkennbar, wo das dunklere Meer den Hintergrund abgab.

Sie lachten und trotzten – der Wind trug ihr Gelächter empor – aber der Sand ließ nicht mit sich spaßen, er zog sie immer von neuem hinab, bis sie den übermütigen und aussichtslosen Kampf einstellten und, friedlich geworden, die Stufenbretter benutzten.

So verschwanden sie wieder, denn der Absturz wurde oben fast senkrecht, und kamen mit Kopf und Brust erst zum Vorschein, als sie die Höhe erklommen hatten.

Da erkannte er sie und erschrak.

Sollte er aufstehen oder sich kriechend von dannen machen – rasch in den Wald hinein?

Nein doch! Fraglos hätten auch sie ihn erkannt, und dann wäre das Lachen dieser Stunde – als Lachen über ihn – noch im Winter lebendig gewesen.

Drum blieb er reglos liegen und wartete, welchen Weg sie einschlagen würden.

Aber er hatte kein Glück: als Schicksal seiner künftigen Tage kamen sie geradeswegs auf ihn zu.

Wohl oder übel mußte er sich bequemen, aufzustehen, um Reverenz zu machen, und da gab's des Sichfreuens kein Ende.

»Wir wußten natürlich, daß Sie hier sind«, sagte Milly, »und Papa meinte schon, er wolle Sie aufsuchen –«

»Aber Mama und wir beide rieten ihm dringend ab«, fuhr Cilly fort, »daß er es sein ließ.«

»Und warum rieten Sie so dringend ab?«

»Weil Sie augenscheinlich wie allen andern auch uns aus dem Wege gehen wollten«, erwiderte Milly.

»Wenn ich die leiseste Ahnung gehabt hätte, daß Sie hier sind –«, beteuerte er.

»Ausnahmsweise glaube ich Ihnen«, scherzte Cilly, »denn uns hat erst in letzter Stunde ein glücklicher Zufall hergebracht. Stadtrat Weber will oder muß wegen der Vorbereitungen zum Kaiserbesuch in Königsberg bleiben, und darum hat er uns sein Häuschen zur Verfügung gestellt. Ist das nicht fein?«

Im Anschluß daran erzählte er, wie er zu seinem Häuschen gekommen war, erzählte von seinen Arbeiten, von seiner Zweisamkeit mit der Krähe, und beide Schwestern brannten darauf, die Gefährtin seiner Tage kennenzulernen.

So führte er sie also quer durch den Wald zu seinem Heimwesen hin, bat sie, auf der Bank Platz zu nehmen, die unter den Fenstern stand, und bückte sich, das Tier aus dem Verschlage herauszuholen.

Als er, die flatternde Beute zwischen den Fingern, sich aufrichtete, bemerkte er, daß Milly ihm wohl voll Neugier entgegensah – Cilly aber saß seitwärts gewandt, den Kopf halb ins Innere des Hauses gerichtet, und schaute mit einer solchen Zärtlichkeit nach seinem Schreibtisch hin, daß ihm ein Stich des Selbstvorwurfs jäh durch die Brust fuhr.

Doch dann, wie um nicht ertappt zu werden, sprang sie rasch auf und widmete sich mit um so größerer Anteilnahme dem nach ihr schnappenden Vogel, der wegen andauernder Unliebenswürdigkeit alsbald wieder in seinem Verschlage verstaut wurde.

Sieburth wagte die Damen für einen Augenblick in sein Arbeitszimmer zu bitten, aber sie lehnten ab und erklärten, sofort heimgehen zu müssen, da Milly sich bei dem leichtsinnigen Aufstieg den Fuß ein wenig verknackst habe, der sich mit Wehtun zu melden beginne.

So geleitete er sie ins Tal hinab zu dem Holzhause hin, das, wenige Schritte vom Dorfe entfernt, inmitten eines bäuerlichen Gemüsegartens, verwöhnten Städtern bescheidene Zuflucht bot.

Der Geheimrat, ein Gnom mit mächtigem Apostelkopf, begrüßte ihn herzlich, und seine Gattin, die mit ihrem blaßblonden Scheitel und ihrer hageren Hochgestalt aus dem Landedelhof ihrer Geburt geradeswegs hierher verschlagen schien, lud ihn ein, ohne viel Umstände an dem wartenden Mittagstische Platz zu nehmen.

Aber er dankte und erbat sich nur die Erlaubnis, im Laufe des morgigen Tages die jungen Damen zu einem Spaziergang abzuholen.

Als er wieder allein war, ärgerte er sich über seine Anbiederung und die voraussichtlich verschwendeten Stunden.

›Wenn ich wenigstens Cilly allein für mich haben könnte‹, dachte er, ›dann würde sich ein ernsteres Gespräch allenfalls in Gang bringen lassen.‹

Und dann fiel der Blick ihm ein, mit dem sie seinen Arbeitsplatz geliebkost hatte. Ein wenig weh und ein wenig ängstlich ward ihm zumute.

›Wenn ich Herma nicht hätte‹, dachte er weiter, ›dann wäre ich ihr und der Ehe jetzt rettungslos verfallen.‹

Aus einer solchen Ferienidylle kam selbst der Schlaueste und der Zäheste unverlobt nicht wieder heraus.

Aber Hermas Bild war der Talisman, der ihn vor der Gefahr des Gefangenseins schützte. Er zählte die Tage, bis er sie wiedersehen durfte. Nur noch zwei Wochen trennten ihn von ihrer Rückkehr und dem Kaiserbesuche, der das langersehnte Zusammensein herbeizuführen versprach.

Er träumte davon in jedem Augenblick, in dem die Arbeit ihn freigab, aber sich auszumalen, was alles dabei geschehen könnte, dazu fehlte ihm noch immer der Mut. Nur an ihrer Seite gehen, nur mit ihr reden dürfen – zeugenlos und ohne ein baldiges Ende zu fürchten, das war des Glückes genug.

Am folgenden Nachmittag sprach er bei Wendlands vor, und siehe da, sein Wunsch wurde erfüllt: Millys Knöchel war geschwollen und verlangte nach ausgiebiger Ruhe.

So machte es sich von selbst, daß er mit Cilly allein die Wanderung antreten durfte.

Wohin? Der Wege gab es viele, aber er kannte sie nicht. Er war über den Gang zum Sassauer Waldsturz noch niemals hinausgekommen. Ihr wiederum war die Stelle noch fremd, und darum bat sie, sie hinzuführen.

So schritten sie gleichwie in früheren Sommern nebeneinander dahin. Und es war wie ein Wiederhaben und eine Heimat.

Keine Säuerlichkeit und kein verborgener Vorwurf, wie umworbene und dann vernachlässigte Mädchen sie ihren Verehrern gegenüber an sich haben, zeigte sich in ihrem Wesen. Heiter und hingegeben, voll freundschaftlicher Schelmerei, nahm sie die Beziehungen da wieder auf, wo sie einst abgebrochen worden waren, und zögerte nicht lange, ihn nach seinen Arbeiten zu fragen.

»Denn das ist nun einmal das Beste, das mich mit Ihnen verbindet«, fügte sie, um ihre Neugier zu rechtfertigen, lachend hinzu.

Und hierin war er ganz mit ihr einig.

»Mit dem Hinblick auf die Naturwissenschaften ist es ja glänzend gegangen«, fuhr sie dann fort.

Er bat um Erklärung.

»Besinnen Sie sich nicht mehr auf das, was Sie mir im Frühling bei Follenius klagten? Daß Sie in den Naturwissenschaften immer ein Fremdling bleiben würden? Und dann kam die Vorlesung des Sommersemesters, die Ihre gesamten Besorgnisse Lügen gestraft hat.«

»Was wissen Sie von meiner Vorlesung?« fragte er voll Verwunderung.

»Nun, ich habe mich erkundigt. Die Herren Naturwissenschaftler sind baff über alle die Kenntnisse, die Sie in den ihnen erbuntertänigen Fächern entwickelt haben sollen.«

»Wer paßt denn da so auf?« fragte er immer erstaunter.

»Es paßt eben jeder auf den andern auf«, erwiderte sie lachend. »Das ist auf den kleineren Universitäten nicht anders. Und Hörer, die sich gerne ausfragen lassen, gibt es die Menge.«

»Haben auch Sie einen ausgefragt?«

Sie wandte sich ab, um ein Erröten zu verbergen.

»Man hat wohl so seine Verbindungen«, lachte sie. »Daran können der Herr Professor nichts ändern. Lieber wär's mir natürlich, ich dürfte einen direkteren Weg wählen. Aber oft gehen wir ja nicht in den Dünenwäldern spazieren.«

»Jetzt könnten wir nachholen, wenn es Ihnen beliebt.«

Und dies war mehr als bloße Höflichkeit. Alles, was sie sprach und lächelte und blickte, tat seinem Wesen wohl. Sie war wie der Sommerwind, der laulich streichelnd ihn umgab.

Allgemach lichteten sich die Zweige, und Meer und Düne lagen vor ihnen.

Schon neigte sich die Sonne dem Horizonte zu, die Wogen waren zur Ruhe gegangen, und auf der purpurnen Strahlenbrücke, die über den blauen Spiegel hin sich auf den erglühenden Strand warf, liefen spielend nackte Kinder herum.

»Ist es nicht wie im Märchen?« fragte sie, in die Tiefe weisend.

»Nichts ist wie ein Märchen«, erwiderte er. »Das Wasser ist naß, die Bälger kreischen, und wir reden Philosophie.«

»Wir brauchen ja nicht«, lachte sie, ein kleines Verletztsein hinunterschluckend.

»Doch, doch«, entgegnete er, »es ist ja das Beste, was uns verbindet.«

Der scheubestürzte Blick, mit dem sie ihn ansah, war nicht zu mißdeuten. Und er schämte sich, sie gequält zu haben. Drum sagte er rasch, sich verbessernd: »Vielleicht verbindet uns doch noch manches andere, das ebensoviel wert ist.«

Und sogleich war sie beruhigt und versöhnt.

Schweigend schritten sie nun auf der Dünenhöhe dahin.

Wenn ein Einschnitt kam, liefen sie die Senkung hinab, und soweit der Schwung noch reichte, die jenseitige Steigung wieder empor.

So gelangten sie zu dem Erdsturz, der ihr Ziel war.

Durcheinandergeworfen, sich gegenseitig stützend, von Lebensgier am Leben gehalten, hingen Stämme und Kronen über der Tiefe.

»Wollen wir hinunter?« fragte er.

Sogleich kletterte sie ihm voran – über ragendes Wurzelwerk und sinkende Stümpfe, durch das Buschwerk der Kronen, an dürrem Gezweig entlang – von Baum zu Baum, von Sandriff zu Sandriff.

Und als sie an einer Astgabelung anlangten, die sich weit in die Lüfte streckte und von der aus ein Weiterkommen unmöglich war, hielt sie tiefatmend inne und rief nach ihm zurück: »Hier ist's gut sein! Hier wollen wir ausruhen!«

»Über dem Abgrund?« fragte er, um ihretwillen bedenklich.

Aber sie lachte nur. »Hängen wir nicht immer über dem Abgrund? Wir wissen's nur nicht.«

Irgend etwas in diesen Worten traf ihn mit Messerschärfe. Und er sagte, die Worte wägend:

»Sie mögen recht haben, aber gerade dieses Nichtwissen, dieses Schlafwandlertum hält und erhält uns.«

Sie hatte in dem Winkel zwischen zwei Ästen einen Ruhepunkt gefunden, und die Füße gegen einen dritten stemmend, der sich nach unten hin streckte, machte sie sich ein Nest zurecht, in dem es ihr wunder wie wohl zu sein schien.

Er – nahe hinter ihr – saß rittlings auf dem waagrecht hängenden Stamme. Und da er einen Knorren als Stütze dicht über sich fand, so konnte er es wagen, sich lang zu legen und in den Himmel zu schauen. Und hob er den Kopf ein wenig, dann sah er vor sich ihren rosigen Nackenrand und das lichtblonde Haar.

Nach unten aber ging es noch manchen Meter weit in die Tiefe.

»Es ist unrecht von mir«, sagte er, »daß ich Sie so halsbrecherische Wege führe.«

»Bitte sehr«, lachte sie, »geführt habe ich, und ich bin stolz darauf. Denn wir hängen nun wirklich über dem Abgrund.«

»Wie kam Ihnen eigentlich jener Einfall?« fragte er. »Eine Familientochter wie Sie! Geehrt und gehütet – von jedem Gedankenwirrsal himmelweit entfernt – –«

»Wissen Sie das so genau?«

»Nun gut. Gedanken sind zollfrei. Um so ferner aber von jedem Wirrsal des Geschehens. Denn was man in der bürgerlichen Welt wohl Schuld oder Sünde nennt –«

»Bloß in der bürgerlichen?«

Er schwieg. Was er dachte, lag von ihrem Mädchentum weitab. Sie hätte es als Verführung gedeutet.

»Ich frage nicht aus Kleinlichkeit«, fuhr sie fort. »Aber ich denke, die Pflicht, die den einen bindet, bindet auch alle.«

»Wenn es so etwas wie Pflicht überhaupt gibt«, sagte er.

Erschrocken versuchte sie, sich nach ihm umzudrehen.

»Und Sie wollen ein Nachfolger Kants werden?« rief sie. »Sie wollen die ›drei Stufen der Ethik‹ schreiben?«

Nun war es an ihm, zu erschrecken. »Was wissen Sie von meinen ›drei Stufen der Ethik‹?« fragte er.

»Sie haben mir doch im vorigen Sommer davon gesprochen und gesagt, daß die Arbeit daran Ihre nächsten zwei Jahre ausfüllen werde. Ich habe mir oft genug den Kopf darüber zerbrochen, was diese Stufen wohl sein könnten, denn mehr als den Titel weiß ich ja nicht.«

»Wenn ich Ihnen sagte, was es damit für eine Bewandtnis hat – Ihr Schweigeversprechen vorausgesetzt – würde es Ihnen Vergnügen bereiten?«

Er sah, wie die Freude sie aufzucken ließ.

»Aber jetzt – hier!« rief sie. »Hier, zwischen Himmel und Erde hängend – wie im Weltall verloren! Eine Stunde wie diese kommt uns nicht wieder.«

»Gut denn«, begann er. »Aber Sie müssen sich keine Zauberformeln vorstellen. Was wir Begriffsmenschen aufschaufeln, ist immer grau und unscheinbar. Aber manchmal trifft's eine Wasserader, und dann sprudelt ein Denkquell heraus.«

Er hielt inne, um Atem zu sammeln, und sie horchte gespannt.

»Was mich schon lange geärgert hat«, fuhr er fort, »ist, daß die meisten Ethiker von den Menschen, wie ungleich sie auch sein mögen, immer das Gleiche verlangen. Damit bleiben ihre Systeme in der Luft hängen. Drum hab' ich mir die Stufenfolge ausgedacht, die in einem verwandten Sinne auch nicht neu ist – schon seit Aristoteles nicht – bis auf Schopenhauer und – aber ich will nicht abschweifen. Neu ist bei mir nur die Einteilung, mit der ich wohl erbittertem Widerstande begegnen werde.«

Und dann setzte er ihr auseinander, daß jede Ethik, wie viele Denker schon seit Jahrtausenden getan, beim Eigennutz oder der Selbstliebe einsetzen müsse.

»Willst du, geehrter Mitmensch, dich über deine urwüchsigen Instinkte nicht erheben, willst du von deinem Dasein nichts als Lust und Reichtum und eigenes Gedeihen, gut, es sei dir vergönnt, und kein Gestrenger kann dir dran tippen … Sei unbarmherzig, soviel du willst – gib einen Ellbogenstoß jedem, der dir im Wege steht schätze deinen Nächsten nur, soweit er dir Vorteil oder Vergnügen bringt – alles gut, alles berechtigt. Und die göttliche Mutter Natur lehrt dich täglich das gleiche. Daß du übrigens nicht allzu heftig über die Stränge schlägst, dafür werden die Strafgesetze schon sorgen, die überhaupt die gedankliche Libertinage der Herren Ethiker in höchst beruhigender Weise ergänzen.«

»Aber was Sie da schildern«, rief Cilly, »ist doch alles tadelnswert, unethisch und böse.«

»Sie irren«, erwiderte er, »ich tadle nicht. Auch den Proleten nicht, den ich Ihnen hier produziere. Und Gut und Böse gibt's für mich ebenso wie für Spinoza und manchen andern nur im Sinne des Nützlichen oder Unnützlichen.«

»Nützlich – wem?« sagte sie.

»Sehen Sie – darauf kommt's an! Und nun steigen wir zur zweiten Stufe empor. Hier ändert sich das Bild. Hier hat die Erziehung reichere Früchte getragen, hier herrschen Rücksichtnahme, Einfühlung, Opferfreude, Wahrheitsglut, Lust am Leiden um der Allgemeinheit willen, alle Errungenschaften jahrtausendealter geistiger und seelischer Bildung. Hier formen sich die geeichten Lehrer und Führer. Hier werden die Goldbarren der Menschheitsideen zu gängiger Münze geprägt, hier vollzieht sich unmerklich der Wandlungsprozeß, der jeder Generation ihr eigenes Blühen verbürgt.«

»Und hierüber hinaus soll es noch etwas Höheres geben?« fragte Cilly, die ihm wohlgefällig gefolgt war. »Sind mit dieser Seelenverfassung nicht schon die Besten der Menschheit gekennzeichnet?«

»›Die Besten‹ – ins Griechische zurückübersetzt mit ›Aristoi‹ – sehr gut! Aber über den ›Aristoi‹ des griechischen Stadtstaates gab es zuzeiten noch etwas ganz anderes – das waren die Tyrannen. Und zu den Menschheitstyrannen kommen wir jetzt. Das sind die Männer der dritten, der obersten Stufe. Sie weisen dem Menschengeschlecht seine Wege. Sie zwingen ihm die eigenen Ideen auf, so daß es schmachvoll und lächerlich wird, anders zu denken wie sie. Sie pfeifen auf jedes geschriebene oder nachgefühlte Gesetz und geben sich selber Gesetze, wenn sie nicht gerade nach der Willkür des Augenblicks handeln. Dahin gehören die Eroberer und die Staatenbildner, die Genies im Reiche der Gedanken und der Kunst, und ich möchte auch sagen: die großen Verbrecher, wenn sie nicht zu einem andern Teile armselige Lumpen und Schwachsinnige wären.«

»Das würden im ganzen nur wenige sein«, sagte Cilly mit einem abermaligen Versuch, sich nach ihm umzuwenden, »nicht gar viel mehr in jeder Generation, als an den zehn Fingern herzuzählen. Lohnt es sich, für die eine eigene Klasse zu bilden?«

Überrascht blickte er zu ihr hinüber.

»Sie haben recht«, sagte er, »und locken mir meine Gedanken wie Hundebrut aus dem dunkelsten Winkel des Stalles … Zu den wenigen, von denen ich sprach, kommen die vielen, die, ohne gerade Naturgewalten zu sein wie jene, sich stark genug fühlen, aus sich selbst die Norm ihres Handelns zu schöpfen … Zuerst einmal nur in der Theorie, denn sie sind ja Produkte der jeweiligen Gesellschaft und haben die Bedingungen, unter denen sie zusammenhockt, mit der Muttermilch eingesogen. Dann aber auch in der Praxis, wo ihnen das Netz moralischer Forderungen, das unsere Erziehung uns über den Kopf wirft, als unerträglich erscheint. Man nennt sie ›Persönlichkeiten‹ und ärgert sich an ihnen allewege, wenn man sie nicht unschädlich macht.«

Cilly hatte sich bei seinen letzten Worten jählings in ihrer Astgabel aufgerichtet und den Körper so weit nach ihm umgedreht, daß sie ihm voll ins Gesicht schauen konnte. In ihren Augen war zu lesen: ›Jetzt weiß ich, warum du so steuerst, jetzt kenne ich Ausgang und Ziel deiner Fahrt.‹

Aber er war zu sehr im Banne seiner Gedanken, um hierauf achtzugeben.

»Ich wette, Sie haben noch eine Frage in petto«, sagte er. »Sie fürchten, die Leute der obersten Stufe würden mit denen der untersten leicht zu verwechseln sein. Aber nein doch! Jene handeln nach Instinkten, diese nach Erkenntnissen. Jene stehen unter, diese stehen über der zünftigen Moral. Nur in einem gleichen sie sich: die Gefahr der gesellschaftlichen Ächtung droht ihnen beiden. Und über dem Abgrunde hängen sie immer … Genauso wie wir in diesem Augenblick. Und darum glaube ich, ist's Zeit, daß wir den Rückzug antreten.« Damit streckte er, sich auf die Füße stellend, die Hand nach ihr aus, um ihr den Gang über den runden, glitschigen Stamm zu erleichtern.

Dann klommen sie auf dem Wege, den sie herabgestiegen waren, zur Dünenhöhe wieder hinauf.

»Mir ist's, als komme ich aus einem fremden Lande«, sagte Cilly, in die dunkle Tiefe zurückblickend. »Fremd für Körper und Geist. Ich werde viel daran zurückdenken. Und ein wenig Angst hab' ich. Für mich wie für Sie.«

»Warum das?«

»Für mich, weil ich dadurch vielleicht aus meiner Bahn geworfen werde. Für Sie – weil – weil –. Ich nehme an, daß Sie in der Bewertung Ihrer selbst mit keiner der zwei niederen Stufen zufrieden sind.«

»Da könnten Sie recht haben«, sagte er.

»Dann würde die Gefahr, von der Sie eben sprachen, auch Sie selber bedrohen.«

»Seien Sie unbesorgt«, erwiderte er lachend. »Ich bin ein gewitzter Bursche; mich fängt man nicht so leicht. Im übrigen wird meine Zeit schon kommen. Und dann folgt man mir auf meinen Wegen, oder man läßt mich allein. Mir soll's egal sein.«

Sie sah leuchtenden Auges zu ihm empor. ›So hab' ich's von dir erwartet‹, sagte der Blick.

»Aber wär's nicht besser«, fuhr er fort, »wir ließen bei Behandlung allgemeiner Fragen uns selber ganz aus dem Spiel?«

»Sie müssen Geduld mit mir haben«, erwiderte sie mit halbem Lachen. »Die Generalien sind uns Frauen noch immer zu Personalien geworden. Ich werde Ihnen lieber einen Blumenstrauß pflücken.«

Und sie bückte sich und sammelte, was rings um sie dem sandigen Boden entwuchs – Grasnelken und Widerstoß und das kriechende Milchkraut. Aber die Farben stimmten nicht, und immer wieder warf sie fort, was sie gefunden hatte.

Er seinerseits bewunderte derweilen die weiche Senkung ihrer Rückenlinie und den üppigen Bogen, in dem beim Neigen die Hüften sich wölbten.

›Welch herrliches Weib!‹ dachte er. ›Was für ein kostbarer Besitz würde sie sein, wenn jene nicht wäre!‹

Und der Gedanke stieg in ihm auf: ›Reiße sie an dich! Dann hast du, was du brauchst, und bist aller Versuchungen ledig.‹

Aber er wies ihn sogleich wieder von sich. Nicht umsonst wollte er an Herma gedacht haben Nacht für Nacht und gehofft und geplant haben und ein Spielball gewesen sein von tausend schwelgenden Phantasien.

Und dann – sie wartete ja auf ihn. Nicht umsonst hatte sie ein Gehege geschaffen für sich und für ihn, in das kein Dritter eindringen konnte, in dem sie beide waren wie auf die einsame Insel verschlagen, die jedes Verliebten Sehnsucht ist.

»Woran denken Sie?« weckte ihn Cillys Stimme. »Sie klettern doch sicherlich wieder auf Ihren drei Stufen herum?«

»Ich suche mir eine vierte«, erwiderte er, »auf der das alles nicht gilt, was ich da aufgebaut habe.«

»Und finden sie nicht?«

»Ich fürchte, es ist kein Platz dafür in meiner Gedankenfabrik.«

»Ich wüßte schon eine!«

»Und die wäre?«

»Gedanken los sein und dem Augenblick leben.«

Das liebe, liebe Geschöpf! Wie sie sich selbst verleugnete um seinetwillen! – – –

Sodann warf sie sich in den Sand und versuchte, das Bündel hängender Blumen zum Strauße zu ordnen. Aber sie hatte nichts, was die einzelnen Stengel zusammenhielt.

»Versprechen Sie mir, nicht eitel zu werden?« fragte sie.

Er versprach.

»Dann mach' ich es so!« Mit raschem Griff riß sie sich ein paar lichtsilberne Fäden aus dem lockeren Haarbusche und wand sie um die fügsamen Stiele.

Wieder wallte es heiß in ihm hoch.

Das war keine schielende Gefallsucht, kein nachhelfendes Sichpreisgeben war's, nur der schlichte Erguß einer übervollen, ihm zugehörigen Seele.

›Dies ist der Augenblick!‹ schrie es in ihm. ›Dies ist deines Lebens Wende.‹

Doch eine andere Stimme sprach dagegen: ›Sie bleibt dir ja! Sie geht dir ja nicht verloren.‹

Und so absichtslos war, was sie tat, daß sie noch nicht einmal die Augen aufschlug, um sich zu vergewissern, wie er es aufnehmen würde. Leise vor sich hin singend machte sie den Strauß fertig, putzte die Blüten zurecht und knickte die allzulangen Stengel, und als sie ihm dann das Ergebnis ihrer Kunst entgegenhielt, wollte sie höchstens nur belobt sein.

Auch auf dem Heimweg vermied sie es, auf theoretische Fragen zurückzukommen. Sie sprachen vom Kaiserbesuch, von Freundinnen und vom Tierzeug, und als er ihr in der Nähe seines Hauses den Strauß abnahm, um ihn, während sie wartete, rasch auf den Schreibtisch zu stellen, rief sie ihm fröhlich nach: »Und grüßen Sie mir die Krähe!« – – –

Zum Abendessen blieb er im Wendlandschen Hause.

Milly hatte sich aufgemacht und saß mit den andern zu Tische. Doch als man in der Spätdämmerung die Plätze in den Garten verpflanzt hatte, legte sie sich wieder.

Ihr silberbuschiges Haar sprühte Funken, genau wie das Cillys es tat, und in dem schelmisch verkniffenen Blick, mit dem sie die Schwester verfolgte – auch sie hatte ihn an sich – lag ein heimliches Leuchten. Das hieß: »Du Glückliche!«


 << zurück weiter >>