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Zweites Kapitel

Auf der Ober-Laak, dort, wo – der Nähe der Kliniken wegen – die Mediziner zu hausen pflegten, bewohnte Fritz Kühne eine Bude, die für studentische Verhältnisse fast elegant zu nennen war.

Zwei rote Plüschsessel standen um den ovalen Sofatisch herum, auf dem ein Aquarium mit blechernen Silberfischen darin allen Besuchern kund tat, daß der Raum ursprünglich für den Privatgebrauch naturliebender Wirtsleute bestimmt gewesen war. Und daß nur der Mangel an Kleingeld den Grund dafür abgeben konnte, daß er den Herren Studiosen als Heim überliefert wurde.

Fritz hatte das Seine getan, um dem Charakter des Persönlichen noch stärkeren Ausdruck zu geben. Außer dem Öldruck der Scherresschen Überschwemmung, deren goldner Prunkrahmen den leuchtenden Mittelpunkt des Wandschmucks bildete – er hatte ihn aus dem Elternhause hierher übernommen –, prangte gebieterisch ein Goethekopf über der Tür, und Shakespeares kahlköpfiges Hellsehertum lächelte allwissend darein. Das Gruppenbild des vorigen Semesters – acht Füchse, stramme Jungen fast alle – hatte auf der Kommode seinen Standplatz erhalten, und blauweißblaue Fuchsbänder umschlangen liebend die beiden Rapiere über dem Bett. Sogar ein Schreibtisch war da, ein flacher, aufsatzloser, den man respektvoll »Diplomatentisch« nennt, und eine Reihe pfleglich behandelter Bände begrenzte die Platte nach der Wand zu, wo Bilder der Eltern und der Geschwister wie auch das eines in Efeu verkrochenen einstöckigen Gutshauses Heimat und Kindheit symbolisch verklärten.

Vor ihnen saß Fritz eine Stunde nach jenem Kollegschluß und starrte sie an, als sollten sie ihm in seinem geistigen Wirrwarr Stütze und Richtschnur sein.

»Weib und Gedanke!«

So war's. So war es immer gewesen.

Wie ein Blitzfeuer hatten die Worte ins Dunkel des kaum Empfundenen hineingeleuchtet. Was nicht Gedanke war, gehörte dem Weibe. Was das Weib freiließ, floh ins Reich der Gedanken. Hier oder dort wurzelte jedes Erinnern.

Gewiß, die Eltern waren auch da, und Geschwisterliebe wollte ihren wohlgerüttelten Anteil. Aber neben den Schwestern standen seit dem achten – seit dem sechsten Jahre vielleicht – zwei oder drei blondzopfige Freundinnen, deren Nähe Herzklopfen brachte und die man mit Scheu und Sehnsucht an sich vorüberstreifen ließ. Und die Schwestern selbst waren umwoben von Schleiern ängstlichen Geheimtuns, solange man denken konnte. Nicht umsonst stand man lauernd vor verschlossenen Türen und horchte auf das Wispern und Rieseln jenseits der trennenden Wand.

Sodann die Heimat – die geliebte, sonnenbelichtete Heimat! Waren ihre rotbraunen Heiden nicht bevölkert mit Elfenvolk und Gänselieseln, solange der Traum sie umspann? Wiegten sich zwischen den strotzenden Ähren nicht Schnitterinnen, strotzend wie sie? Strotzend an Schenkelkraft und Busenfülle, so daß man als Knabe nur taumlig über sie hinsah? Und abends, wenn der Mondschein auf dem Hofe herumgeisterte, was war er ohne das Mädchenlachen, das von den Ställen herüberdrang, ohne den Mädchensingsang, der an dem Zaune entlangglitt?

Alles, was Jugend hieß und Tränen und Überschwang, was Wunsch und Fürchten schuf, was die Muskeln straffte und die Augen aufglühen ließ, war Weib und immer nur Weib.

Doch nun die Kehrseite! Vom ersten Buchstabieren an – die Lesestücke der Fibel – die Regeldetri auf knirschender Tafel, der Cornelius Nepos, der Ovid, das erste Schillerdrama, der deutsche Aufsatz, die Geologie – der früheste Anhauch Kantischer Größe und dann vornehmlich Faust und immer wieder Faust – das alles, was Wissen und Erkenntnis und Aufstieg kaum geahnter Horizonte verhieß und verschenkte, was Streben aus Streben, Fleiß aus Fleiß, Schauen aus Schauen immer aufs neue hervorwachsen ließ, das war die andere – die Welt des Gedankens.

Streng geschieden von jener?

Nein, das nicht. Fließende Grenzen gab es, wo sie beide zusammentrafen, wo das Weib zum Gedanken ward und der Gedanke sich in Weiberkleider hüllte. Das war die Dichtung, die Musik, das Dämmern großer Gefühle.

Vaterland – war das nicht Thusnelda zugleich? Preußen – war das nicht Königin Luise? Religion – war das nicht Jungfrau Maria? Ihm, dem Protestanten, sogar und wieviel mehr denen, die sie als Göttin verehrten?

Ja wahrlich, Weib oder Gedanke, Weib und Gedanke war alles!

Und was nicht von einem der beiden beherrscht, gespeist und geheiligt wurde, welches Recht im Leben hatte das noch? War es nicht Beiwerk, überflüssig, zeitstehlend und wert, ausgerottet zu werden für immer?

Freilich, die Freundschaft wollte auch ihr Teil. Wer sich nicht Genossen sucht, verkümmert. Aber diese Genossen müssen Sinn und Zweck haben, als Wegbahner, als Wetzsteine des Geistes, als äußere Triebkräfte, wo die eigene Kraft zu versagen droht. Und so werden sie, wohl genützt, doch dem Gedanken untertan, wenn sie nicht auf der andern Seite sich segensreich erweisen, um jene quälerischen Spannungen zu lösen, die das Weibtum, das vor dem Jüngling meist unerreichbar dahinflieht, in dem einsam sich Sehnenden hervorruft.

Drum mochte die Verbindungskneipe ihre Rolle im Leben immerhin weiter spielen mitsamt ihrem Grölen und ihrem Bierzwang, mit der lästigen Vertraulichkeit der innerlich Fremden, die sich als Brüder gebärdeten! Und der Fechtboden nicht minder, der wenigstens den Bizeps stählte und das Hirn in Blutfülle quirlen ließ.

Weib und Gedanke! Eine neue Parole war es, die in das Chaos der Gefühle Ordnung brachte, die das anerzogene Sündenbewußtsein zur Lächerlichkeit stempelte und ein Gleichgewicht schuf, aus dem neue Kraft, neues Glück, neues Selbstgefühl hervorsprießen mußten.

Und der Mann, der sie ihm geschenkt hatte, war er nicht sein Wohltäter geworden? Mußte ihm nicht die Kraft eigen sein, auch weiterhin der Lenker seines Schicksals zu werden?

Die nächsten Tage vergingen … Abendkneipe – Kolleg – Fechtboden, zwei aufregende Mensuren sogar – alles glitt kaum beachtet an ihm vorüber. Und immer klarer stieg aus seinen seelischen Kämpfen der Entschluß empor, den Gang zu jenem Wundermanne zu wagen und sich von ihm den Richtweg der eigenen Zukunft bestimmen zu lassen.

Die Corpsbrüder, die er ausforschte, wußten wenig über ihn. Die Spitzmaus beantwortete alle Fragen mit einem herablassenden Lächeln, und die Biertonne, die sich ja mit ihm zusammen besoffen haben wollte, trat vorsichtig den Rückzug an und meinte schließlich, es sei doch wohl wer anders gewesen.

›Was will ich eigentlich von ihm?‹ fragte sich Fritz und wußte darauf keine Antwort zu geben.

Sein Studienplan lag fest gefügt. An ihm ließ sich nichts ändern. Und sollte es auch nicht. Im Gegenteil, wem vom Elternhause her vergönnt worden war, den kostspieligen und bevorzugten Weg des Juristen einzuschlagen, der als einziger von allen zu den höchsten Ehren im Staate emporführte, der mußte sich glücklich fühlen vor Tausenden.

Wäre nur die verfluchte Naschhaftigkeit nicht gewesen, die ihn alle möglichen Schlupfwinkel menschlichen Wissens gierig durchstöbern hieß.

Nicht bloß in der Philosophie hatte er den Zaungast gespielt, auch in der Kunstgeschichte schnüffelte er herum, und selbst in dem Publikum über indische Literatur, das Professor Pfeifferling, der berühmte Germanist, zu seiner eigenen Erholung las, wie er sagte, hatte man ihn schon sitzen sehen und darob weidlich gehänselt.

Wollte er sich nur die Gewähr holen, auf dieser windigen Bahn weiterzuschreiten, so konnte er die Juristerei schon heute an den Nagel hängen und sich das buntscheckige Mäntelchen des Dilettanten umtun, worin ihn ein jeder verlachte.

Aber gleichviel! der Gang stand vorgezeichnet im Buche seines Lebens. Sich ihm entziehen wäre Feigheit gewesen.

Also los! –

Es war ein Sonnabendnachmittag, an dem kein Lehrer Kolleg las, als er hoffend und bangend den Weg zum Vorder-Roßgarten einschlug, wo – das hatte er auf dem Sekretariat erfahren – Professor Sieburth wohnte.

Dessen Name stand nicht auf den Schildern, die neben je einem Klingelknopf Stockwerk für Stockwerk die Einwohner ankündigten. So wählte er einen beliebigen und hoffte, das übrige dann zu erfahren.

Und als die Haustür zurückschlug und eine Jungmädchenstimme die Treppe herniederrief: »Zu wem wünschen Sie?«, stellte es sich alsbald heraus, daß er keinen falschen gegriffen hatte.

Der Herr Professor sei zwar im Augenblick nicht zu Hause, verkündigte die Jungmädchenstimme weiter, aber er werde wohl bald wieder da sein – und wenn der Herr warten wolle – – –

Ja, das wolle er, erwiderte er. Nicht etwa, weil er nicht lieber rasch umgedreht wäre, sondern vielmehr, weil der Silberstrom der Stimme, der von oben her auf ihn niederfloß, ihm das Herz warm gemacht hatte.

›Weib und Gedanke‹, sagte er zu sich, als er die Stufen hinanschritt.

Aber es war kein Weib, das ihn dort oben erwartete, sondern fast ein Kind nur. Hochaufgeschossen zwar und mit Spuren naher Jungfräulichkeit in den leise sich rundenden Gliedern, aber doch ein Kind noch, mit blauem, neugierigem Kinderblick und einem Kranz aus mattblonden Zöpfen, der das blutübergossene Gesichtchen wie eine Gloriole umgab. Die Hände, die sich allzuweit aus den ausgewachsenen Ärmeln hervorwagten, tapsig und rot. Und viel Heiligkeit in dem schüchternen Lächeln.

Er zog seine sieghafte Mütze. Aber wie er nun vor ihr stand, fühlte er sich nicht minder schüchtern, als sie ihm erschien.

Zwei wirre Augenblicke lang überlegte sie, dann öffnete sie die rechtsliegende Tür, durch die eine Rotglut von Abendlicht sich über sie beide ergoß.

»Wenn Sie so gut sein wollen«, sagte sie stockend. Und er folgte ihr, viele abgehackte Bücklinge drechselnd, wie sie zum Weltmanntum eines Corpsstudenten nun einmal gehören.

Ein schlichtes Bürgerzimmer, nicht viel höher im Range als die Bude, in der er hauste, tat sich in Sonnenfülle vor ihm auf. Nur daß das Bett darin fehlte und Nähtisch und Nähmaschine von fleißig waltenden Frauenhänden Zeugnis ablegten. Bücher und Schulhefte lagen auf dem ovalen Mitteltisch, und wo bei ihm das Aquarium prunkte, erhob sich hier in Stein und in Gußeisen ein denkmalartiges Schreibzeug.

Sie bot ihm schweigend einen am Fenster stehenden Stuhl und raffte dann Bücher und Hefte zusammen, offenbar um mit ihnen endgültig zu verschwinden.

Da faßte er sich ein Herz und brach eine Unterhaltung vom Zaune.

»Wohnt der Herr Professor bei Ihnen?« fragte er aufstehend.

Sie legte das Lernzeug auf den Tisch zurück und erwiderte mit einem Aufatmen sich lösender Beklommenheit: »Ja. Das heißt, eigentlich wohnen wir beim Professor, Mama und ich. Jawohl.«

»Leben Sie schon lange so zusammen?« forschte er.

»Seit vier Jahren, solang' er in Königsberg ist.«

Und als ihm das nicht recht einleuchten wollte, ergänzte sie: »Die Wohnung haben wir gemietet, aber die Möbel bei ihm sind seine. Und Mama führt ihm die Wirtschaft und kocht auch für ihn.«

»Kommen viele Studenten ihn besuchen?« fragte er weiter.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ach wo doch! In manchem Semester kommt kaum einer. Und wer Band und Mütze trägt, schon gar nicht. Er sagt: ›Wozu sollen sie auch? Zum Examen kann ich ihnen nichts nützen. Und im übrigen hat jeder Manschetten vor mir, daß ich mich über ihn lustig mach'.‹ Ja, das hat er schon manchmal gesagt.«

»Macht er sich auch über Sie lustig?« fragte Fritz.

Sie schüttelte wieder den Kopf, aber diesmal voll eifriger Abwehr.

»In Wahrheit ist er so gut … Ach, so gut … Drum haben wir ihn auch sehr lieb – Mama und ich. Manchmal streiten wir uns, wer ihn wohl lieber hat. Aber es wird wohl das Gleiche sein. Verkehr pflegen wir nicht, und so leben wir ganz für ihn.«

»Einen Vater haben Sie wohl nicht mehr?« fragte er immer noch weiter.

Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Schon lange nicht mehr«, sagte sie. »Er starb, als ich noch klein war. Und darum sind wir auch arm.«

Und dann, als erschrecke sie über das unvermittelte Vertrauen, stand sie auf und machte sich von neuem mit ihren Büchern zu schaffen.

»Ich werd' denn man gehen«, stammelte sie.

Er bat voll Inbrunst, daß sie noch bleiben möge. »Und erzählen Sie mehr vom Professor – wenn Sie von sich selbst nicht erzählen wollen.«

Zum Zeichen der Gewährung setzte sie sich wieder.

»Sie wünschen wohl nachträglich antestieren zu lassen?« fragte sie. Als Tochter einer Professorswirtin waren ihr die akademischen Fachausdrücke natürlich vertraut.

Da gestand er ihr, daß er Jurist sei und gar nicht einmal bei ihm höre.

»Ja, was wollen Sie denn hier?« fragte sie und machte große Augen.

Nun war es an ihm, ihr Vertrauen zu erweisen. Er erzählte ihr, was ihm mit dem Professor geschehen war und wie es nun sein innigster Wunsch sei, für seine künftige Lebensgestaltung einen Rat von ihm zu empfangen.

»Das verstehe ich sehr gut«, sagte sie. »Uns jungen Menschen geht es ja allen so. Oft wissen wir nicht aus und nicht ein.«

»Sie dürfen ihn doch tagtäglich um Rat fragen«, sagte er. Und der Neid stieg in ihm hoch, daß sie zu allen Zeiten dem verehrten Manne nahe sein durfte.

»Um Gottes willen!« rief sie und sah mit ängstlichen Augen nach der Stubentür, als ob er gerade dort eintreten könnte. »So was wag' ich doch gar nicht. Manchmal, wenn er nicht ausgeht und vom Schreiben müde ist, setzt er sich wohl dort in die Sofaecke und schweigt und raucht. Und Mama näht. Und ich mach' Schularbeiten. Und dann bückt er sich wohl über mein Heft und sagt mir dies und das, aber dann wird mir immer ganz heiß, und ich bin froh, wenn er wieder dort sitzt.«

»Und was redet er mit Ihnen, wenn Sie zu ihm gehen, ihm Essen bringen und so?«

»Das tu' ich doch nicht!« rief sie, erschrocken über diesen Gedanken. »Das besorgt Mama alles selber. Höchstens, daß ich ihm die Wasserflasche frisch auffülle, und so. Er hat auch einen besonderen Aufgang vom Hofe aus, so daß ich oft wochenlang nichts von ihm höre und seh'.«

»Was macht er denn immer so abends?«

»Oft geht er in Gesellschaft. Denn sie reißen sich alle um ihn. Und dann kommt er wohl, und ich muß ihm die weiße Krawatte binden. Aber oft geht er auch so weg. ›Heut' macht er Entdeckungsreisen‹, sagt dann Mama.«

»Was entdeckt er denn?«

»Wenn man das wüßte!« rief sie. »Aber alles ist Geheimnis um ihn. Mama sagt, er kriegt nicht satt zu essen vom Leben. Manchmal hört man auch durch die Wand – –«

Betroffen hielt sie inne.

»Was hört man?«

»Nein, das sag' ich nicht«, stammelte sie. »Das darf ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil es ihm vielleicht schaden könnte … nicht daß es etwas Böses wäre … um Gottes willen nicht … aber Sie sind ihm ja ganz fremd. Und mir übrigens auch … Wie leicht wird da was mißverstanden. Und dann ist das Unglück da.«

»Von mir wird ihm kein Unglück kommen«, beteuerte er. »Dazu bewundere ich ihn viel zu sehr.«

»Das müssen Sie auch!« rief sie, und in ihren Augen flammte die Begeisterung, die zwischen sechzehn und achtzehn heimisch ist. »Denn er verdient es mehr als alle andern Menschen. Und ich könnte Ihnen noch viel mehr von ihm erzählen.«

»Bloß was man manchmal durch die Wand hört – das nicht«, versuchte er zu scherzen.

Sie trat unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu und sah ihm mit ernster Prüfung ins Gesicht.

»Vielleicht auch das«, sagte sie, »aber dazu müßten wir uns ganz gut kennen, und ich müßte Ihrer ganz sicher sein.«

»Dazu wäre aber nötig, daß wir uns erst kennen lernen«, sagte er, »und wenn Sie mir keine Gelegenheit geben –«

»Wie meinen Sie das?« stammelte sie.

»Nun, daß wir uns manchmal begegnen könnten. Auf Königsgarten zum Beispiel.«

»O Gott!« rief sie mit einem Auflachen, das in seiner Beklommenheit fast wie ein Jauchzen klang. »Dort, wo sich die Liebespaare immer treffen? Wenn man da bloß einmal spazieren geht, ist man schon im Geklätsch.«

»Oder, wenn der Winter kommt, auf der Eisbahn.«

»Das ginge schon eher«, überlegte sie, »aber ich weiß ja nicht einmal Ihren Namen.«

Er bat um Verzeihung, und aufschnellend stellte er sich vor, vergaß auch nicht hinzuzufügen, daß er im zweiten Semester sei und demnächst das Band zu erhalten hoffe.

»Ich heiße Helene Schimmelpfennig«, sagte sie, »und sitz' in der ersten Klasse. Zu Ostern denk' ich fertig zu sein. Das ist ebensoviel wie das Band. Oder meinen Sie nicht?«

Er bejahte mit Feuer. Wenn sie ihn in ihrem Stolz nicht so angestrahlt hätte, so würde er vielleicht Vorbehalte gemacht haben.

»Und dann geht's aufs Lehrerinnenseminar«, fuhr sie fort und erstarrte zu sorgendem Ernst. »Dort wird das Leben dann immer noch schwerer.«

»Ist es denn schon so schwer?« fragte er, und der Übermut seiner Jugend tollte in den ulkig zusammengekniffenen Augen.

Aber sie blieb ernst wie zuvor.

»Wenn es nicht schwer wäre – auch für Sie, wären Sie dann wohl hier?«

Da kam der Ernst auch über ihn.

»Sie haben recht«, sagte er. »Drum müßte man einander beistehen und gut Freund sein. Wollen Sie?«

»Gern«, erwiderte sie einfach. »Nur Verabredungen treffen und so, das könnt' ich nicht. Dann hätt' ich ein böses Gewissen.«

»Dann muß uns der Zufall helfen!«

»Darauf ließe ich's ankommen«, stimmte sie zu, »und dann könnten wir auch von ihm reden, soviel wir wollten … Rätsel zu raten gibt er genug. Das werden Sie selber gleich sehen – denn wenn ich nicht irre –«

Sie lauschte nach dem Treppenflur hin.

Da öffnete sich die Tür, und eine blasse, noch hübsche Frau mit dunklen, traurig blickenden Augen und einem starren, gleichsam vereisten Lächeln trat langsam herein und maß mit einem befremdeten Blicke den jungen Cherusker, der sich erhoben hatte und einigermaßen beklommen der Mutter – denn niemand anders konnte es sein – über sein Hiersein Rechenschaft zu geben sich anschickte.

Aber Helene kam ihm zuvor. »Herr Studiosus Kühne wartet auf den Professor«, sagte sie ganz unbefangen, »und ich hab' ihn solange hereingebeten.«

»Ich habe den Herrn Professor eben heimkommen sehen«, sagte die Mutter mit einer eintönig schleppenden Stimme, »und wenn es Ihnen recht ist, so melde ich Sie an.«

Damit ging sie auf den Flur hinaus. Man hörte ihr Pochen an der daneben liegenden Tür.

Nun er den gefürchteten Augenblick vor sich sah, stieg ihm der Herzschlag zum Halse empor.

Lauschend und harrend sahen die beiden jungen Menschenkinder einander an. Zu einem Worte des Abschieds fand keines den Mut.

»Der Herr Professor lassen bitten«, sagte die zurückkehrende Mutter.

Er griff nach seiner Mütze, machte den beiden je einen zünftigen Bückling und schritt auf angststeifen Beinen zu dem Professor hinüber.

Der stand inmitten von engen Büchermauern vor einem viereckigen, mit grauem Wachstuch benagelten Tisch – mein Schreibtisch ist schöner, dachte Fritz inmitten all seiner Drangsal – und sah ihm mit kühlem Lächeln entgegen.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Herr Professor – Herr Professor – verzeihen schon –«

Das Lächeln wurde wärmer, beinahe zutraulich wurde es.

»Bitte, nehmen Sie Platz!«

Gehorsam ließ er sich in das steiflehnige Sofa fallen und hatte nur den einen Gedanken: ›Wie komm' ich hier heil wieder hinaus?‹

»Was hören Sie bei mir? Ich besinne mich nicht, Sie unter meinen Schülern bemerkt zu haben.«

»Ich – ich – hab' eigentlich gar nicht das Recht, zu Ihnen zu kommen, Herr Professor, denn ich studier' Jura – und – und –«

»Es hören auch Juristen bei mir.«

Da faßte er sich ein Herz und berichtete frischweg von dem großen seelischen Erlebnis jener Nachmittagsstunde, und daß er den Gang hierher gewagt habe, weil er hoffe, sich eine Richtschnur für sein künftiges Leben zu holen.

Der Professor drehte den Schreibtischstuhl, in den er sich gesetzt hatte, nach ihm um und besah seine Hände, genauso, wie er es im Kolleg zu tun pflegte.

»Was hat Ihnen denn so besonderen Eindruck gemacht?« fragte er.

»Eindruck – alles«, stammelte Fritz. »Am meisten aber, daß die Welt eigentlich nichts ist wie Weib und Gedanke. Das ist mir wie eine Offenbarung gewesen.«

Der Professor lächelte das niederträchtige Lächeln, das Fritz von damals her an ihm kannte, und sagte: »Solange Ihr Monatswechsel vorhält – ich hoffe, er ist reichlich bemessen – werden Sie keine Ursache haben, diesen Satz zu bezweifeln. Wenn Sie aber gezwungen wären, auf Ihr tägliches Brot Jagd zu machen, würden Sie sich schon an ein anderes Wort halten müssen, das Sie bei meinem Kollegen, dem Kantianer Schiller vorfinden und das Ihnen natürlich geläufig ist.«

»Erhält sie das Getriebe –«, zitierte unsicher Fritz.

»Durch Hunger und durch Liebe«, vollendete jener. »So ist es, mein Lieber. Die sensuelle Welt mag die gleiche bleiben, die intellektuelle aber braucht ein anderes Zentrum, um das sie rotiert … Seien Sie glücklich, daß Sie in der Lage sind, meinen Satz probat zu finden. Ihnen bleibt weiter nichts zu tun, als das Gleichgewicht zwischen den beiden Machtfaktoren wohl zu bemessen, und Ihre Jugend wird eine gesegnete sein.«

Aber hiermit war Fritz noch nicht geholfen, und darum unternahm er es, seine Zweifel über die Richtigkeit seines Studienganges vor dem verehrten Manne auszubreiten. Er berichtete von seinem Verlangen, sich in den verschiedensten Fächern des Wissens zu Hause zu fühlen, und vor allem von seiner beinahe angstvollen Begierde, das alles nachzudenken, was die großen Philosophen im Laufe der Zeiten ihm vorgedacht hatten.

»Was soll ich tun, Herr Professor?« so schloß er seine Bekenntnisse. »Ich sehe ein, daß ich mit all dem zusammen nicht fertig werden kann, besonders, da das Corps immer größere Anforderungen stellt und eine zweite Mensur bevorsteht, der womöglich noch eine dritte folgen wird, ehe ich rezipiert werde. Das Im-Korbe-Liegen macht ja dann sowieso alles zuschanden. Soll ich im Corps bleiben, oder soll ich ausspringen? Soll ich gar die Eltern bitten, daß ich die Juristerei an den Nagel hängen darf? … Bloß so überall 'rumschnüffeln, das scheint mir unsolide und beinahe verächtlich, und für irgend etwas Besonderes fühl' ich keine Berufung in mir – würde ja auch nicht mein Brot dabei finden, denn für die akademische Laufbahn langt es zu Hause nicht.«

Der Professor stand auf, und als Fritz das gleiche tun wollte, drückte er ihn auf den Platz zurück. Dann ging er zwei-, dreimal um den Arbeitstisch herum und setzte sich wieder.

»Ja, was mach' ich nun mit Ihnen, mein Lieber?« fragte er, und die unwahrscheinlichen Augen brannten aus ihren dunklen Höhlungen dem Wartenden entgegen. »Sag' ich Ihnen die Wahrheit, so glauben Sie, ich will Sie verhöhnen. Und vielleicht ist es auch Hohn – weil unsere Zeit nichts Besseres verdient … Sehen Sie, Sie sitzen in einer guten Assiette, und der Staat stülpt höchstselber den warmhaltenden Deckel über Sie … Jurist und Corpsstudent und Sohn wohlangesehener Eltern – vielleicht verkehrt sogar der Landrat bei Ihnen – ja, sagen Sie bloß, was wollen Sie vom Schicksal noch mehr? Um Sie herum schwirren die gebratenen Tauben so dicht wie die Schmeißfliegen. Wenn Sie nicht ganz unbrauchbar sind, regieren Sie in zehn Jahren schon fleißig mit, und in zwanzig melde ich mich vielleicht im Ministerium auf Ihrem Büro als graugewordener Außenseiter und bewerb' mich bei Ihnen um eine ordentliche Professur.«

Fritz empfand jedes seiner Worte wie einen Peitschenhieb.

»Es mag ja vermessen von mir gewesen sein«, rief er, »zu Ihnen zu kommen, aber das, Herr Professor –«

»Ich sagte Ihnen ja«, unterbrach ihn jener, »daß Sie glauben werden, ich wolle Sie verhöhnen. Aber ich spreche zu Ihnen nur als ein ehrlicher Mensch … Ja, würden Sie mit einer Arbeit zu mir gekommen sein, die mir beweist, daß irgendein Dämon Sie hetzt, so könnte ich anders mit Ihnen verfahren. Aber bloß um eine harmonische Lebensgestaltung zu begünstigen, dazu ist die Wissenschaft nicht da … Drum gehen Sie friedlich nach Hause, trinken Sie Ihr Bier, schlagen Sie Ihre Mensuren und versorgen Sie sich beizeiten mit einem guten Einpauker, der Sie durch das Referendarexamen schleift. Auch den Doppeldoktor vergessen Sie nicht. Er wird Ihrer Visitenkarte sehr zur Zierde gereichen.«

Fritz fühlte die Tränen nahe. ›Gewogen und zu leicht befunden‹, schrie es in ihm.

»Nun – nun – nun«, hörte er des Professors tröstliche Stimme, »das ist alles nicht schlimm gemeint, und zum Rumsitzen behalten Sie immer noch Zeit. Kommen Sie ruhig auch zu mir. Ich les' noch ein Publikum über Locke und Hume. Das ist ein gutes Sprungbrett für Kant. Der kommt im nächsten Semester 'ran, und wenn Sie den kapiert haben, dann sind Sie reif für manche Fernsicht.«

»Was Sie vorhin sagten«, stammelte Fritz, »war also nicht Geringschätzung für meine Begabung?«

»Was weiß ich von Ihrer Begabung?« erwiderte der Professor. »Und was heißt auch Begabung? Ein Normalprodukt unserer Pädagogik zu geben, fällt nicht schwer, und die Talente sind wohlfeil wie Brombeeren … Wie ich schon sagte: auf den Dämon in uns kommt's an … Fühlen Sie, daß er Sie sticht mit feurigen Spießen, läßt er Ihren Speichel gerinnen zu Galle und treibt er Ihnen täglich einen neuen Wahnsinn ins Hirn, dann – können Sie immer noch auf der Straße verrecken oder im Notasyl, aber dann haben Sie wenigstens das Zeug dazu gehabt, ein Kerl zu werden.«

Fritz raffte sich zu einem bescheidenen Einwurf zusammen: »Und Fleiß und Streben und Zusammenfassung aller Kräfte – die gelten nichts?« fragte er.

Der Professor machte mit seinem Drehstuhl eine Wendung zum Schreibtisch zurück und wies auf die zinngegossene Petroleumlampe, die auf dessen linker Ecke den Abend erwartete.

»Da steht sie – unsere Wohltäterin«, sagte er. »Wenn die nicht wäre, gäb' es kein geistiges Deutschland, denn uns fliegt nichts von selber zu. Aber ich fürchte, Sie und ich, wir verstehen uns nicht ganz. Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn, Herr Professor.«

»Dann können wir uns auch noch nicht verstehen. Sie sind ein paar Jahre zu früh zu mir gekommen, mein Freund.«

Fritz schoß in die Höhe.

Denn das hieß entlassen sein.

»Oder aber – nein doch! Kommen Sie wieder. Kommen Sie allemal, wenn Sie mich brauchen können … Oder auch gelegentlich darüber hinaus. Vielleicht könnt' ich Sie auch mal brauchen … Das weiß man im voraus nie ganz genau.«

In überquellender Dankbarkeit griff Fritz nach der Hand, die sich kühl und porzellanen ihm entgegenstreckte.

Als er auf der Straße stand und vom jenseitigen Bürgersteig her zu dem grauen Hause emporblickte, das sich durch nichts von seinesgleichen unterschied, war ihm zumute, als hätte beides, das nach den Worten des Professors die Welt regiert, als hätten Weib und Gedanke dort ihre Heimat gefunden.


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