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Dreißigstes Kapitel

Davos, den 20. Januar 188..

Mein Freund!

Nun laß uns Abschied nehmen! Vielleicht ist es noch nicht so weit. Wer kann es wissen? Aber in den langen Fiebernächten quält mich immer mehr der Gedanke, daß meine Hand eines Tages die Feder nicht mehr halten könnte und daß ich von dannen gehen müßte, ohne Dir mein Lebewohl gesagt zu haben.

Oft suche ich den eigentlichen Grund unseres Zusammenhanges zu enträtseln, aber je weiter die Enge des Erdenlebens hinter mir zurückweicht, desto weniger erfasse ich ihn. Manchmal dämmert mir eine Ahnung von Vorherbestimmung, aber Schicksal, Naturnotwendigkeit, Verhängnis, Seelenzwang – das sind ja alles nur Worte, die nichts erklären.

Ich kann Dir nicht verhehlen, daß Du mir große Sorge machst. Man hat Dich auf einen Weg gedrängt, dessen Ende im Dunkeln mündet, und ich suche und suche nach einem Gefährten für Dich, der Dir auf Deiner Wanderung eine Stütze sein könnte, die Stütze, für die ich zu schwach war.

Ich kann Dir ferner nicht verhehlen, daß ich in früheren Zeiten, als meine Wünsche noch irdisch waren, auf eine Frau sehr eifersüchtig gewesen bin, deren Namen man mit dem Deinen oft zusammen genannt hat.

Heute sehe ich ein, daß ich unrecht hatte, und um nach meinen Kräften gutzumachen, was ich an Dir verschuldet habe, will ich es wagen, in Deine Zukunft einzugreifen.

Einer Sterbenden verweigert man nichts, was man zu gewähren imstande ist. Und darum bitte ich Dich: Gehe zu Cilly Wendland und sage ihr, ich schickte Dich. Gleichzeitig schreibe ich an sie und lege Dich ihr ans Herz. Ich weiß, daß sie Dir von altersher in aufrichtiger Neigung zugetan ist, und was sich auch inzwischen trennend zwischen Dich und sie gelegt haben mag, der Wunsch einer Toten wird Euch einen, wenn eine solche Einigung noch möglich ist.

Ich bin ihr nicht oft begegnet, aber wann wir uns auch sahen, haben wir uns immer schweigend umarmt, denn wir wußten oder fühlten, was uns gemeinsam war.

Mein lieber Freund, ich möchte noch lange, lange zu Dir sprechen. Das Herz ist mir voll für Dich. Und was mich selber angeht, so ist mir, als müßte ich mich vor Dir ausschütten, so daß nichts in mir bliebe, was nicht Dein Eigentum geworden ist. Aber schließlich muß ein jeder selber tragen, was ihm aufgebürdet wurde. Es fällt mir so schwer, so unsagbar schwer.

Lieber, ich fasse Deine weiße Frauenhand, die ich am Anfang so gar nicht mochte, und klammre mich daran fest. Und so wirst Du bei mir sein in meiner Todesnot. Leb wohl!

Herma.

 

Dieser Brief lag geschlossen in einem andern, der folgenden Wortlaut hatte:

 

Sehr geehrter Herr Professor!

Im Auftrage meiner lieben zu Gott gegangenen Patientin habe ich Ihnen mitzuteilen, wie ihr Ende war.

Sie starb, versehen mit den Tröstungen unserer heiligen Religion, im Glauben an die Gnade unseres Herrn und Heilands und in der ernsten Zuversicht, mit denen, die sie liebte, im Jenseits vereint zu sein. Sie hat mir noch an ihrem letzten Tage viele Grüße an Sie aufgetragen, die ich hiemit pflichtgemäß bestelle. Ihr Hinscheiden war nicht leicht. Aber sie ertrug ihr Leiden mit Fassung, den Blick auf das Kreuz geheftet, das ich ihr vorhielt und das ihren letzten Lebenshauch empfing.

Gott gebe ihr den ewigen Frieden. Und so auch uns.

Schwester Erminolda.

 

Diese Botschaft griff bis ins Mark seines Wesens. Niemals hätte er es für möglich gehalten, daß solche Mengen von Gefühlskraft noch in ihm lebten.

Er tobte halbe Nächte hindurch in seinem Zimmer umher, er sprach mit sich, er sprach mit ihr, er wollte bei ihr sein, um nachzuholen, was ungesagt geblieben war. Unendlich vieles hatte er an ihr verschuldet, unendlich vieles verlangte gutgemacht zu werden.

Hätte er ihren Aufenthalt ausgekundschaftet, so wären tausend Möglichkeiten dagewesen, ihr geistig nahe zu sein. Manche Angststunde hätte er ihr erleichtern, manches Grauen der Einsamkeit verjagen können.

So sehr steigerte er das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dieser armen Toten, daß er sich selber jetzt erst verlassen und verloren schien.

Helene kam und ging zu den gewohnten Stunden, doch sie galt ihm nur wenig in dieser Zeit. Wohl schalt er sich deswegen ungerecht und undankbar, aber er konnte sich nicht verhehlen, daß sie ihm manchmal beinahe lästig fiel.

Hätte er sie zur Vertrauten machen dürfen, so wäre manches leichter geworden. Nun sah er ihre verständnislosen und furchtsamen Blicke starr auf sich geheftet und blieb nur um eines besorgt: den Gleichmütigen zu spielen und den Weg des belehrenden Freundes nicht mehr zu verlassen.

Zudem galt es, sich Ellenbogenfreiheit zu wahren, um dem Vermächtnis gerecht zu werden, das als eine heilige Pflicht in sein Leben getreten war.

Acht Tage ließ er hingehen, dann schrieb er folgenden Brief:

 

Mein hochverehrtes Fräulein!

Ich erkühne mich, diese Zeilen an Sie zu richten, weil eine heimgegangene Freundin es so verlangt. Wie ich weiß, sind Sie darauf vorbereitet, daß ich an Ihre Tür pochen werde. Sollten Sie – ob gern oder ungern – bereit sein, mir die Unterredung zu gewähren, die der Wunsch der Verstorbenen war, so wollen Sie mir eine gütige Nachricht senden. Ich werde weit entfernt sein, sie als Erfüllung meiner Bitte zu betrachten.

In steter Verehrung
Dr. Sieburth.

 

Darauf erhielt er folgende Antwort:

 

Hochgeehrter Herr Professor!

Ihre heimgegangene Freundin, die, wie ich mit Stolz bekenne, auch die meine war, wenn ich auch niemals wagte, ihr meine Gefühle auszudrücken, hat mich durch einen Wunsch geehrt, dem Folge zu geben ich nicht zögern darf. Ich habe daher die Einwilligung meiner Eltern erbeten, Sie bei mir zu sehen, und werde Sie morgen um vier Uhr nachmittags erwarten.

In steter Wertschätzung
Cilly Wendland.

 

Das Hohngelächter, das auch in diesen Tagen seelischer Not sprungbereit in seiner Kehle saß, stieg sieghaft in die Höhe.

Erst allmählich machte er sich klar, daß es eher noch wärmer aus dem Walde zurückschallte, als er hineingerufen hatte. Jedes Wort konnte man mit der Lupe untersuchen, ohne daß ein Grund zum Vorwurf sich ertifteln ließ.

Um fünf Uhr begann sein Kolleg über »Die Verdienste der Philosophie um die religiöse Aufklärung der Menschheit«, das eine dauernde Quelle heimlichen Vergnügens für ihn war.

Und diese Unterredung konnte leicht zum gleichen Resultate führen.

In einer Stunde mußte sie beendet sein. Wahrscheinlich hatte die ganze Familie im Vorlesungsverzeichnis nachgestöbert, um ihr im voraus eine Grenze zu setzen.

Dann aber rief er sich die Zeiten zurück, da er mit Cilly als Freundin und Kameradin durch die Strandwälder gezogen war, da sie voll leidenschaftlicher Anteilnahme nach seinen Arbeiten geforscht und ihm auf flachen Händen ihr Herz entgegengetragen hatte.

Nein, Hohn war hier nicht am Platze, ein Zähneknirschen höchstens ob verscherzten Glückes.

Die Liebe, Geliebte, die es zurückzaubern wollte noch über das Grab hinaus! – – –

Am nächsten Nachmittag trat er in Zylinder und mit Besuchshandschuhen den Weg zu jenem Hause an, in dem er einst manches liebe Mal zu Gast gewesen war.

Die gute Stube – auch hier ›Salon‹ genannt, wie die empfangende Magd geflissentlich betonte – tat sich dunstend von frischer Heizung vor ihm auf … Gute Ölbilder, ein Knaus, ein Oswald Achenbach – einst auch von ihm bewundert – hingen an den Wänden. Papas große Praxis erlaubte diesen sonst unerhörten Aufwand.

Brokatene Sessel standen herum und goldene Stühlchen. Und vor den Fenstern ließen zwei frierende Gummibäume die ledernen Blätter hängen.

Fünf Minuten Wartezeit – dann erschien sie in der Seitentür.

Ihre Blondheit verschleierte die Dämmerung, aber ihr Auge blickte klar und gut wie je.

Daß ihr Willkommen befangen war, konnte nicht wundernehmen – befangen war ja beinahe auch er.

Ihre Hand streckte sich vor und zuckte nach flüchtigem Drucke gleich wieder zurück. Dann bot sie ihm einen der Sessel und setzte sich mit gebotener Steifheit auf das Ehrensofa.

»Ich bedaure tief«, begann sie, »daß es eine so traurige Veranlassung ist, die uns zusammenführt.«

Auch er bedauerte tief.

»Wissen Sie Näheres über den Tod unserer Freundin?«

Das »unserer« wurde zu scharf betont, um nicht gewollt zu wirken. Doch hätte sie »Ihrer« gesagt, so wär's vielleicht eine Verdächtigung gewesen.

Er berichtete, was in dem Briefe der pflegenden Klosterfrau gestanden hatte.

»Mich wurmt's«, fügte er hinzu, »daß man sie mit dem üblichen Abschiedszeremoniell behelligt hat. Sie hielt sich zwar für eine gute Katholikin, aber sie war fromm auf ihre eigene Art.«

»Sind wir nicht alle fromm auf unsere eigene Art?« erwiderte sie.

»Ich bin überzeugt: Sie auch.«

Diese Weitläufigkeit ärgerte ihn, und schon stach ihn der Hafer.

»Bei mir hat's lange gehapert«, sagte er lächelnd, »aber jetzt habe ich mir eine kleine heimliche Hausorgel angeschafft, auf der ich manchmal spiele und die mich sacht zur Frömmigkeit erzieht.«

»Wo haben sie die her?« fragte sie interessiert.

»Das Lehrerinnenseminar hat sie mir geliefert«, erwiderte er trocken.

»Ah«, machte sie verwundert, und weil sie nicht neugierig erscheinen wollte, ließ sie das Thema fallen.

»Wie geht es Ihren Arbeiten?« fragte sie statt dessen. »Sind die ›drei Stufen der Ethik‹ fertig geworden?«

»Eine weiche Stelle«, entgegnete er, »hat, wie es scheint, ein jeder in seinem Herzen. Auf die meine haben Sie soeben gütigst den Finger gelegt.«

»Das freut mich«, sagte sie mit einer gewissen Abwehr, wie es ihm schien.

»Und als die Minerva«, fuhr er fort, »die Sie in meinen Erinnerungen nun einmal darstellen, haben Sie auch sofort den Weg zur Weltweisheit eingeschlagen.«

Sie lächelte höflich, und er sprach weiter: »Jawohl, die ›drei Stufen der Ethik‹ sind fertig und außerdem noch einiges, das hoffentlich ebensowenig verfehlen wird, die erwünschte Empörung hervorzurufen.«

Ihr Auge wurde leer vor lauter Traurigkeit.

»Und Sie zögern noch immer mit der Herausgabe?« fragte sie.

»Geschäftstüchtigkeit ist der Wissenschaft bessere Hälfte«, erwiderte er. »Sie werden mich erst auf dem Markte finden, wenn ich meine Ware ohne Verlust an den Mann bringen kann.«

Aus der Traurigkeit wurde Befremden. Ein erkältetes und erkältendes Forschen lag in ihrem Blick.

In ihm zitterte eine gegenstandslose Wut.

»Inzwischen sind Sie immer gleich fleißig?« fragte sie.

»Das muß man schon«, erwiderte er, »wenn man das Steuer seines Lebens nicht aus den Händen lassen will. Nur bekommt man leicht Schwielen dabei, und als Mann der Wissenschaft nicht bloß auf den Händen.«

Sie zuckte ein wenig zusammen, und er freute sich an jedem Tropfen seines Giftes, mochte es auch nur ihn selber treffen.

Sie zögerte fortzufahren. Augenscheinlich suchte sie nach einem Gesprächsstoff, der ihm zu bitteren Bemerkungen weniger Anlaß gab.

»Sind Sie, seit wir in Rauschen zusammen waren, nie mehr am Strande gewesen?« fragte sie.

»Nein«, erwiderte er. »Die wenigsten Königsberger trifft man alsdann in der Stadt, und darum benutze ich sie als Erholung.«

Nun wußte sie keinen Ausweg mehr.

»Das war nicht freundlich, Herr Professor«, sagte sie offen. »Nicht gegen unsere gute Stadt und, ich fürchte, auch nicht gegen mich.«

»Da ich damit rechnen muß, Ihre Freundlichkeit, mein Fräulein, für alle Zeit zu entbehren, kommt es auf die meine nicht an.«

Sie schwieg. Vielleicht erwog sie, wie am besten die Unterhaltung abzubrechen. Dann kam ihr ein rettender Gedanke.

»Verzeihung, es wird dunkel«, sagte sie aufstehend. »Ich möchte nach der Lampe rufen.«

Er erhob sich gleichfalls, und sie ging zur Mitteltür, um an der Quaste zu ziehen, die das Ende eines von der Decke herabhängenden perlengestickten Bandes bildete.

Die Lampe mußte bereitgestanden haben, denn sie wurde sofort hereingebracht.

Die Silberblondheit ihres Wuschelhaares leuchtete ihm jetzt so vertraut entgegen wie nur je in alten Zeiten. Und er erinnerte sich jenes Augenblicks, da sie kurz entschlossen eine Flechte herausgerissen hatte, um damit für ihn einen Strauß zu binden.

›So geht es nicht weiter‹, dachte er in unwillkürlicher Dankbarkeit. ›Ich muß einen anderen Ton anschlagen.‹

Und als sie wieder auf ihren Plätzen saßen, begann er: »Ihre Rüge vorhin, mein gnädiges Fräulein, war durchaus gerecht. Aber wir haben uns zu lange nicht gesehen, als daß wir sogleich Fühlung miteinander gewinnen könnten. Und es hat sich eine so hohe Mauer zwischen uns aufgebaut, daß ich nicht weiß, ob es angebracht ist, eine Hand hinüberzustrecken.«

»Ich glaube, ich habe Ihnen die meine entgegengehalten«, erwiderte sie.

»Vergeben Sie mir, wenn ich so blind war, dies nicht zu bemerken.«

»Hätte ich Sie sonst zu mir gebeten?«

»Den Wunsch einer Toten befolgt man immer.«

»Aber nicht, um einem einstigen Freunde eine Falle zu legen!«

Kurze Pause. Dann stieß er langsam heraus: »Wie geht es Ihrer hochverehrten Frau Mutter?«

Sie fuhr betroffen zusammen. Wahrscheinlich hatte die Frage, ob er durch die Herrin des Hauses bewillkommnet werden sollte oder nicht, den Gegenstand vielfacher Erörterungen gebildet. Von dem Geheimrat selber ganz zu schweigen, der freilich um diese Zeit seine Sprechstunde hatte.

So lange die Eltern sich fernhielten, blieb eine Wiederannäherung ausgeschlossen.

»Meine Mutter bedauert unendlich, nicht erscheinen zu können«, sagte sie, ganz blaß geworden. »Sie fühlt sich wenig wohl seit einiger Zeit, und darum pflegen wir auch gar keine Geselligkeit.«

›Aha‹, dachte er, ›das bedeutet: eingeladen wirst du nicht wieder.‹

Und die Wut über sein Ausgestoßensein tobte stärker in ihm denn je.

Doch eines schien klar: Dies liebe Mädel hatte ihn immer noch gern.

Hoch und rein und seelisch ausgewogen, so saß sie vor ihm da.

Ein erlösendes Wort – und vielleicht war sie wieder sein eigen.

O nein, noch lange nicht! Denn um sie herum stand die ganze Koterie, die ihm feind war, und streckte ihm tausend Spieße entgegen. Aus ihr mußte sie herausgeholt werden, und ob sie den Mut haben würde, mit ihm zu gehen, war mehr als zweifelhaft.

Dies Drumherumreden hatte keinen Sinn – sie wußte genau so gut wie er, um was es sich handelte. Deshalb gab es nur zwei Wege: Entweder man sprach offen aus, was nach Hermas Wunsch mit dieser Zusammenkunft angebahnt werden sollte, oder man griff nach seinem Hut und machte, daß man hinauskam.

Er wählte den letzteren.

Aufstehend sagte er: »Ich bin glücklich, mein gnädiges Fräulein, Ihr Bild, neubelebt, mit mir fortnehmen zu können. Wenn ich meine begrifflichen Lumpen sortiere, wird mir das Gedenken an die gütige Teilnahme, die Sie mir bewahrt haben, stets eine Aufmunterung sein.«

Sie stand im Schatten, der Lampe abgekehrt. In ihren Zügen war nichts zu lesen, aber ihre Stimme bebte leise, als sie sagte: »Darf ich – meinem – Verlobten – – einen Gruß von Ihnen bestellen?«

Ein Ruck durchfuhr ihn nun doch.

›Eitler Narr du!‹ rief er sich zu.

»Verzeihung!« sagte er rasch gefaßt. »Ich lebe so abseits Ihrer Welt, daß ich hiervon keine Ahnung hatte. Sonst hätte ich nicht verfehlt – –.«

»Es ist auch noch nicht öffentlich«, warf sie ein.

»Darf ich fragen, wer – – –?«

»Es ist der Privatdozent Doktor Müller in Leipzig, ein engerer Kollege von Ihnen.«

»Ah, der über – – –«

Müller, Müller, Müller! Was hatte er doch – –? Ja, richtig!

»– der über die späteren Stoiker geschrieben hat. Ein Schüler Fortlages, wenn ich nicht irre.«

»Ganz richtig. Er sprach oft von ihm – noch unlängst anläßlich seines Todes, den er tief beklagte. Aber wissen Sie, wer uns recht eigentlich zusammengeführt hat?«

»Nun?«

»Sie! Jawohl, niemand als Sie. Die Art zu denken, die ich von Ihnen gelernt habe, mein Eifer für alles, was mit Philosophiegeschichte zusammenhängt – – und dann auf seiner Seite das Hochhalten – alles Erfahrungsgemäßen – das brachte uns näher und näher – und – –«

Sie stockte. Täuschte er sich? Das Halbdunkel ließ es nicht leicht erkennen – aber wahrhaftig! – zwei runde Lichtchen rollten ihr über die Wangen.

›Nimm sie hin‹, schrie es in ihm wie einst vor zwei Jahren. ›Sie gehört dir ja doch! Sie gehörte dir niemals mehr als in dieser Sekunde.‹

Aber da kam die Wut wieder über die Verfemung, der er verfallen war, der er schon längst verfallen sein wollte!

Mochten andere hochzeiten und Kinder taufen lassen und im Ehegesimpel dumpfig zugrunde gehen!

Frei sein! Frei bleiben! Entronnen aus der Kellerigkeit der bürgerlichen Welt, aufwärtssteigend in die dünne Frostluft nebelfreier Höhen.

»Sie machen mich stolz, mein gnädiges Fräulein!« sagte er. »Ich hoffe, daß es mir vergönnt sein wird, Ihrem Herrn Verlobten bei seinem nächsten Hiersein – denn er besucht Sie doch bisweilen? – die Hand zu drücken.«

»Er wird sich sehr freuen, wenn ich ihm dies mitteilen kann«, entgegnete sie, wieder in Gesellschaftlichkeit erstarrend.

Dann gaben sie sich die Hände.

Und ein leises Herzweh niederkämpfend schritt er ohne Wendung, ohne Rückblick zur Tür hinaus.

Eine halbe Stunde später erzählte er seinen Schülern lächelnd, was der gute Christian Wolff durch seine Herleitung des Daseins Gottes aus der Zufälligkeit der Welt für die religiöse Aufklärung in Deutschland geleistet hatte.

Und als er heimging, dachte er: ›Heut kommt Helene.‹


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