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Vierzehntes Kapitel

Die Krähe verwilderte mehr und mehr.

Die dargebotenen Fleischbrocken verschmähte sie, und wenn Sieburth sie aus dem Käfig herausholen wollte, biß sie ihn in den Finger.

Eines Nachts fand er des Rätsels Lösung: Erwachend hörte er von dem Fenster ein Fauchen und Flügelschlagen, und als er, um die Ursache zu erkunden, vor die Haustür trat, sah er an die Holzstäbe des Verschlages geklammert zwei greuliche Katzentiere, die das geängstigte Geschöpf mit den Krallen zu sich heranzuziehen drohten.

Mit ein paar aus der Küche geholten Kloben verjagte er sie. Aber wer bürgte dafür, daß sie in der nächsten Nacht nicht wieder auf dem Plane sein würden?

Da ein Beherbergen im Hause kaum möglich war, beschloß er, der Gefangenen die Freiheit wiederzugeben, mochte aus ihr werden, was da wollte.

Er nahm sie in die Hand, um sie nach dem nahen Walde zu tragen.

Doch kaum hatte er den Bezirk seines Hauses verlassen, als von einer Pappel, die vereinzelt auf dem sandigen Abhange stand, schreiend ein Krähenpaar sich erhob und geradeswegs auf ihn zuflog. Und kaum eine Minute später fand er sich dicht von einem dunklen Krähenschwarme umgeben, aus dem bald diese, bald jene wütend auf ihn niederstieß, offenbar ihm nach den Augen zielend.

Aber so weit wagten sie sich doch nicht an ihn heran, und sobald er den freien Arm erhob, stoben sie wieder zurück.

Erst als er das engende Unterholz erreicht hatte, verloren sie sich und flogen rings auf die höheren Kronen.

In der Hoffnung, daß sie die kranke Verwandte gnädig in ihre Obhut nehmen würden, setzte er das junge Tier auf einen dürren Fichtenast und kehrte beruhigt zu seinen Schreibereien zurück.

Doch als er nach einer Stunde zufällig aufhorchte, war es ihm, als dringe das kurz abgehackte Schreien, das er wohl kannte, leise vom Walde her an sein Ohr.

Da hielt es ihn nicht länger. Er ließ die Arbeit im Stich und machte sich auf, nach der Verlassenen zu sehen.

Richtig! Da saß sie noch an derselben Stelle, wo er sie ausgesetzt hatte. Und nirgends ringsum ließ eine Krähe sich blicken.

So nahm er sie also wieder in die Hand und trug sie, die nun willig seine Finger umklammerte, zu ihrer Behausung zurück, froh, sie dem Hungertode nicht preisgegeben zu haben.

In der nächsten Nacht legte er sich seinen Revolver zurecht, und als er im Halbschlafe das Fauchen wieder vernahm, sprang er auf und schoß durch das offen gebliebene Fenster gegen das Raubgesindel hin, das noch rascher als gestern verschwand.

In den folgenden Nächten hatte er Ruhe und hoffte für immer von ihm befreit zu sein.

Aber die Zeit des Kaiserbesuchs nahte heran und damit der ersehnte Ausflug, der auf mindestens zwei bis drei Tage zu berechnen war.

Der Gedanke, was derweilen aus seinem Schützling werden würde, machte ihm Sorge. Doch als er den beiden Schwestern davon sprach, war er alsbald von ihr befreit. Denn ohne Zögern erboten sie sich, der Alleingebliebenen sich anzunehmen und mehrmals täglich nach ihr zu sehen.

Jetzt gingen sie nur noch zu dreien auf die Wanderschaft, und nie mehr war von andern als landläufigen und gleichgültigen Dingen die Rede. Fast schien es, als vermiede es Cilly, mit ihm allein zu sein, und verlor sich die Schwester einmal, so hielt sie auf der Stelle ängstliche Umschau.

Es kam der Tag, der ihn von hinnen führte.

Der Geheimrat, der gerade das Dekanat inne hatte und in dieser Würde an den Festlichkeiten teilnehmen mußte, hatte ihm den Vorschlag gemacht, den Weg zur Stadt mit ihm zu teilen. Und so fuhren sie an einem feuchtwarmen Septembermorgen, von lachenden Wünschen und wehenden Tüchern geleitet, in die graudunstige Weite.

Da Sieburth aus seiner Abneigung vor dem höfischen Gepränge kein Hehl gemacht hatte, gab er als Motiv seines Dabeiseinwollens den Wunsch an, die allgemeine Stimmung kennenzulernen und Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, wie tief der monarchische Gedanke im Gemütsleben des Volkes verwurzelt sei. Auch daß er in Cranz Quartier zu nehmen gedächte, verschwieg er nicht.

Cilly hatte ihn dabei groß und fragend angesehen, als ahne sie wohl, daß allerhand Geheimnisvolles ihn aus seiner Ruhe heraustrieb.

Während des Weges sprach der Geheimrat lebhaft und vertraut von Arbeit und Verdienst und Haus – auch das Glück seines Familienlebens berührte er – aber nicht der Schatten einer Andeutung verirrte sich in jene Bereiche, in denen die Gedanken besorgter Väter zu verweilen pflegen, wenn Verehrer da sind, deren Erklärung auf sich warten läßt. Auch nach Sieburths Plänen zu fragen unterließ er. Freilich, hier gab es nichts zu erforschen, denn seine Zukunft lag klar zutage.

Als die beiden Männer gegen Mittag in Königsberg einfuhren, fühlten sie sich einander befreundeter denn je. – – –

Schon in der Gegend des Tores empfing sie ein vielfarbiges Menschengewimmel. Landleute – zu Fuß und in bekränzten Gefährten – waren zur Stadt gepilgert, um, wenn das Glück ihnen hold war, einen Blick auf die hohen Herrschaften zu erraffen. Ihre Wagen stauten sich in den Zufahrtsstraßen, denn weiter dem Mittelpunkte zu war der Verkehr für alles Fuhrwerk gesperrt.

So stiegen auch die beiden Professoren aus und suchten ein jeder seinen Weg.

»Man weiß, daß Sie in der Nähe sind«, sagte Wendland, ihm zum Abschied die Hand drückend. »Und sollte Ihre Anwesenheit bei einer der Feiern erwünscht sein, so depeschier' ich Ihnen.«

Dankbar stimmte Sieburth ihm zu.

Alleingeblieben ließ er sich willenlos von der dem Schlosse zutreibenden Menge mit fortziehen. Ein unaufhaltsamer Strom, gegen den anzukämpfen unmöglich schien und der immer reißender wurde, je mehr man dem Ziele sich näherte, wühlte sich strudelnd und brandend seine Bahn.

Plötzlich ging es nicht weiter. Eine Doppelkette von Schutzleuten und spalierbildenden Kriegervereinlern sperrte vorne den Weg.

Entrüstungsschreie gellten. Gewaltsame Vorstöße wurden gewagt und scheiterten an der Unbezwingbarkeit thronschützender Manneskraft.

Sodann beruhigte man sich und suchte dem Unglück heitere Seiten abzugewinnen. Scherzbolde, die die Mädchen und Frauen kitzelten und kniffen, wo ein Fettpolster sie dazu einlud, trieben ihre liebenswürdigen Spiele und ernteten Schimpf und Gelächter. – Ein Spuckkünstler, der genau den Punkt treffen konnte, den er vorhergesagt hatte, entsandte seine Kaskaden über die sich duckenden Häupter der Umstehenden nach jeder freigebliebenen Stelle, die ihm erreichbar schien, und fand seine Leistungen von einem Jubel belohnt, um den jede Primadonna ihn beneiden mochte.

Ringsum wehte aus Fenstern und von Dächern ein Fahnenwald. Fahnen in allen Größen, die einen schillernd von Neuheit, die andern verschmutzt und verblichen, Fahnen mit Brandlöchern und Talgflecken noch von der letzten Illumination her, Fahnen, in die einstiger Regen verwaschene Furchen gezogen hatte, Fahnen schwarz-weiß und schwarz-weiß-rot durcheinander gemischt. Sogar eine schwarz-rot-goldene wagte sich aufrührerisch dazwischen.

Jeder Hausbesitzer hatte seine Fassade nach Kräften herausgeputzt. Wo der Kalk abgefallen war, hatte er die Schmach mit einem Teppich oder einer Girlande zu verdecken gesucht, und ein dachloser Rohbau war so in Kränze verpackt, daß nur hie und da ein Ziegel rot und frech wie ein ertappter Verbrecher aus seinem grünbeschatteten Schlupfloch hervorsah.

Inzwischen wuchs der Lärm in dem wogenden Gedränge.

In den Gesichtern, von Schweiß und Dunst wie mit Öl überzogen, saß das schreiende Mundwerk als schwarzklaffendes Loch. Eine fahle Blondine mit käsiger Gesichtsfarbe hatte sich eine grelle, schwarz-weiß-rote Flagge als Schärpe um die Schulter gebunden und warf in gewissenhaften Abständen ein keifendes »Hurra!« krampfhaft und schluckend in die Luft. Eine schwindsüchtige Savoyardenleier gab die Töne einer schwer Leidenden von sich, und Kinderklappern und Maultrommeln knurrten und knarrten dazwischen.

Aber dann kam auch diesen Tobenden ein Augenblick der Stille und der Erhebung.

»Platz da!« dröhnten die Stimmen anrückender Schutzleute. Und hinter ihnen, von andern Schutzleuten gestützt und gehoben, stelzten vier Greise daher mit borstigen Zylindern auf den Köpfen und mit klappernden Orden behangen. Alle weit über achtzig alt, in ihrer Einsamkeit wie durch ein Wunder noch auf der Erde.

»Veteranen von anno Dreizehn«, ging ein ehrfürchtiges Murmeln durch die Menge. Viele Hüte lüfteten sich, und jeder respektlose Spaß wurde im Werden erstickt.

Auch Sieburth, der an seinem Ekel würgend dem Treiben zugeschaut hatte, fühlte einen Schauer durch seinen Körper gehen. Hier wandelten Historie und Heldentum in gespenstischer Leibhaftigkeit durch eine neue große und ihre Größe verschandelnde Zeit.

Oder war auch jene, von nahe besehen, so roh und so banal gewesen? Ist der Plebs verurteilt, Plebs zu bleiben, auch wenn der Zwang der allgemeinen Ordnung ihn über sich selbst emporzureißen scheint?

Dann hätte der Monarchismus, ordnend, zusammenfassend und nützliche Instinkte schaffend, doch seinen Sinn. Und auch dieser würdelose Trubel, in dem alle Niedrigkeiten losgelassen sich durcheinander wälzten, war um des Staatsgedankens willen da, der in höherer und reinerer Form sich nicht verkörpern ließ.

Noch ehe die Flut der allgemeinen Rührung verebbt war, wandte Sieburth sich zum Gehen. Er hatte genug gesehen und in sich aufgenommen, um für neue Urteilsbildung reif zu sein, und mehr wollte er nicht.

In weitem Bogen um sein Heim herum – denn er wünschte nicht ausgefragt zu werden – eilte er, dem Strom der Zuziehenden sich nun entgegenstemmend, dem Abfahrtsort des Stellwagens hin, der mehrere Male täglich die Verbindung zwischen der Stadt und dem besuchtesten der Badeorte aufrechterhielt.

Zeit hatte er genug. Denn Herma heute noch zu begegnen, konnte er nicht hoffen. Ihr einen brieflichen Gruß aufs Zimmer zu senden war alles, wozu er, ohne zudringlich zu wirken, allenfalls imstande war. Was dann kam, mußte ihr überlassen bleiben.

In dem Wagen, der ihn von hinnen führte, war er der einzige. Wunder auch! Wollten doch alle in Königsberg sein.

Vielleicht auch sie! Vielleicht hatte sie die Verabredung längst vergessen und zog es vor, sich – wie er selbst soeben – von einer müßig johlenden Menge verschlingen zu lassen.

Das im Kurhaus vorbestellte Zimmer wartete auf ihn. Platz gab es genug während der Kaisertage.

Jawohl, die Herrschaften Hildebrand seien gestern angekommen, sagte das Zimmermädchen, aber ob sie heute hiergeblieben oder zu den Festlichkeiten zurückgefahren seien, wisse sie nicht.

In der Abenddämmerung trieb Sieburth sich am Strande umher, immer hoffend, ihr irgendwo zu begegnen. Aber weder auf dem Steg noch in der Plantage war eine Spur von ihr zu entdecken.

Dann kehrte er auf sein Zimmer zurück und schrieb ihr einen Brief voller Vorsicht und Vorbehalte, so daß er ohne Gefahr von ihrem Gatten gelesen werden konnte. Aber er zauderte, ihn zustellen zu lassen. Gedachte sie seiner, dann war auch morgen noch Zeit.

Um die Abendbrotstunde trat er mißmutig den Weg zum Speisesaal an, wo an vereinzelten Tischen die Gruppen der Hiergebliebenen es sich bequem gemacht hatten.

Sein Blick ging suchend in die Runde. Hier war sie nicht – dort auch nicht. Da hörte er ein Männerlachen dicht hinter sich und fühlte den fast allzu kräftigen Schlag einer Männerhand auf seiner Schulter.

Hildebrand war's. Er selber – lohbraun und straffbackig und mit Augen, die den Himmel der Höhen noch immer widerspiegelten.

Und von einem der Tische, an denen er eben vorübergeschritten war, lächelte, umgeben von etlichen fremden Gesichtern, sie ihm entgegen.

Allein essen? Keine Rede davon. Bei ihnen Platz nehmen. Alles gute Freunde, wenn auch von gestern her. Und so war das Schicksal des Abends besiegelt.

Schweigend hatte sie die Hand zu ihm emporgestreckt. Der Platz an ihrer Seite war für ihn freigemacht. Die Freunde »von gestern her« entpuppten sich als harmlose Seelen, wie der Zufall der Reise sie einem entgegenweht. Nichts hemmte ihn, sich in seligem Wohlsein an Hermas Nähe zu freuen.

Eben seien sie aus der Stadt gekommen, erzählte Hildebrand, denn seine Frau habe sich die Gaudi auch einmal ansehen wollen. Aber nun sei sie befriedigt und denke nicht daran, sich ein zweites Mal hineinzubegeben. Mit ihm selber sei es was anderes. Er könne gar nicht satt werden, und dabei sein müsse er auch für den Fall, daß die Audienz bei dem erlauchten Rektor ihn miteinbegreifen sollte.

Und dann schilderte er die heutige Vorbeifahrt der allerhöchsten Herrschaften und zu welchen maßlosen Ekstasen die Begeisterung der Menge sich gesteigert habe.

»Ist es nicht herzergreifend«, fuhr er fort, »zu sehen, wie ein ganzes Volk in gläubiger Bewunderung zu seiner Herrscherfamilie emporschaut? Wie alle Parteiungen und inneren Zwiste hinweggespült werden von der einen großen Empfindung kindhafter Zugehörigkeit? Sind hier nicht Ewigkeitswerte am Werke, um ein Reich zu schmieden, das nichts in der Welt jemals zerbrechen kann?«

Und der glückliche Wahn, in dem er dahinlebte, er, der Historiker, dem unter nachfühlenden Händen schon manches Reich in Staub zerfallen war, strahlte wie eine Gloriole rings um sein Haupt.

Sieburth hütete sich wohl, seine eigenen Erfahrungen zum besten zu geben. Er berichtete nur, daß auch er heute unter der Menge geweilt habe, die Vorbeifahrt aber sei ihm leider entgangen.

»Da haben Sie Unwiederbringliches versäumt«, beklagte Hildebrand ihn.

»Die Vertreter dreier Herrschergenerationen stolz aneinandergereiht – ein Glück und ein Glanz, wie ihn selbst die Hohenstaufenzeit niemals erlebt hat.«

»Mir geht's wie Ihrer Frau Gemahlin hier«, entgegnete er. »Ich habe fürs erste genug und ziehe die Stille des Strandlebens vor.«

»Auch zum morgigen Kommers wollen Sie nicht kommen?« fragte Hildebrand einigermaßen befremdet.

»Ich trage keine Farben und trinke kein Bier«, erwiderte er. »Ich würde mich nicht sehr zugehörig dort fühlen.«

Hildebrand – konziliant, wie er war – schluckte jedes Wort des Tadels hinunter und versuchte sofort, der Versäumnis des Kollegen die Lichtseite abzugewinnen.

»Dann könnten Sie meiner Frau ja Gesellschaft leisten«, sagte er. »Ihr müßt irgend etwas unternehmen, damit euch die Zeit nicht zu lang wird.«

Sieburth war sich nicht klar, ob er sich dieses ahnungslosen Vertrauens schämen oder sich daran freuen solle. Herma jedoch schaute so unbefangen fragend zu ihm herüber, als ob ein lächelnder Zufall ihn hergeführt hätte.

»Schlagen Sie etwas vor«, sagte sie. »Ich bin ja fremd hier.«

Und da auch er nichts wußte, legte Hildebrand sich aufs neue ins Mittel.

»Ich habe soviel von der Kurischen Nehrung gehört, die man die ostpreußische Sahara nennt«, sagte er. »Setzt ihr euch auf den Dampfer, der morgens über Haff nach Memel fährt, so seid ihr in ein bis zwei Stunden mitten darin und könnt des Abends wieder zurück sein.«

Die Freunde »von gestern her«, wackere Kleinstadtjuristen mit ihren Frauen, die im Lande Weg und Steg kannten, stimmten ihm zu und priesen die Reize der Dünenlandschaft, mit der in der Welt nichts sich vergleichen könne.

Man fragte den Kellner, der um Ort und Stunde der Abfahrt Bescheid wußte, und bestimmte, daß Herma, sobald sie ihren Gatten zum Wagen gebracht hätte, jemand zu Sieburth hineinschicken würde, um von nun an sich dessen Führung anzuvertrauen.

Mit diesem Beschlusse trennte man sich.

Das Zimmer, das Sieburth im Logierhause bewohnte, schaute aufs Meer hinaus. Auf dem Fensterbrett sitzend starrte er in den dunkelglühenden Schlund, in dem Himmel und Wasser sich einten und von dem aus orangefarbene und blauviolette Strahlen zum Zenith hinspritzten, wo die Nacht, sprungbereit, der Zeit ihres Vordringens harrte.

Noch währte es eine Weile, bis sie am Horizont die Herrschaft gewann und die Rotglut in immer engere Bezirke zusammenschob. Erst mußte sie wieder vertrieben sein, und dann war das Glück da – das große, ganz große, das erste große Glück seines Lebens.

So dachte Sieburth, undankbar gegen all das Gute, das das Schicksal ihm jemals beschert hatte.

Zur Ruhe gehen wollte er nicht, nur sich freuen und warten. Aber schließlich übermannte der Schlaf ihn doch. Er warf sich lang über das Bett, hoffend, sich so halbwach zu erhalten, und kroch erst unter die Decke, als die Frühmorgenkälte ihn mit ihrem Schaudern eisig berieselte.

Und nun war die Stunde da.

›Sie wird absagen lassen, sie wird mitgefahren sein‹, dachte er in jähem Erschrecken, als der Knöchel des Hausknechts gegen die Tür schlug.

Nein doch, die Dame von Nr. 15 warte im Kurgarten auf ihn, und ob er sie abholen wolle.

So war nun die höchste Hoffnung erfüllt.

Da stand sie in weißwollenem Kleide, den Reisemantel über dem Arm, einen blauen Staubschleier um die Kappe gebunden.

»Endlich!« rief er ihr entgegen.

»Mein Mann läßt grüßen«, sagte sie, »und Sie möchten fein acht auf mich geben.«

Mit großen, treuherzigen Augen sah sie ihn an. Kein Wimperzucken, kein Lächeln des Einverständnisses verriet, daß Geheimes und längst Geplantes so zur Vollendung kam.

Und dann gingen sie nebeneinander her durch die verschlafenen Straßen, durch das Sumpfgebiet der Plantage, durch Erlen- und Kiefernwald bis zu der flußartig schmalen Bucht des Haffes, wo der Dampfer zur Abfahrt bereitstand.

Herma erzählte von den neuesten Halsbrechereien ihres Mannes, und wie es mit Harren und Herzklopfen und Nach-der-Uhr-Sehen immer das gleiche gewesen sei.

»Werden Sie es ertragen können, ihn wieder in Gefahr zu wissen und dabei so weit weg zu sein?« fragte er.

»Ich hoffe das Gegenteil!« erwiderte sie. »Ich werde so am besten darüber hinwegkommen. Je genauer man weiß, was für schlimme Dinge zu überwinden sind, desto mehr quält einen die Angst.«

»Könnten Sie nicht darauf dringen, daß er Ihnen zuliebe die Klettereien zum Teufel schickt?«

»Ich habe schon oft daran gedacht. Und wenn ich ihn sehr bäte, würde er es gewiß auch tun. Aber sehe ich ihn heimkommen, strahlend und mit dem Auge des Siegers, dann habe ich nicht mehr den Mut dazu. Er freut sich darauf das ganze Jahr – und nun soll ich's ihm nehmen? Da leide ich schon lieber ein bißchen.«

Der Dampfer stieß ab und glitt mit gebotener Vorsicht ins offene Haff hinaus, das im spätsommerlichen Morgendunst rötlich verschleiert vor ihnen lag.

Von den Ufern des Festlandes war nichts zu erblicken. Nur die Wälder der Nehrung – das kahle Dünengebiet erst später – verloren sich als tintenschwarzer, allmählich blässer werdender Streif in der vernebelten Ferne.

Der Wind, den die Bewegung des Schiffes entfachte, war von erquicklicher Frische. Aber langsam durchkältete er die Glieder. Die Nähe des gläsernen Kastens, unter dessen geöffnetem Deckel hervor die erwärmte Luft des Maschinenraumes hochstieg, erwies sich als Wohltat. Und da nur wenige Reisende das Deck bevölkerten, so konnten sie sich die Stelle wählen, von der aus in lauem Geborgensein das rollende Wandelbild der Nehrung sich überblicken ließ.

Der zu den Höhen steigende Wald hörte auf. Ohne Ausläufer, wie mit dem Messer abgeschnitten, nahm er ein Ende. Und an seine Stelle trat rotgelb und purpurn die Dünenwildnis, bald in zackiger Steilwand aus dem Wasser emporsteigend, bald in abgerundeten Hügeln wellenartig aneinandergereiht.

»Wissen Sie schon, daß diese Berge wandern?« fragte Sieburth, der in den Jahren seines Hierseins von dem gewaltigen Naturspiel mancherlei erfahren hatte.

Sie lächelte ungläubig.

»Mohammed würde hier vor keine Alternative gestellt sein. Er brauchte nur etliche Ausdauer, und der Berg käme gutwillig zu ihm.«

Nun wollte sie Näheres wissen. Und er erzählte ihr, wie der Sand, der drüben aus dem Meere steige, vom Winde fortgewirbelt werde, bis er sich zu diesen Dünen türme, die, gleichfalls vom Winde getrieben, unaufhaltsam weiterschritten, bis sie nach Jahren auf der Haffseite anlangten und gleich den grönländischen Gletschern sich im Wasser ertränkten.

»Der Wind allein kann doch solche Berge nicht bewegen!« rief sie voll Entsetzen.

»Aber er kann die Sandkörner vom Gipfel in die Tiefe jagen und alle folgenden Sandkörner hinterher, bis sich die Tiefe auffüllt und unmerklich ein neuer Gipfel entsteht, der dann dem gleichen Schicksal anheimfällt.«

»Aber wenn ihm etwas in den Weg gestellt ist, Bäume oder Häuser, das hält ihn doch auf?«

»Nichts hält ihn auf. Ganze Wälder, ganze Dörfer verschlingt er.«

»Um Gottes willen! Und die Bewohner?«

»Die bauen sich woanders an, wo sie für eine Reihe von Jahren Ruhe haben. Aber das eigentlich Unheimliche kommt erst: Wenn der Berg über den Wald oder die Ortschaft hingewandert ist, wozu Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert gehören, dann kommen ihre toten und zermorschten Überbleibsel auf der anderen Seite gespenstisch wieder zum Vorschein.«

»Das ist ja grauenvoll!« rief sie aus.

»Die Baumstämme noch aufrechtstehend wie einst, als sie lebten, aber ausgehöhlt bis in die Wurzel hinunter, so daß man sich hüten muß, hineinzufallen. Man würde in ihrem Innern unrettbar den Tod finden. Die Häuser hie und da mit eingedrückten Dächern, aber im übrigen unversehrt, so daß man sie wieder beziehen könnte. Doch haben die Bewohner sie beim Auszug meist abgebrochen, so daß man nur Trümmerstätten findet, mit Resten von Herdziegeln und Fundamenten, und was sonst noch an dem Unglücksorte zurückblieb. – Teils, weil es wertlos schien, teils, weil es nicht mehr gerettet werden konnte, denn die armen Vertriebenen trennen sich von der alten Heimat erst in der höchsten Not.«

Sie erschauderte.

»Glauben Sie, daß man da, wo wir hinfahren, dergleichen zu sehen bekäme?« fragte sie.

»Wir müssen Erkundigungen einziehen. Möglich wäre es schon.«

In ihren Augen dunkelte die Begierde nach dem Grausigen, in der Frauen allzeit Kinder zu bleiben pflegen. Und als sie mit erhobenen Händen flehte: »Bitte, bitte machen Sie's möglich, machen Sie's möglich!« da war sie auch im Anschauen fast noch ein Kind.

Doch als sie seines Blickes innewurde, der in unverhohlenem Entzücken auf ihr ruhte, wandte sie sich beschämt und ein wenig ängstlich von ihm ab und flüsterte kaum hörbar: »Nicht doch, nicht doch!«

Wohl eine Stunde währte es noch, da war die Haltestelle da. Zugleich hatte die Landschaft sich in ihr Gegenteil verwandelt.

Viehweiden, Kartoffelfelder und Gemüsegärten breiteten sich längs des Strandes aus, zu dunklen Waldungen emporsteigend, die nur an einer einzigen Stelle ein Dünenhaupt weißleuchtend überragte. Und in diese Oase hineingebettet rohrgedeckte Hütten mit buntbemalten Fensterläden, an den Giebelecken von hölzernen Pferdeköpfen, auf denen kunstvoll geschnitzte Blumen und Vögel sich schaukelten, phantastisch gekrönt.

Selbst ein paar Ziegeldächer leuchteten aus dem Grün, und eine spitzhaubige Kirche drängte sich mütterlich dazwischen.

»Wie glücklich muß sich's hier leben!« rief sie, von der Lieblichkeit des Bildes überrascht, aber dann wies sie voll Angst nach der leichenfarbenen Kuppe, die wie eine drohende Faust über dem allen lag.

»Wird die diesem Idyll das gleiche Schicksal bereiten?« rief sie und kroch schaudernd in sich hinein.

Die Landungsbrücke war voll fremdartiger Gestalten, und Worte einer nie gehörten Sprache wurden laut.

»Was reden die da?« fragte sie halb staunend, halb furchtsam.

»Litauisch oder kurisch«, erwiderte Sieburth. »Beides wird auf der Nehrung gesprochen, aber auch ich hör' es zum ersten Male.«

Und er bedeutete sie, haltzumachen und den Stimmen zu lauschen.

»Es soll Ähnlichkeit mit dem Griechischen haben«, sagte er, »aber ich merk' nichts davon. Freilich, keines unserer Ohren hat das richtige Griechisch jemals gehört.«

Dann schritten sie die Dorfstraße hinan, zu deren Seiten hinter sauberen Staketenzäunen Sonnenblumen und Stockrosen blühten und Obstbäume die Dächer umschatteten. Aber was von Früchten an ihnen hing, gemahnte an Essig und Lohe.

Ein Gasthaus kam mit einer von Pfeilern getragenen Veranda und Tischen und Bänken darin.

»Hier wollen wir einkehren!« rief Herma. »Und Hunger habe ich auch.«

Der Wirt, ein stattlicher Mann von altpreußischem Zuschnitt, mit militärisch geschnittenem Haar und gescheiteltem Blondbart, maß wohlwollend das städtische Paar und versprach, das Beste zu bringen, das da war.

Und bald darauf standen ein Teller mit flink gebratenen Speckschnitten, ein Topf mit Buttermilch und zwei Kornschnäpse vor den lächelnd zulangenden Gästen.

»Den Wirt müssen Sie ausfragen«, flüsterte Herma.

Und Sieburth fragte. Wie weit der Weg bis zur nächsten Wanderdüne. Und ob es einen Ort gebe hier in der Nähe, der nach seiner Verschüttung wieder zum Vorschein gekommen sei.

Nun war es die Sache des Wirtes, zu staunen.

Ja, wie man das nicht wissen könne. Das wisse doch jeder, der herkomme. Das alte Wentainen sei doch da. Die neue Ortschaft habe man vom Dampfboot aus wohl gesehen. Die liege ja dicht am Ufer – eine Viertelmeile von hier. Und eine Viertelmeile weiter finde man auch das alte Dorf, das vor einem Menschenalter aus dem Sande aufgetaucht sei. Aber viel zu sehen gebe es nicht, und der Weg dahin sei beschwerlich.

Ob man einen Führer haben könne, fragte Sieburth.

Aber gewiß. Jungens im Dorf seien genug da, die sich ein Fest machen würden, die Herrschaften zu begleiten. Nur dürfe man sie ja nicht verwöhnen. Zwei Silbergroschen als Trinkgeld seien fast schon zu viel.

Nicht lange währte es, da stand ein vierzehnjähriger Barfüßer mit hemdloser Brust und dunkelhäutigem Flachskopf, eine Wade an der andern scheuernd, erwartungsvoll vor ihnen, und der Wirt, der inzwischen im Innern hantiert hatte, hängte ihm einen Deckelkorb über den Arm, indem er ihm einschärfte, er solle sich nicht unterstehen, etwa wegzunaschen, was drin sei.

»Für wen ist denn alles?« fragte Herma.

»Na, fier Ihnen, Madamchen«, sagte der Wirt. »Sie missen doch ä Wegzehrung haben … Lachen Sie man nich … Sie werden schon hungrig werden in all dem Sand.«

Und so wanderten sie los. Zuerst durch Gärten und Wiesen, dann an Sümpfen und Teichen vorbei, an deren Rändern stelzbeinige Reiher standen, von Erlengebüsch den Blicken beinahe verborgen. Dann durch junge Kiefernpflanzungen, deren Bäumchen kaum höher waren als eine Hand und die Gehege von dürrem Reisig in quadratische Kästen einteilten, wahrscheinlich, um die zarten Pflanzenkinder vor dem frühen Begräbnis im Sande zu schützen.

Hie und da quälte sich eine Weide zerzaust und verkrüppelt in dem stäubenden Erdreich, und dann plötzlich war die Wüste da.

Die Wüste – ohne Bombast und Überschwang gesprochen.

Kein Halm, keine Wurzelfaser, kein verwehtes Blättchen warf sich als Zeichen der Vermittlung und Versöhnung dem zögernden Fuß in den Weg. Nichts als raschelnder, knirschender, bröckelnder Sand. Sand in Hügeln, Sand in Mulden, Sand in Klippen, Sand in Flächen, Sand in Trichtern, Sand in Knollen, Sand gekräuselt und gefältelt, wellenschlagend wie irgendein Wasser – höckerig, warzig, löcherig hier –, seidig eben, blank gebügelt und geschliffen dort; Sand als Fels und Sand als Atem, Sand als Tanzplatz, Sand als Sturzbad; – Sand, soweit nach vorn das Auge reichte, nur in der klaren Ferne durch einen schmalen Waldstrich abgegrenzt.

Rechts aber und links blaute tief unten ein Meer. Das zur rechten Hand in der Unendlichkeit verloren und in weißem Brandungsgischt ans Ufer schlagend, das zur Linken weich glänzend, wellenlos und jenseits seines Spiegels einem dunstigen Gestade Raum gewährend, das violett mit weißschraffierten Linien draus emporstieg.

Herma breitete die Arme aus. »Was ist das schön, wie ist das groß!« rief sie. »Das ist ja schöner als ein Alpengipfel!«

Sieburth spürte ein Gefühl der Befriedigung, als hätte er das alles für sie aufgebaut, und war doch ebenso landfremd wie sie und trotz seines mehrjährigen Wohnens in der Nähe noch niemals hier gewesen.

»Sie haben recht«, bestätigte er. »Auch ich kenne nichts Schöneres auf deutschem Boden.«

»Wenn der Bursche da nicht wäre«, sagte sie, »ich glaube, ich wüßte vor Glück nicht wohin.«

»Mich stört er weniger«, meinte er. »Aber sobald wir den Weg wissen, können wir ihn ja zurückschicken.«

»Ach ja, tun Sie das!« rief sie. »Zu verfehlen ist die Rückkehr nicht, und dann sind wir Herren über das alles.«

Weitausholend wies sie in die Runde, und er dachte: ›Das bist du schon jetzt! Und Herrin über mein Leben bist du auch!‹

Der Junge war derweilen stumpfsinnig pfeifend auf dem Kamm des Dünenzuges vor ihnen hergegangen, nur bisweilen guckte er sich um, um sich zu vergewissern, daß sie ihm folgten. Für Augenblicke tauchte er in einer Senkung unter und erschien wieder, den jenseitigen Abhang hinaufklimmend – der einzige Schattenstreif in der flimmernden Lichtwelt.

Und so schritten sie weiter in die ungeheure Öde hinein.

Hinter ihrem Rücken vom Dorfe her klang in leisen, lichten Schlägen die Mittagsglocke.

»Um sechs Uhr abends kommt der Dampfer zurück«, sagte sie. »Bis dahin haben wir Zeit. Und ich schenke Ihnen nicht eine Minute.«

»Das wär' auch das einzige«, erwiderte er lachend, »was ich von Ihnen nicht geschenkt nähme.«

Sie stutzte einen Augenblick lang, aber dann lachte sie auch.

»Ich finde, der Sand trägt wider Erwarten gut«, sagte sie. »Hie und da hat er eine Kruste, als wäre er gefroren.«

»Das sind wohl Überbleibsel vom letzten Regen her«, erwiderte er, »das wird die Sonne ebenso schmelzen wie Eis.«

»Mag sein«, sagte sie, »ich nehm's, wie's kommt, und frag' nicht, was werden wird.«

Mit schwingenden Schritten ging sie ihm voran, und er maß in Entzücken die dunkle Linie des schlanken Leibes. Doch als sie sich voll Übermut weiter von ihm entfernte, da verlor sich das Dunkel, und das Weiß ihres Kleides verschwand beinahe in dem Weiß der ansteigenden Düne. Wie aufgelöst war sie plötzlich in diesem Meere des Lichts.

›Wenn du dich wirklich einmal so auflösen solltest‹, dachte er, und ein Schauer geahnten Entbehrens überrieselte ihn.

Auf der nächsten Kuppe machte sie halt und wartete, bis er sie eingeholt hatte.

»Was mag das da unten sein?« fragte sie, auf ein paar grau bedachte Hütten weisend, die auf der Haffseite nahe dem Ufer im grünen Vorgelände sich schattenhaft gegen den Boden duckten.

»Das wird das neue Wentainen sein«, erwiderte er, »von dem der Wirt sprach. Und dann ist sicher auch das alte nicht weit.« Er rief den Jungen heran und befragte ihn.

Das neue Wentainen, ja, das sei's. Aber das alte, das könne man von hier aus nicht sehen, das liege noch weit.

»In welcher Richtung?«

Der Junge wies irgendwo hin die Dünenhügel entlang.

»Wir werden schon hinkommen!« rief Herma, voll Ungeduld, ihn los zu sein.

»Gut also«, sagte Sieburth. »Hier hast du dein Geld. Du kannst deinen Korb hinsetzen und nach Hause gehen.«

»Wollen's Se denn den hier lassen?« fragte der Junge, nachdem er sich bedankt hatte.

»Hast du was dagegen, mein Sohn?«

»Na, wenn Se 'n man finden!«

Um sicher zu gehen, steckte Sieburth seinen Stock als Wahrzeichen neben den Korb in den Sand.

Und nun waren sie allein.

Allein in der leuchtenden Öde, wie nur je zwei Menschenkinder auf Erden allein gewesen sein mochten.

Sie preßte mit einem Seufzer – ob der Erleichterung oder der Beklommenheit – die Hände gegen die Brust.

Ihm war, als müsse er vor ihr niedersinken und ihren Körper umklammern, aber das Herzpochen, das ihm den Atem wegzuschnüren begann, sprach ein Veto.

»Wie lange hab' ich auf diesen Augenblick gewartet!« stammelte er.

»Auch ich habe immer daran gedacht«, sagte sie und sah ihm groß in die Augen. »Ich weiß nicht, ob ich recht daran tat. Denn schließlich – was will ich von Ihnen? Alles, was ich auf Erden brauche, hab' ich. Ja, mehr noch als das. Und doch zieht mich etwas zu Ihnen – etwas Geheimnisvolles, ganz Unerklärbares … Ich habe nie einen Bruder gehabt. Vielleicht sind Sie der Bruder, der mir immer gefehlt hat.«

Er kniff die Lippen zusammen. Das war es nun gerade nicht, was er erstrebte.

Aber was erstrebte er? Sie zur Geliebten zu nehmen? Dann hatte er nur nötig, sie an sich zu reißen. Ihren Schrei erstickte der Sand. Und sie würde auch nicht schreien, nicht einmal sträuben würde sie sich; als ein wehrlos sich windendes und im Sichwinden noch lächelndes Opfer würde sie ihm anheimfallen.

Doch davor gerade schauderte ihn. Nein, Tempelschändung trieb er nicht. Dafür war er sich selber immer zu wertvoll gewesen.

»Sie sagen gar nichts«, hörte er im Weitergehen ihre Stimme neben sich.

»Haben Sie Vertrauen zu mir?« fragte er.

»Wenn ich das nicht hätte«, fragte sie zurück, »wäre ich mit Ihnen allein in die Wüste gegangen?«

»Und wenn ich Ihnen jetzt sagte, daß ich Sie liebe, würden Sie fürchten, in Gefahr zu sein?«

»Nein«, erwiderte sie, »dafür kenne ich Sie zu gut.«

»Ein Weib kennt einen Mann niemals, ein Mann kennt sich selber nicht.«

»Glauben Sie, ein Weib kennte sich?«

»Herma!«

»Nicht so! Nicht so! Ich habe niemanden, zu dem ich mich flüchten könnte, wenn nicht Sie. Denn mein Mann muß in seiner Traumwelt ungestört bleiben … Nehmen Sie mir diese Zuflucht nicht, ich bitte Sie so sehr!«

Er faßte leise nach ihrer Hand und legte sie in seinen Arm, wo sie willig liegen blieb, doch ohne eine Stütze zu suchen.

Schweigend gingen sie dahin.

Ein Wind hatte sich aufgemacht und trieb den Sand in raschelnden Tromben vor ihnen her.

Wenn sie einen Abhang hinunterschritten, löste das Erdreich sich zu ihren Füßen; es war, als glitten sie ins Bodenlose.

»Wohin führen Sie mich?« fragte sie, ihren Arm befreiend.

»Ins Leere«, entgegnete er.

»Das ist nicht richtig«, sagte sie. »Wir hatten ja ein Ziel. Wenn's auch bloß eine Totenstätte war.«

»Warum fragten Sie dann?«

»Weil ich Sie hieran erinnern wollte. Sie suchten nicht, Sie sahen nicht in die Weite, Sie gingen bloß so vor sich hin.«

»Finden Sie nicht, daß ich allerhand zu bedenken habe?«

»Warum das? Den Augenblick erleben, was braucht es sonst?«

»Und wenn er nie mehr wiederkehrt? Wenn er mich bis an die Schwelle des Tores trägt – und das Tor schlägt zu – und ich stehe wartend mein Leben lang?«

»Das soll nicht sein«, sagte sie leise. »Und wenn es wäre, dann müssen Sie wissen, daß ich an der andern Seite des Tores stehe und warte wie Sie.«

»Herma!«

»Nicht so! Nicht so!«

Da war er wieder, der zaghaft flehende Laut. Er glich dem ängstlichen Zwitschern der in ein Menschenhaus verirrten Schwalbe – und befahl seinem Munde zu schweigen, seinem Arm zu erstarren. Nur ein Verlangen ließ er zurück, wie wenn er in Wahrheit von jener Schwalbe gekommen wäre, das Verlangen: Gib ihr die Freiheit!

Wieder gingen sie schweigend ihres Weges.

Aber jetzt spähte er wirklich hinaus – dem Ziele entgegen, das inzwischen sichtbar geworden schien. Auf der Haffseite, in einer nahen Senke gelegen, erhob ein Gemäuer sich, das in Menschenhöhe hier, kaum aus dem Sande ragend dort, rostrot und lehmfarben auf der lichtgelben Bodenfläche stand. Im weiteren Umkreis zerstreut schwärzliche Flecken und unbestimmbare Gegenstände gleich Steinen und Scherben.

Er wies darauf nieder.

Sie folgte seinem Finger und schrak zusammen.

»O Gott«, sagte sie, »so wenig läßt der Tod zurück!«

»Mir scheint es viel«, antwortete er, »sonst läßt er gar nichts.«

Und dann glitten sie im lockeren Sand hernieder, bis die Mauerreste dicht vor ihnen standen. Deren Geviert war zu groß und im Innern zu wenig geteilt, als daß sie zu einer menschlichen Wohnung gedient haben konnten.

Offenbar war es die Ortskirche gewesen, und das sagte er ihr.

»Wo mag der Altar gestanden haben?« fragte sie.

Er fand keine Anzeichen in dem alles ausgleichenden Schutte.

Aber sie hatte die Stelle entdeckt, an der einst die Haupttür den Frommen Eingang gewährt hatte. Durch sie trat sie in das Geviert, maß sorgsam ihre Schritte ab und kniete dann nieder, als stünde der Altar leibhaftig vor ihr. So lieblich, so kindhaft, so ungewollt war das alles, daß auch er eine Andacht auf sich zuströmen fühlte, war sie auch anders geartet als die, die sie zum Beten zwang.

Dann suchten sie weiter und erkannten, daß jeder der schwärzlichen Flecken eine Herdstätte gewesen war. Angekohlte Ziegel steckten vermauert im Boden, und Aschenreste bargen sich in den Ritzen. Sonst war kein Zeichen menschlicher Wohnungen mehr zu erblicken, ein paar zerbrochene Tiegel und Flaschen ausgenommen, die scharfkantig aus dem Sande guckten.

Sie war ihm vorangeeilt und stöberte und scharrte.

Da plötzlich schrie sie laut auf, kam zu ihm zurückgestürzt und umklammerte mit allen Zeichen des Entsetzens seinen Arm.

»Was gibt's?« fragte er mit beruhigendem Lächeln.

Sie zog ihn schweigend mit sich fort. Er fühlte sie zittern über den ganzen Leib hin.

»Da! Da!«

Mit scheuen, verängstigten Händen wies sie vor sich hin.

Freilich, sehr wohlgefällig war der Anblick nicht, der sich hier darbot:

Die weiter wandernde Düne hatte sich mit keiner Oberflächenarbeit begnügt, sondern tiefer ins Erdreich hineingeschürft, und wenn auch keine Keller mit Schätzen der Lebenden, so doch die Särge der Toten gefunden, die für eine gewissenhafte Ewigkeit sich darin bargen. Nun lagen sie umgestürzt und ihrer Deckel entledigt in mitleidloser Entblößung. Knochenarme und Beckenwirbel streckten sich aus dem Sande empor. Brustkörbe wölbten sich kraftvoll, und Schädel lagen verstreut, wie zum Kegelspielen geschaffen.

Er nahm einen von ihnen in die Hand, wog ihn und dachte: ›Jetzt könnt' ich Hamlet spielen.‹

Da gewahrte er, wie sie die Hände vors Gesicht schlug und bitterlich zu schluchzen begann.

Er streichelte ihre Arme, ihre Schultern, er redete mit leiser Stimme besänftigend auf sie ein, und als das alles nichts half, umfing er sie vorsichtig und führte sie zu dem Kirchengemäuer zurück, wo er sie zum Niedersitzen bewog, so daß ihr Rücken sich gegen den Wandrest lehnte.

›Wenn ich sie nun sich selbst überlasse, wird sie sich schon beruhigen‹, dachte er.

Aber kein Zeichen meldete sich, daß sie die Herrschaft über sich wiedergewann.

Die Knie hochgezogen, den Kopf in die Arme gestützt, hockte sie da und weinte sich die Seele aus dem Leib.

Da setzte er sich neben sie und versuchte weiter tröstend die Hände von ihrem Antlitz zu lösen.

Aber sie gab nicht nach. Bis plötzlich mitten im Weinen ihr Körper sich ihm entgegenneigte und ihr Kopf Halt suchend an seine Brust sank.

›Nun ist sie mein‹, dachte er, sie leise umschlingend, ›und soll es bleiben.‹

Allerhand Schwüre und Gelübde schwirrten ihm durch das Hirn, und über alles hinaus wuchs die Seligkeit, die höchsten Freuden des Lebens mit einem geliebten Weibe zu teilen.

Dann allmählich kam ihr die Sprache wieder.

»Verlassen Sie mich nicht, verlassen Sie mich nicht!« flüsterte sie noch immer schluchzend zu ihm empor.

»Wie sollt' ich Sie verlassen, Kind«, sagte er, »da ich doch nur einen Gedanken habe: Bei Ihnen zu sein!«

»Und doch – und doch – wird das nie geschehen.«

»Warum nicht?«

»Es wird etwas kommen, das Sie für immer von mir trennt.«

»Was sollte das wohl sein?«

»Ich weiß nicht. Aber ich fühl's. Ganz sicher fühl' ich's. Denn was wir jetzt tun, das ist wider die Natur … Ich liebe meinen Mann … Ich habe nie einen geliebt außer ihm … Ich glaub' auch nicht, daß ich je einen andern lieben könnte … Und wie das mit Ihnen gekommen ist, das weiß ich nicht – das versteh' ich nicht … Es geht eine Kraft von Ihnen aus … Man muß fühlen wie Sie … Man muß wollen wie Sie … Haben Sie mich wenigstens lieb?«

Statt der Antwort faßte er ihren Kopf mit der freien Rechten, drehte ihn zu sich empor und küßte sie auf den Mund.

Sie wehrte ihm nicht, aber sie wimmerte leise dabei.

»Was ist?« fragte er zärtlich.

»Es tut weh! Du darfst es nicht noch einmal machen. Es tut so weh!«

Doch dann, als er ratlos von ihr ablassen wollte, schlang sie beide Arme um seinen Nacken, nestelte ihren Kopf an seinem Halse fest und weinte von neuem.

So lag sie lange. Er sprach leise Liebesworte zu ihr nieder, und allgemach beruhigte er sie. Als sie sich aufzurichten wagte und aus verweinten Augen zu ihm emporsah, lag sogar ein Lächeln auf ihrem Angesicht.

»Würde es noch immer weh tun?« fragte er.

»Versuch's!« flüsterte sie.

Nun hing sie hingegeben an seinem Munde, aber plötzlich schauderte sie, wandte sich weg und wischte sich den Sand von den Lippen.

Da schaute er um sich und gewahrte, daß sie mitten in einer Sandwolke steckten, die vielleicht schon lange über sie hergeweht war, ohne daß sie ihrer geachtet hatten. Hermas Kleiderfalten, ihr Schoß, ihre Schuhe waren mit Sand gefüllt. – Sand war in seine Ärmel, seinen Kragen gekrochen, Sand saß in breiten Streifen an ihrem Halssaum und rieselte aus dem Haar in blitzenden Strähnen ihr über die Wangen.

Dann, als er den Blick zur Höhe wandte, sah er weißleuchtende Schwaden über den Dünenkamm stäuben, hier in Wirbeln sich aufwärts schraubend, dort gleich dürstenden Zungen den Boden leckend.

Soweit das Auge reichte, war die Luft mit einem pulverigen Nebel erfüllt, in dem die Sonnenstrahlen wie in einem Goldregen flimmernd sich brachen.

»Wir müssen zurück«, sagte er, ein Erschrecken verbergend.

Auch sie schaute nun aufwärts, aber sie empfand nur Freude über das nie Erlebte.

»Die Berge rauchen«, sagte sie, »als wollten sie Feuer speien.«

Und wenn die Sonne sich in die flüchtigen Tromben bohrte, glichen sie in Wahrheit wandernden Flammen.

Er ergriff Herma bei der Hand und führte sie aus dem Bezirk des Todes den nächsten Abhang hinan – dem Sandsturm entgegen, der nun mit seltsamen Tönen keuchend, knirschend, kratzend, schrillend über sie herstrich.

Von dem vorhin zurückgelegten Wege war nichts zu erblicken. Ihre Spur hatte sich längst wieder gefüllt. Haff und Meer standen gleich milchfarbenen Kulissen am Himmel. Und wo die Sonne sich befinden mußte, spielten konzentrische Feuerkreise regenbogenfarbig bis zu ungeheuren Durchmessern hin.

»Halten Sie ein Tuch vor Mund und Nase«, sagte er, »und treten Sie in meine Fußstapfen. In einer halben Stunde sind wir geborgen.«

Aber es beliebte ihr nicht, hinter ihm herzutrotten.

Mit einer Art Jubelschrei – obwohl es hier nichts zu jubeln gab – stürmte sie ihm voran über Höhen und Senkungen, wie der Wellenschlag des Dünenzugs es wollte.

Ihr Kleid flatterte wie eine weiße Fahne, und der halbgelöste Schleier wie ein blauer Wimpel darüber.

Anfangs hatte sie sich gebückt, den Rock über den Knien festzuhalten, aber dann ließ sie ihn wehen, wie er wollte, und gab die zartgerundeten Linien der Beine ruhig den Blicken Sieburths frei.

Gerne hätte er sie laufen lassen nach Belieben. Da gewahrte er, daß sie dem steilen Absturz der Haffseite mehr als einmal bedenklich nahe kam.

Bei ruhiger Luft wäre es gefahrlos gewesen. Aber jetzt, da der Boden, auf dem sie gingen und standen, in flutender Bewegung war, konnte sie bei jedem unbedachten Schritte hinabgerissen und verschüttet werden – und der, der sie retten wollte, mit ihr.

Drum eilte er ihr nach, packte sie bei der Schulter und wies ihr Abstand und Richtung. Sie nickte gehorsam und rannte weiter.

Ein Glück war's, daß die Möglichkeit, sich zu verirren, ausgeschlossen blieb. Das Haff rechts, das Meer links – so mußten sie endlich zum Ziele kommen.

Bisweilen nahm ein Kessel sie auf, aus dem für etliche Zeit ein Fernblick möglich war, aber der Kurs blieb ja der gleiche und konnte von jeder Höhe nachgeprüft werden, mochte von Pfad oder Straße auch nichts zu erblicken sein.

Da sah er sie plötzlich anhalten und auf eine Stange hinzeigen, auf der eine Tafel angebracht war.

Ein Wegweiser ohne Zweifel.

Das schien auch sie anzunehmen, und weil des Weges Richtigkeit zum Überflusse dadurch bestätigt war, sah sie gar nicht erst hin und wollte weiter.

Ein dumpfes Gefühl riet ihm, ihr durch die hohlen Hände ein »Halt!« zuzurufen.

Sie hörte ihn und gehorchte auch diesmal.

Und als er sie erreicht hatte und zu der Tafel hinaufsah, las er durch die Sandschauer hindurch, die dauernd darüber hinstoben, die halberloschenen Worte:

»Achtung! Treibsand!«

Der Schrecken rieselte kalt an seinem Rückgrat herunter. Er hatte zuviel von den Gefahren gehört und gelesen, die um dieses Wort herumgewitterten, um nicht zu wissen, daß sie, hätte sie den Weg weiter verfolgt, dem Tod entgegengegangen wäre, daß er sie vielleicht hätte versinken sehen müssen, ohne ihr Rettung bringen zu können.

Er grub seine Finger so tief in das Fleisch ihrer Schulter, daß sie hell aufschrie.

»Was hab' ich getan?« rief sie wehklagend zu ihm hinauf.

»Bleiben Sie bei mir. Ich erklär' es Ihnen später.«

Und nun schritten sie schweigend nebeneinander durch den schüttenden, berstenden, rinnenden Sand, in dem jeder mitgetriebene Brocken, der eines Kornes Größe überstieg, eine Furche zog, die der nächste Augenblick schon wieder verwischte, um einer folgenden Platz zu machen, genauso vergänglich wie jene.

Furche neben Furche, in ungezählten, gleichgerichteten Reihen, zeichnete der Wind, während sie eilend darüber hinschritten.

Als sie das erste Grün vor sich liegen sahen, vor dessen schützender Kraft der wandernde Sand heute noch halt gemacht hatte, fiel ihm ein, daß mitsamt dem Korbe, dessen Inhalt sie nötig brauchen konnten, denn sie zitterten beide vor Hunger, auch sein alter Spazierstock, der schon auf der Weltreise bei ihm gewesen war, im Sande vergraben lag.

An ein Suchen wäre nicht zu denken gewesen, und sie hätten ihn wohl auch niemals gefunden.

Er nahm's als ein Opfer, den Göttern dargebracht, die sie gnädig heimgeführt hatten, und beklagte sich nicht.

Herma schleppte sich jämmerlich an seinem Arme dahin. Denn ihre Schuhe, die sich inzwischen bis oben mit Sand gefüllt hatten, hingen zentnerschwer an ihrem Leibe.

So mußte sie dulden, daß er ihr die Bänder löste und die gefühllos gewordenen Füße mit seinen reibenden Händen ins Leben zurückrief.

Nun erst wurde sie wieder flügge und kostete in Glückseligkeit die überstandenen Abenteuer noch einmal durch. Auch warum er sie von dem vermeintlichen Wegweiser so jäh zurückgerissen hatte, wollte sie wissen.

Da erzählte er ihr, was auf der Tafel gestanden und welche Gefahr ihr gedroht hatte.

Sie sah ihn mit großen, erschrockenen Kinderaugen an und scherzte nicht mehr.

Der Wirt empfing sie mit gutgemeintem Vorwurf, weil sie den Führer zurückgeschickt hatten.

»Solche Böen jiebt es hier oft«, sagte er, »und wer die Weje nicht kännt, kann leicht zu Schaden kommen.« Der Verlust des Korbes sei weiter nicht schlimm, und nach dem Stocke wolle er suchen lassen, aber der liege schon tief begraben, bis er nach Jahren oder Jahrzehnten wieder einmal auftauchen würde.

»Vielleicht sind wir dann alt und weit auseinander«, sagte Herma. »Dann schreiben Sie mir eine Karte, und wir freuen uns beide.«

Mit keinem Worte, keiner Miene gedachte sie dessen, was an der versandeten Kirchenmauer zwischen ihnen geschehen war. Aber ihr anschmiegsames Vertrauen verhehlte nicht, wie sehr sie sich ihm zugehörig fühlte.

In schwelgendem Glücksgefühl saß er ihr gegenüber, aß, trank und hatte wohl acht, daß sie sich an der hanebüchenen Kost den Magen nicht verdarb.

Wie ein verwöhntes, gutherziges Kind gab sie sich schwärmend und tändelnd dem Genuß der Stunde hin. Kein ahnender Blick auf das, was kommen würde, kommen mußte, trübte den harmlosen Frohmut, in dem sie erstrahlte.

Erst als sie bei sinkender Dämmerung im Schutze des Radkastens dicht nebeneinander saßen und in der lauen Wärme, die der Maschinenraum zu ihnen emporsandte, den fröstelnden Frühherbstabend vergaßen, kam von selber zurück, was ein wohltätiger Instinkt solange verdrängt hatte.

»Es ist alles wie geträumt«, sagte sie, mit geschlossenen Lidern in sich hineinredend, dann aber die Augen groß und bedeutsam zu ihm aufschlagend: »Und geträumt soll es auch bleiben.«

»Wir können ebensowenig ausstreichen, was gewesen ist«, sagte er, »wie wir uns zurückschrauben können in die Beziehungen, die noch heute früh zwischen uns walteten. Wenn ich jetzt Ihre Hand in die meinen nehme und ›Du‹ zu Ihnen sage – Ihnen ist es zuerst über die Lippen gekommen – so gilt uns das als das Gegebene, das Selbstverständliche beinahe – heute früh wäre es ein Mangel an Ehrerbietung, man könnte sagen: ein Verbrechen gewesen … Wollen wir nun tun, als wäre alles wie vordem, so würden wir einander Komödie vorspielen, und auf die Dauer ertrüge das keiner von uns.«

»Aber was soll werden?« stammelte sie.

»Sagt Ihnen das kein Vorgefühl, kein innerer Befehl? Haben Sie nichts in sich von Drang nach Erfüllung, von Schatzhüten und von Weihnachtlichkeit?«

»Wenn Sie so reden, habe ich nichts als Angst«, flüsterte sie.

»Dann ist alles nur eine Laune gewesen.«

»Nein! Nein! Nein! Um Gottes willen nein!«

»Eine Wallung höchstens. Mehr nicht. Ich aber habe mein Leben ganz auf Sie eingestellt … Seit dem Tage schon, an dem ich Sie zum ersten Male sah … Und jetzt, da Sie mein sind, wollen Sie mir verloren sein? Herma, das endet nicht gut!«

Sie griff mit beiden Händen nach seiner Rechten und umklammerte sie.

»Quälen Sie mich nicht. Lassen Sie mir Zeit. Ein paar Tage nur. Ich bitte Sie so sehr!«

»Und ich will hier niemand mehr begegnen. Ich reise morgen in der Frühe ab.«

»Und kommen nicht wieder?«

»Ich darf nicht.«

»Sobald mein Mann zurückreist, vielleicht schon morgen, siedle ich zu Follenius über. Follenius sagte mir, daß er Sie eingeladen hat. Wenn Sie das annähmen –«

Sie stockte. Sein Lächeln ließ sie mehr noch als sein Verneinen erkennen, daß hieran nicht zu denken war.

»Haben Sie Geduld«, bat sie weiter. »Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde es einrichten, daß wir uns wiedersehen … In allernächster Zeit schon … Und daß wir für uns sind. Ganz für uns. Dann werde ich wissen, was ich darf – was ich muß – was ich –. Bitte, bitte, solange haben Sie Geduld!«

Er küßte zustimmend ihre Hand, und dann redeten sie nicht mehr davon.

Als sie durch den finsteren Wald dem Kurhause zuschritten, hing sie, von den Anstrengungen des Tages übermüdet, leidend und in äußerster Erschöpfung an seinem Arm.

Er stützte sie, er trug sie fast, aber ihren Mund berührte er nicht mehr.

Vor ihrer Türe sagte sie ihm ein kurzes, scheues Lebewohl und war verschwunden.

Als er sein Zimmer betrat, fand er auf dem Tisch ein Telegramm: »Rate Ihnen, beim heutigen Kommers nicht zu fehlen. Man weiß, daß Sie in der Nähe sind, und erwartet Ihre Anwesenheit. Wendland.«

Hohnlachend zerriß er den Zettel und dachte nicht mehr daran.


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