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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Das Sommersemester neigte sich wieder einmal seinem Ende zu.

Nicht nur die Bänke in den Hörsälen leerten sich, auch im Versammlungszimmer begannen sich Lücken zu zeigen. Der eine hatte früher geschlossen, der andere ließ ausfallen, und mancher nützte das akademische Viertel, um in den Anlagen auf Königsgarten sich die Lungen voll Luft zu pumpen.

Eines Vormittags, als der Raum schon fast leer war, kam Pfeifferling mit zwei ausgestreckten Händen auf Sieburth losgesteuert. Der alte Trompeter hatte zwar niemals zu denen gehört, die ihn geflissentlich mieden, aber ein solcher Anfall von Inbrunst war auch bei ihm seit undenkbaren Zeiten nicht dagewesen.

»Lieber, Teurer! Warum sieht man sich so selten?«

›Man sieht sich täglich‹, dachte Sieburth.

»Warum vernachlässigen Sie mich? Warum vernachlässigen Sie mein Haus? … Dort gibt es eine liebe alte Dame, die fragt unablässig nach Ihnen … Und Kollegen kommen zum Besuch, die sich darüber beklagen, daß Sie – ja, Sie, Sie – Sie, groß geschrieben, ja – in den Korridoren fast grußlos an ihnen vorübergehen. Einsiedler dürfen Sie mir nicht werden. Nein, das dürfen Sie nicht.«

›Etwas spät kommt diese Mahnung‹, dachte Sieburth.

»Darum nehme ich Sie kurzerhand beim Schlafittchen, und erklär' Ihnen folgendes: das Pfeifferlingsche Haus verlangt nach Ihnen … Das Pfeifferlingsche Haus schreit nach Ihnen … Das Pfeifferlingsche Haus rüstet sich, seinem entlaufenen Schützling Ehrenpforten zu bauen.«

Sieburth verneigte sich: »Verfügen Sie über mich, Herr Geheimrat.«

»Also hören Sie, Lieber! Morgen abend sehe ich einige Freunde bei mir, die auch die Ihren sind – oder gerne sein möchten – denn bisher hat sich ihnen noch keine Gelegenheit geboten, Ihnen näherzutreten … Einer gehört sogar zur Fakultät, und was das bedeutet, sich in der Fakultät Freunde zu machen, wirkliche Freunde in dieser Heuchlergesellschaft« – er senkte kaum einmal die Stimme –, »das werden Sie ja abzuschätzen verstehen.«

Sieburth sah sich nach den Dagebliebenen um, aber die standen gruppenweise im Gespräche und schienen nichts gehört zu haben.

Pfeifferling – die Vorsicht gewahrend – lachte sein schmetterndes Lachen.

»Höhö! Was die mir schon tun werden! Denen sage ich noch ganz andere Dinge ins Gesicht! Hö! Also morgen um acht zum Abendessen – ganz ärmlich – gerade nur zum Hungerstillen! Aber, was das Geistige belangt – oho!« Damit trollte er sich nach seinem Kolleg hin, und Sieburth überlegte, daß er seit anderthalb Jahren an keinem Familientische mehr gesessen hatte.

Als er am nächsten Abend den Weg zum Pfeifferlingschen Hause antrat, spürte er eine Art von Lampenfieber, das ihm neu und beschämend erschien. Denn noch hatte er sich jedem Verkehr gewachsen gezeigt. Aber obwohl er sich auslachte, ließ die Bangigkeit sich nicht zum Schweigen bringen.

Als er die Räume betrat, aus denen er bei seinem einstigen Besuche mit Grausen geflohen war, schlug ein lockender, heimeliger Hauch ihm entgegen, in dem seine Brust sich weitete und der ihn mit widersinnigem Wohlgefühl erfüllte.

Und da war eine in Rundlichkeit welkende Frauenhand, die sich ihm herzhaft entgegenstreckte, und dahinter ein von Spitzengekräusel überdachtes Matronengesicht, aus dem zwei gütig blasse Augen ihm froh entgegenlächelten.

›Wie lange habe ich das nicht mehr erlebt!‹ dachte er, sich auf die warm umschließende Hand herniederneigend, und fühlte sich bereit, alles Widrige, das sich noch ereignen könnte, ruhevoll in den Kauf zu nehmen.

Dieses Widrige ließ nicht lange auf sich warten.

Als der Hausherr ihm sein Willkommen fest auf die Schulter getrommelt hatte, sah er, im Halbdunkel aneinandergereiht, drei würdige Männer, die er persönlich kaum kannte, die er aber stets als seine natürlichen Widersacher betrachtet hatte, drei Kämpen des Rückschritts, gehaßt und, soweit es anging, gemieden von allen, denen die Freiheit des wissenschaftlichen Denkens als höchstes Kleinod am Herzen lag.

Zwei davon Theologen. Professor Bindewald, der Alttestamentler, und neben ihm der Homiletiker, Professor Lohmann, beide als religiöse Eiferer bekannt, beide bei frommen Zusammenkünften die Adepten und Führer spielend.

Jener: eine dürre, hochgeschossene Stange mit bogigem Langhals, dieser: ein breitbrüstiger und kröpfiger Widder mit einer grauen Zwei-Bogen-Tolle über niedriger Stirn.

Der dritte, ein stilles, müdes Männchen, hinter dessen gehöhlten Brillengläsern zwei halb erloschene Augen dauernd um Vergebung zu bitten schienen, war Lehrer der Landwirtschaft und als bissiger und verbohrter Junker bekannt, trug er doch einen Namen, der sonst nur in Garderegimentern zu Hause war.

Alle drei als Sendboten des Gottseibeiuns zu werten, hätten sie nicht zum lieben Gott selber im engsten Kindschaftsverhältnis gestanden.

Und noch etwas Viertes tauchte aus dem Dunkel des Hintergrundes hervor, wo es sich bescheiden verkrochen hatte: jung, blaß und grämlich, aber mit leuchtenden Johannesaugen in hohlbackigem Dreiecksgesicht. Aus dem Privatdozentenhäuflein einer, Lizentiat D. Dr. Erl, der über die Korintherbriefe las und dergleichen.

›Himmel, wo bin ich hingeraten?‹ dachte Sieburth, als vier Hände – spinnenfingrig und knochenhart die eine, die zweite herrisch fest und schon Besitz ergreifend, die dritte schlaff und teilnahmslos, die vierte voll scheuer Innigkeit – sich ihm entgegenstreckten.

›Wie werde ich über den Abend kommen?‹ dachte er weiter, seiner Nachgiebigkeit fluchend, die ihn in eine Lage gebracht hatte, wo jedes Wort herüber und hinüber zum Backenstreiche werden konnte.

Vorläufig allerdings ging alles nach Wunsch.

Die Hausfrau hatte ihm, obwohl er der Zweitjüngste und schon im Hause bekannt war, einen der Plätze an ihrer Seite beschieden und sprach mit wohlmeinender Fürsorge mütterlich auf ihn ein.

Zwei lange Jahre seien verflossen, seit er hier gesessen habe. Aber nun müsse er bald wiederkommen – und immer wieder. Auch alte Leute wüßten gut zu tun – ja, gerade sie – denn bei ihnen gebe es keine Eifersucht und keinen Wechsel der Laune.

Er dankte mit herzlichen Worten, und in ihm schwoll etwas hoch, das beinahe Rührung sein konnte.

Das Lampenlicht ruhte schneeweiß auf dem verlängerten Oval des Tisches … Der fleischgefüllte Eierkuchen duftete lieblich, und selbst der dünne Weißwein, der – säuerlich schon von Ansehen – in die Gläser kluckerte, sprach von Behagen und Wohlfahrt.

Auf der andern Seite der Hausfrau war zwischen Pfeifferling und den Trägern des heiligen Wissens ein Streit entbrannt über den jetzt überwundenen Rationalismus in der Predigtkunst und dessen Rückwirkungen auf den rechten Glauben. Das Gespenst der »Vernunftreligion« stand riesengroß hinter den Sprechenden und drohte den Abend zu verschlingen.

Der professorale Baron, der nebenbei auch ein Rittergut besaß, gab seinen Senf dazu. »Die Landwirte jener Zeiten«, sagte er mit seiner kranken und knarrenden Stimme, »fuhren nicht schlecht dabei. Denn wenn man sie von der Kanzel herab mit den besten Methoden der Stallfütterung unterhielt, so gingen sie nicht nur erhoben, sondern auch bereichert nach Hause und dankten Gott, dem Herrn, daß selbst hierin für sie gesorgt war.«

Die frommen Männer runzelten die Stirnen. Sie argwöhnten einen freigeistigen Seitensprung.

»Wir hingegen wollen Gott danken«, sagte der stoßbereite Homiletiker, »daß er uns Schleiermacher geschickt hat, der endlich auf die Gefühlsquellen aller Religion hinwies und diesem Unfug ein Ende machte.«

Da nun Sieburth, wie allen bekannt war, über die Philosophie dieses Kirchenlehrers ein kleines Buch geschrieben hatte, so ergaben sich einige Komplimente von selber, die er als Zeichen betulichen Wohlwollens mit bescheidenem Danke entgegennahm.

Wie gesagt: alles ging nach Wunsch.

Dann kam als nächster Gesprächsstoff das Perikopensystem an die Reihe und die Frage des Für und Wider, den sonntäglichen Andachten je nach Jahreszeit und kirchlicher Anordnung einen bestimmten Schriftabschnitt zum Thema zu geben. Spener hatte sich »bekanntlich« dagegen erklärt, Lisco und Strauß aber waren dafür gewesen.

Da gab Sieburth sich eine kleine, doch höchst empfindliche Blöße.

»Ich habe gar nicht gewußt«, sagte er, »daß Strauß sich mit solchen Fragen befaßt hat.«

Ein peinliches Betretensein malte sich in den jäh auffahrenden Gesichtern.

»Sie meinen wohl den Irrlehrer Strauß?« fragte der lange Alttestamentler und schnüffelte in gebändigtem Zorne. »Nein, mein werter junger Kollege, von solchen Leuten reden wir nicht. Gerhard Friedrich hieß dieser löbliche Mann und hat mit jenem David Friedrich so wenig gemein wie sein Namensvetter aus der Vogelwelt mit einem Aasgeier zu tun hat.«

›Da hab' ich's‹, dachte Sieburth. ›Warum hielt ich nicht meine Schnauze?‹

Jetzt aber mischte sich Pfeifferling darein, um seiner Hausherrnwürde gemäß alles zum Besten zu wenden.

»Wie können Sie Herren Theologen von uns Laien ein Eindringen in Ihre Literaturwelt verlangen?« sagte er. »Belehren Sie uns doch, aber entrüsten Sie sich nicht.«

»Ich war unbescheiden genug, belehren zu wollen«, sagte der Alttestamentler mit einer hieratischen Bewegung seiner Spinnenfinger, und nun sah er aus, als säße er in einem gotischen Glasgemälde.

»Und dann wäre ich dafür«, fuhr Pfeifferling fort, »daß ihr heiligen Männer euern Bekennerdurst etwas zügelt. Es gibt ja noch andere Themen, die uns allen zugänglich sind.«

»Die Gottesgelahrtheit muß ebenso wie die Philosophie allen zugänglich sein«, entgegnete der Lehrer des Predigens und stieß kopfneigend die Stirne vor, so daß die Doppeltolle vollends zwei Bockshörnern glich. »Denn beide miteinander bilden die Basis aller menschlichen Bildung. Meinen Sie nicht auch, Kollege Sieburth?«

›Wie sich nun aus der Affäre ziehen?‹ dachte er. Und er erwiderte: »Was mein Fach betrifft, so kann ich die Frage leider nicht ohne weiteres bejahen. Jede Popularisierung eines philosophischen Begriffs schafft eine neue Katachrese« – ›Katachrese ist gut‹, dachte er. – »An den Biertischen nennt man das dann ›Weltanschauung‹ … Meine Herren, mißtrauen Sie jeder Weltanschauung! In Weltanschauung machen heißt halbgebildet sein.«

Nun hatte er die Lacher auf seiner Seite. Schon das bloße Wort schien des Freisinns dringend verdächtig, und die Gerhard-Friedrich-Strauß-Scharte war ausgewetzt.

Dabei fing er aus den Augen des blassen Privatdozenten, der aus Bescheidenheit den Mund bisher nicht aufgetan hatte, einen Blick so beklommenen Staunens auf, daß er seines Erfolges erst jetzt vollkommen sicher wurde.

Und nun glitt das Gespräch in die Bahnen des akademischen Lebens hinüber.

»Kuriose Schose«, sagte der Hausherr, »wie wir hier als Leidensgefährten beisammen sitzen, ausgeschlossen von dem großen Freundschaftsbetrieb, bloß, weil wir uns zum Prinzip der Staatserhaltung bekennen … Sollte man nicht, wie Ihr hebräischer Volksgott, Kollege Bindewald, mit Pech und Schwefel dareinfahren, wenn man bedenkt, daß unser so wenige sind?«

›Mich rechnen sie schon dazu‹, dachte Sieburth.

Und der Alttestamentler erwiderte: »Der Liberalismus ist eben eine Macht, teurer Kollege, die wir zumeist unterschätzt haben, wie wir die Macht des Teufels ja auch zu unterschätzen pflegen. Wenn man bedenkt, was alles diese Leute in dem satten Bewußtsein ihrer Majorität an moralischer Verdammung zu produzieren imstande sind, dann empfindet man ihren Parteinamen erst ganz als blutigen Hohn.«

›Da hat er recht‹, dachte Sieburth, fühlend, wie der immer bereit liegende Ingrimm heiß in ihm aufquoll.

Nun mischte sich auch die Hausfrau ins Gespräch.

»Mir will scheinen, meine Herren«, sagte sie, »daß hieran weniger Ihre Kollegen als vielmehr deren Frauen die Schuld tragen … Was zum Beispiel von dem Kaffeekränzchen der ›drei Schicksalsschwestern‹ – haben Sie ihnen nicht diesen Namen gegeben, lieber Dr. Sieburth? Man sagt es wenigstens! – was davon zu uns herüber dringt, ist aller Ehren wert … Da wird hochgelobt oder vernichtet, in den Mittelpunkt gestellt oder geboykottet – ganz nach Belieben.«

»Und dazu kommt jüdische Unduldsamkeit«, sagte finster der Predigtmann, als hätte er für sich selber Duldung und Dulden zum Lebensgesetz gemacht.

»Demokratischen Dünkel nicht zu vergessen!« fügte der hochgeborene Landwirtschaftslehrer hinzu.

»Kurzum«, faßte der Hausherr zusammen, die weiße Bartserviette wickelnd, »plötzlich huckt man auf einer einsamen Insel und weiß nicht, warum.«

War es Zufall, war es Einbildung, daß die Blicke aller zu Sieburth hinüberzugleiten schienen? Jedenfalls vermied er es, die Augen aufzuschlagen, um keinem dieser Blicke begegnen zu müssen. Und der Ingrimm in seiner Seele wurde zu dumpfer, klagender Wut.

Dann horchte er mit einem Herzklopfen hoch auf, denn gleichsam aus dem Leeren war plötzlich der Name »Hildebrand« hell an sein Ohr gedrungen.

»Ja, ja, jetzt scheint es auch Hildebrand nicht mehr unter ihnen aushalten zu können«, sagte die Hausfrau. »Die Gerüchte wollen nicht schweigen, daß er einer Rückberufung nach dem Reiche wahrscheinlich schon im kommenden Herbst Folge leisten wird.«

Zum ersten Male wagte der junge Privatdozent das Wort zu ergreifen.

»Man erzählt sich«, sagte er, heiser vor Erregung über die eigene Kühnheit, »daß die Frau Professor das kalte Klima nicht recht vertragen kann.«

»Das will mich eigentlich wundernehmen«, krähte der Baron, »denn wie ich höre, hat man ihr ja drüben höllisch eingeheizt.«

Was war das?

Und was bedeutet das starre, erschrockene Lächeln, mit dem ein jeder auf seinen Teller sah?

Um Gottes willen! Was war das?

Aber Mund halten! Nichts fragen! Jedes Wort der Erkundigung, jeder Wunsch nach Erklärung wäre unklug gewesen, hätte Hinweise geliefert auf das, was ewig geheim bleiben mußte.

»Ich glaube, Herr Doktor Erl ist recht berichtet«, sagte die Geheimrätin, ohne dem hämischen Worte des Barons irgendwelche Beachtung zu schenken. »Die arme Frau wird schmäler und durchsichtiger von einem Mal zum andern, daß ich sie treffe … Hildebrand hat, scheint mir, einfach die Pflicht, sie in eine zuträglichere Luft zu versetzen … Waren Sie nicht einmal befreundet mit dem Hause, lieber Doktor Sieburth, oder sind Sie's vielleicht noch? Dann könnten Sie uns am besten Auskunft geben.«

Das war Erlösung! Damit hatte der Herzenstakt dieser Frau den Alb des Schweigens von ihm genommen.

»Ich war einmal auf dem besten Wege zur Freundschaft«, erwiderte er, »da hat mir der Bannstrahl, von dem Sie vorhin sprachen, gnädige Frau, und der auch mich gelegentlich traf, ein Weiterverkehren im Hause unmöglich gemacht.«

Überrascht sahen die andern ihn an.

Daß er so offenherzig, so überlegen fast, über die Lage sprach, in der er sich befand, das konnte nur zu seinen Gunsten gedeutet werden.

Pfeifferling hob das Glas nach ihm hin. »Daß Sie mit denen dort über Kreuz sind«, rief er, »das kann Ihnen nur zur Ehre gereichen. Umso wohler werden Sie sich hoffentlich in unserer Mitte fühlen.«

Und weithin über den Tisch ausholend stieß er mit ihm an.

Alle andern – die Hausfrau als erste – folgten seinem Beispiel, und in aller Augen, selbst in denen des bissigen Barons, lag untrügliche Freundschaft und der Wunsch, ihm Gutes zu tun.

›Wer ihr auch sein mögt, was ihr auch wollen mögt‹, dachte er, vor Wut noch immer zitternd, ›ihr sollt mich zum Freunde haben.‹

Nun, was sie von ihm wollten, das kam nach Schluß des Abendessens alsbald zum Vorschein.

Die Hausfrau hatte sich zurückgezogen – nicht ohne ihn nochmals an baldiges Wiederkommen zu gemahnen – und die Herren saßen rauchend im Dämmer des Arbeitszimmers um die grünschirmige Lampe herum, da begann der Hausherr – scheinbar ganz absichtslos – von dem konservativen Aufruf zu sprechen, der für die herbstlichen Reichstagswahlen bestimmt war und noch immer der endgültigen Redaktion entbehrte.

»Sie, Pfeifferling, werden als Lehrer der Stilkunst sich seiner wohl annehmen müssen«, sagte der lange Alttestamentler, »sonst wird er niemals mehr fertig.«

»Stil ist ein niederträchtiger Luxus«, rief lachend der Hausherr. »Seit Goethe hat sowieso keiner mehr Deutsch zu schreiben verstanden. Aber auf die Gesinnung kommt's an, und die ist hundsgemein … Alles bangbüchsig und leisetreterisch, als hätten wir ein böses Gewissen.«

»Sie sind im Irrtum, lieber Freund«, nahm der andere der Theologen das Wort, »Kraftmeierei, wo sie hingehört. Hier kann sie nur schaden. Den Wortlaut, wie er vorliegt, kann jeder unterschreiben, der nicht gerade zu den Roten gehört … Ich kenne zum Beispiel unseres Kollegen Sieburth politische Ansicht nicht, aber ich möchte wetten, wenn ich ihm das Blatt in die Hand gebe« – er zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Brusttasche –, »wollen Sie mal hineinsehen, Kollege?«

»Gern«, erwiderte Sieburth mit gebotener Höflichkeit und bückte sich in den Lichtkegel der Lampe hinunter, ein Lächeln verbeißend, denn schon war ihm klar, wohin der Weg ging.

Ein Blick auf das Papier genügte, um erkennen zu lassen, daß die Phrasen des üblichen Wahlfanggeredes naivtuend sich aneinanderreihten.

Der Staat solle sich um Handel und Wandel kümmern, das Handwerk schützen, die Ausbeutung der Armen und Schwachen verhindern, dem kranken und verunglückten Arbeiter ein wohlmeinender Helfer sein und dergleichen. Aber, damit er das könne, müsse man den guten Absichten der Regierung eine kräftige Stütze bieten und vor allem dafür sorgen, daß die Rechte der Krone von den bösen Gegnern nicht tückisch geschmälert würden.

Der Name »Bismarck«, auf dessen viel erörterte Pläne alles hinauslief, war sorgsam vermieden.

»Nun, Herr Kollege«, fragte ungeduldig der Predigtmann, »würden Sie das nicht unbedenklich mit unterzeichnen können?«

»Menschenskinder, das wär' 'ne Idee!« rief Pfeifferling, den plötzlich Erleuchteten spielend. »Wir viere – der kleine Erl tut noch nicht mit – gelten als schwarze Reaktionäre … Wir schrecken die Spießer bloß ab, aber Sieburth ist ein unbeschriebenes Blatt. Höchstens hat man ihn zu denen von drüben gerechnet … Wenn der seinen Namen mit 'runterhaut, dann haben wir einen unverdächtigen Zeugen. Dann kriegen wir Terrain bis ins jenseitige Lager hinein … Was meinen Sie, Sieburth, wie die sich schief ärgern würden? Wär' doch 'ne Sache, was?«

Die beiden Theologieprofessoren wechselten einen mißbilligenden Blick. Die Methode des Sprechers erschien ihnen offenbar zu draufgängerisch, um nicht eine Ablehnung nach sich ziehen zu müssen.

›Ihr Bauernfänger!‹ dachte Sieburth, dem nichts entging. ›Ihr dummschlauen Anreißer ihr!‹

Und doch hatte eines von Pfeifferlings Worten ihn mitten ins Herz getroffen. Wahrlich, schief ärgern würden sie sich, würden an ihrem Hintern den Fußtritt verspüren, der ihnen hiemit zuteil wurde!

Wie hatte er vorhin zu sich gesagt? ›Wer ihr auch sein mögt, was ihr auch wollen mögt – –‹

Aber nichts unbedacht tun! Sich nicht allzu bereitwillig zeigen! Das setzte den Wert seines Opfers und setzte ihn selber herab!

»Ich danke Ihnen, meine Herren«, sagte er, »für das Zeichen des Vertrauens, das Sie mir geben. Dürfte ich meinen Sympathien folgen, so würde ich nicht einen Augenblick zögern, mich zu Ihnen zu bekennen. Aber Sie werden einsehen: es handelt sich um eine Stellungnahme, die für mein ganzes Leben ausschlaggebend werden muß … Auch würden Sie mich nur wenig schätzen können, wenn ich Ihnen ohne sorgfältige Prüfung jeder Zeile, jedes Wortes mein ›Ja‹ ins Gesicht würfe.«

Dem Ungestüm der Herren war dadurch eine Grenze gesetzt, ohne daß sein Zögern mißbilligt werden konnte, und als man sich gegen Mitternacht trennte, durfte er sich in Ruhe eingestehen, daß er für heute noch unversehrt aus der Attacke hervorgegangen war.

Während er, allein geblieben, die mondhelle Straße entlang schritt, fuhr Hermas Name ihm durch den Kopf, und was man bei Tische von ihr geredet hatte.

Ein Angstgefühl übermannte ihn jählings, und noch ehe er es verwunden hatte, kamen eilends Schritte hinter ihm hergetappt, durch die er offenbar eingeholt werden sollte.

Dann wurde neben ihm ein Hut gelüftet, und die zagende Stimme des blassen Privatdozenten, die den Abend über nur wenige Male zu hören gewesen, fragte mit linkischem Hüsteln, ob ihm, dem Jungen, Unbedeutenden, ein kurzes Gespräch gestattet sein würde. »Denn sehen Sie, Herr Professor, Sie gelten als selbständig und unbeirrbar und kühl. Ich dagegen bin noch etwas ängstlich und quäle mich ewig mit mir herum.«

›Von einem Male zum andern ist sie schmäler und durchsichtiger geworden‹, dachte Sieburth.

»Und da würde es sicherlich von Segen für mich sein, wenn ich von Ihnen für mein künftiges Denken eine gewisse Bekräftigung erhielte.«

Gewiß hat er die Pflicht, sie von hier fortzunehmen‹, dachte er weiter, ›wenn sie mir damit auch ganz verloren geht.‹

»Ich weiß, daß ich Vertrauen zu Ihnen haben darf. Und aus diesem Vertrauen heraus will ich Ihnen gestehen: Ich stimme durchaus nicht mit allen Glaubenssätzen überein, die von der Kirche aufgestellt sind. Ja, ich glaube sogar, mich Ihnen darin zu nähern. Wie, zum Beispiel, denken Sie über die Erbsünde?«

Sieburth fuhr aus seinem Sinnen empor. »Was ist das für 'ne Vokabel?« fragte er.

»Spotten Sie nicht«, bat etwas weinerlich der junge Gottesgelehrte. »Auch für Sie kann diese Frage nicht ohne Bedeutung sein … Von Luther sehe ich ab, der sich ja im Gegensatz zu den Arminianern ganz auf den Standpunkt Augustins gestellt hat … ›peccatum originis‹, Sie wissen … Aber Kant geht Sie doch sehr an … Obwohl er sich jenen beiden nicht vollkommen anschließt, so betont doch auch er gelegentlich das radikale Böse in der Menschennatur … Die soll nun einmal seit den Protoplasten unabänderlich damit behaftet sein … Ist das nicht sehr entmutigend für das Menschengeschlecht?«

»Was heißt Protoplasten?« fragte Sieburth beinahe unwirsch. »Ich kenne das Protoplasma als einen Hauptbestandteil der Tier- und Pflanzenzelle. Ihre Protoplasten kenne ich nicht.«

»Aber das ist doch der Name für Adam und Eva«, sagte gekränkt der junge Gelehrte, »die Zuerst-Gebildeten; ihre wissenschaftliche Bezeichnung ist das doch.«

»So, so! Wenn das ihre wissenschaftliche Bezeichnung ist, dann muß ich natürlich wegen meiner Ignoranz um Verzeihung bitten. Und was Ihre vorige Frage betrifft: Entmutigend für das Menschengeschlecht ist in der Wissenschaft alles! Und Schindluder treiben mit ihm die Freigeister so gut wie die Frommen. Nur wer einen guten Futterplatz hat, ist allenfalls zu Konzessionen bereit … Aber gestatten Sie mir jetzt eine Gegenfrage? Als wir heute bei Tisch von der Frau unseres Historikers Hildebrand sprachen, da sagte der Baron: man habe ihr drüben höllisch eingeheizt. Was mag er damit wohl gemeint haben?«

»Darüber kann ich Ihnen auch nichts sagen«, erwiderte der Privatdozent. »Ich bin erst zwei Semester hier, und was da zugrunde liegt, geschah wohl vor meiner Zeit. Aber wenn Sie es wünschen, kann ich mich ja erkundigen.«

»Das wäre mir sehr lieb«, erwiderte Sieburth. »Ich könnte es ja selber tun, aber da ich, wie Sie hörten, mit dem Hause befreundet war, so will ich mir lieber Zurückhaltung auferlegen. Aus demselben Grunde muß ich Sie bitten, daß bei Ihren etwaigen Fragen mein Name ganz aus dem Spiele bleibt.«

»Selbstverständlich, selbstverständlich«, beteuerte jener, in Eifer erglühend.

»Und was das Problem der Erbsünde anbelangt«, erwiderte Sieburth, »das auch mich immer lebhaft beschäftigt hat – das Wort ›Vokabel‹ war selbstverständlich nur ein Scherz – so reden wir noch ganz ausführlich darüber. Guten Abend, lieber Kollege.«


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