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Achtundzwanzigstes Kapitel

Was seit Helenens erstem Besuche in Sieburth vorging, darüber vermochte er sich selber kaum Rechenschaft zu geben.

Als er die beiden Choristinnen aus seinem Leben hinausgefegt hatte, da seufzte er erleichtert auf.

Der Ordnungssinn, der lange mißhandelte, verlangte nach seinem Rechte.

Endlich fühlte er sich wieder eins mit seinem innersten Wollen. Aus Arbeit und Ermüden, aus Rückerinnern und Erwartung wurde tagtäglich ein neues Fest.

An das, was werden konnte, vielleicht gar werden mußte, daran dachte er nicht.

Sie kam, und sie war da.

Und alles andere sank in Vergessen.

Manchmal vergingen vier, fünf Tage, ehe sie sich blicken ließ.

Eigentliche Sehnsucht hatte er nicht nach ihr. Das Gefühl, sie sich so nahe zu wissen, daß er, um sie zu sehen, nur hinauszutreten brauchte, wenn drüben die Tür ging, gab ihm den Glauben, von ihr umgeben und umhegt zu sein, auch wenn sie lange nicht zu ihm kam.

Nach sonstiger Gesellschaft verlangte ihn nicht mehr.

Selbst die Kumpane vernachlässigte er. Alles, was am Stammtisch ernarrt und erklügelt wurde, erschien ihm altbacken und abgeschmackt.

Die unregelmäßigen Verben gaben wichtigere Weisheit als aller Hochmut des Nichtwissens.

Ein heimliches Triumphieren beherrschte seine Stimmung, und wer ihn im Versammlungszimmer beobachtete, fand ihn auf so heitrer Höhe, als wäre er noch niemals ein geduldeter Auswürfling gewesen.

Daß er sie nicht etwa liebte, darüber war er sich klar. Sie glitt als Spiel, als Licht, als unschuldiger Luxus durch sein Leben. Kind durfte sie sein, doch niemals Geliebte.

Und er begehrte auch nicht nach ihr. Wohl war er nicht blind gegen die zarten Rundungen ihres reifenden Weibtums, gegen alles, was in unbewußter Lockung von ihr zu ihm hindrängte, wohl durchzuckte ihn oft genug der Schauer, den der Hauch ihrer Nähe erweckte, aber an ihrer Unbefangenheit zerbrach auch das leiseste Gelüsten. An Sinnengenuß gewöhnt, holte er sich Stillung dort, wo seine Seele nichts verlor und nichts gewann und von woher keine Brücke der Phantasie zu der Hochgestalt hinreichte, die sein Leben jetzt lächelnd erfüllte.

Ihr Glücksausbruch am Weihnachtsabend wirkte stark in ihm nach. Dies entfesselte Sichgeben war zuviel des Guten gewesen, als daß er es unberührt an sich hätte vorbeigehen lassen können.

Aber was dann folgte, beruhigte ihn wieder.

Zuerst kam sie gar nicht. Volle acht Tage nicht. Und als sie zu Silvester endlich erschien, war sie so fremd und abgekehrt, als hätte sein eigenes Betragen sie ernüchtert und erkältet.

Es war noch früh am Abend und die Dämmerung kaum eben erloschen.

Schweigend stellte sie ein Blumentöpfchen vor ihn hin und schluckte und schielte zur Seite.

»Was hast du, Kind?«

»Ich muß gleich wieder gehen.«

»Hab' ich dir was getan?«

»Ich muß gleich wieder gehen.«

Dabei blieb sie, auch als er ihr den Mantel abzog und die Kappe aus den Haaren löste.

»Warum bist du so lange nicht hier gewesen?«

»Erstens hat es wegen der Ferien keinen Zirkel gegeben, und dann kann ich überhaupt nicht mehr kommen.«

»Weshalb nicht?«

»Das sag' ich nicht.«

»Helene«, mahnte er, »Freunde haben Pflichten gegeneinander. Außerdem weißt du: mir verschweigt man nichts. Also bequeme dich und gesteh, was mit dir los ist.«

»Ich bin – überhaupt – nur gekommen, weil ich Sie morgen – zu Neujahr – wahrscheinlich nicht sehen werde.«

»Warum nicht? Wir haben uns doch daran gewöhnt von altersher, daß ich euch jeden Neujahrsvormittag meine Glückwünsche bringe, und das werd' ich auch morgen tun.«

»Ich werde aber dann nicht da sein … Ich halt' das mit Mama nicht mehr aus. – Dies Bekucken und Bemißtrauen … Besonders, seit ich weiß, daß sie recht hat – und – daß ich ganz schlecht bin.«

»Das ist aber noch immer kein Grund, auch gegen mich schlecht zu sein.«

»Ich werde nicht mehr gut, ich werde nicht mehr schlecht – ich werde gar nichts mehr sein. – Ich werde – ich – –«

Weiter kam sie nicht. Sie drehte sich gegen das Fenster und schluckte.

»Wenn ich nicht wüßte, mein Kind«, sagte er, »daß dir im Augenblick wenig wohl zumute ist, so würde ich nicht in dich dringen … Warum willst du unser liebes und glückliches Zusammensein zunichte machen? … Ist dir etwas daran lästig geworden? Oder langweilt es dich?«

»Ich bin Ihnen lästig geworden! Ich langweile Sie! Jawohl, das tu' ich! Ich hab' mich so dumm benommen am Weihnachtsabend, daß Sie mich jetzt verachten müssen … Jawohl, das tun Sie … So was ist nie mehr gutzumachen. Und darum komm' ich lieber gar nicht mehr.«

»Du sprichst in Rätseln, mein Kind. Ich weiß nicht, was du meinst.«

Jählings drehte sie sich um und flammte ihn an, ihn, den ertappten Lügner, der er war.

»Sie wissen ganz genau. Sie tun jetzt bloß so. Zudringlich bin ich gewesen. ›Du‹ hab' ich zu Ihnen gesagt.«

»Ich hoffe, das wirst du jetzt immer tun.«

Der Schreck trieb sie zum Fenster zurück. Und nicht einmal freudig war er.

»Nein, nein, nein! Wie dürft' ich das? Ich zu Ihnen! Lieber Herr Professor! Verlangen Sie das nicht! Das schickt sich nicht für mich. Das hab' ich nicht verdient!«

»Komm vom Fenster fort, Kind! Man könnte deine Umrisse erkennen!«

»Mutter ist oben!« flüsterte sie. Und weil es heute noch so früh war und die Mutter aus irgend einem Grunde hereinkommen könnte, eilte er zur Flurtür und riegelte sie ab, was sonst eigentlich niemals geschah. Dann ließ sie sich willig von ihm ins Innere ziehen. Heute wurde ohnehin nicht gearbeitet, und darum durfte sie auch wieder in der Sofaecke Platz nehmen.

Er blieb vor ihr stehen und strich ihr über das Haar.

» Wie heißt das Wort?« fragte er.

Sie sah in seliger Ergebung zu ihm empor.

»Du«, hauchte sie und barg den Kopf an seinem Rockschoß.

Er dachte: ›Wie bin ich begnadet, daß solch ein Augenblick mir beschert ist.‹

Und dann setzte er sich neben sie, nahm ihre Hand in die seine und beriet mit ihr, wie sie beide im neuen Jahre ihr Leben einrichten würden.

»Noch hat Mama nicht die mindeste Ahnung«, erzählte sie. »Zweimal, als ich heimkam, hat sie sogar gesagt: ›Heut ist wieder Besuch bei ihm gewesen‹ … Und das tut sie mit Absicht, um mich noch mehr von Ihnen abzuschrecken.«

»Dir«, verbesserte er.

»Ich kann nicht!« flehte sie. Doch als er darauf bestand, lehnte sie den Kopf an seine Schulter und flüsterte: »Du.«

›Küssen darf ich sie nicht‹ dachte er. ›Sonst geht doch alles seinen Weg.‹

Nur ihre Schulter umschlang er. Und so saßen sie lange und sprachen von künftigen Zeiten.

Zu Anfang März müsse sie ins Examen steigen, und gegen Ostern werde sie fertig sein. Und wenn er ihr bis dahin seine Hilfe schenken wolle, dann brauche sie vor gar nichts Angst zu haben. Schon jetzt sei sie den andern voraus. Sie wisse gar nicht, woher ihr all das Wissen kommen. Und all die Gedanken! Die habe sicherlich er in sie hineingelegt.

Und während sie das alles sagte, dachte er ganz dumm: ›Gott im Himmel, laß mich dieses Kindes nicht unwert sein.‹

Dann, als er, seines Betens inne werdend, hell über sich auflachte, fragte sie ängstlich: »Hab' ich was Dummes gesagt?«

»Nein, nein, ich bin der Schuldige«, sagte er und streichelte ihre Wange.

Lange konnte sie heute nicht bleiben. Sie wolle nur mal zu einer Freundin laufen, habe sie der Mutter gesagt und müsse zum Abendbrot wieder zurück sein.

Noch einmal wünschten sie sich alles erdenkliche Glück.

»Und soll Ihnen das kommende Jahr endlich das Große bringen, worauf wir alle schon warten«, fügte sie hinzu.

Sie wagte es nicht einmal mit Namen zu nennen, dies »Große«, und er dachte: ›Weiter war ich noch nie davon entfernt.‹

 

Die Feiertagszeit ging dahin und mit ihr die Hochstimmung, die sie gebracht hatte.

Arbeit regierte wieder die Stunden, die sie ihm schenkte, und keine Zärtlichkeit schlich sich jemals hinein.

Sich an das »Du« zu gewöhnen, gelang ihr durchaus nicht. Wenn das Wörtchen ihr unversehens über die Lippen kam, was kaum jemals geschah, dann schrak sie zusammen, und ihre Augen baten beredt um Vergebung. Und wenn er beim »Sie«-sagen auf Berichtigung bestand, dann neigte sie sich unwillkürlich nach ihm hin, als könne die Vertrautheit des »Du« nur beim Sich-Anschmiegen wirklich gedeihen. Aber schon in demselben Augenblick schnellte sie wieder zurück.

Er versuchte auch niemals, sich diesen Impuls zunutze zu machen, und rasch wurde das Zwischenspiel durch den Eifer des Lernens erstickt.

Zumeist waren es Sprachen und Mathematik, worin sie seiner Nachhilfe bedurfte, und »Pädagogik« schwebte als etwas Erhabenes und kaum Anzurührendes über sämtlichen Fächern.

Hierin hatte sie sich schon praktisch betätigen müssen und sich immer sehr zaghaft erwiesen, wenn sie vor die Versuchsklasse getreten war.

Am meisten beklagte sie sich über die Schwierigkeiten, die der Religionsunterricht ihr bereitete.

Doch als er den Grund zu wissen verlangte, weigerte sie sich, Auskunft zu geben.

Dies schien umso verwunderlicher, als sie schon lange Wachs war in seiner Hand und kaum je einen Widerspruch wagte.

Darum ließ er ab, in sie zu dringen, und nahm sich vor, einen passenderen Augenblick nicht zu versäumen.

Der kam alsbald.

Eines Abends – in der zweiten Januarwoche war's – da erschien sie ihm in eigentümlicher Weise voreingenommen und zerstreut.

»Was ist? Was hast du wieder?«

»Man hat mich gequält«, erwiderte sie.

»Wer quält dich?«

»Sie drehen einem das Innerste nach außen. Sie stöbern in den heimlichsten Winkeln herum. Rücksichtnehmen – das gibt's nicht für sie.«

»Also wer?«

»Die Lehrer.«

»Und was wollen sie von dir?«

Sie zögerte und druckste. »Wir sollen einen Aufsatz machen. ›Mein Bekenntnis‹ heißt das Thema. Darin soll ich ihnen meine religiösen Überzeugungen zum besten geben. Das kann ich nicht, das will ich nicht. Das kommt mir vor wie Raub an meiner Seele.«

»Weshalb?« beruhigte er. »Wer etwas ist, der muß auch Zeugnis ablegen von dem, was er ist. Alle großen Männer sind solche Bekenner gewesen. Jede Meinung, jede Lehre ist ein Bekenntnis. Auch die meine – müßte es sein.«

»Müßte?« fragte sie verwundert.

»Müßte oder muß – gleichviel«, erwiderte er und würgte die Bitternis hinunter, die in ihm hochstieg.

»Aber alles, was man sich selber kaum eingesteht, was ich selbst Ihnen nicht anvertraut habe, das ist doch nicht dazu da, zu Papier gebracht und womöglich in der Klasse verlesen zu werden.«

»Da hilft man sich eben mit ein paar Phrasen, wie sie in jedem Religionsbuch stehen.«

»Das kann ich auch nicht. Ich mach' keine Phrasen. Dazu ist das alles viel zu heilig.«

»Heilig ist, was man heilig hält!« erwiderte er. » Du bist mir heilig.«

Da griff sie über den Tisch hinüber nach seiner Hand und küßte sie. Er sprang auf, stellte sich neben sie und streichelte ihr Haar.

»Bleiben Sie so, wie Sie sind«, sagte sie, »und sehen Sie ganz wo anders hin. Dann kann ich vielleicht davon reden.«

»Ich warte und höre«, sagte er.

»Also ja«, begann sie, »es steht doch geschrieben: Gott ist die Liebe – – nicht wahr? Und wenn Gott die Liebe ist, dann stammt doch auch jede Liebe von ihm – nicht wahr? … Je inbrünstiger wir lieben, desto mehr gehören wir zu ihm … Nun gibt es aber verschiedene Sorten von Liebe … Sündige Liebe gibt es auch … Wo stammt die her? Vom Teufel? … Das ist Unsinn. Daran glaub' ich nicht … Entweder also – wenn man sündig liebt, dann ist man von Gott abgefallen – und das braucht man nicht – man kann sehr fromm dabei sein … oder die sündige Liebe ist auch ein Teil von seinen Geboten – etwas, was er uns auferlegt – als Prüfung – oder zur Läuterung – oder so. Nicht wahr?«

»Das mag schon sein«, bestätigte er.

»Und deshalb muß man daran arbeiten«, fuhr sie fort, »alle Liebe, die man fühlt, in Menschenliebe zu verwandeln. Denn das ist die höchste … Dann wird man Gott ähnlicher und ruht als Kind in seinem Schoß … Ist das nicht ein sehr beglückender Gedanke … Was? – Fühlen Sie so was nicht auch? Bitte, sagen Sie Ja!«

»In diesem Augenblick fühl' ich's«, erwiderte er in lächelnder Feierlichkeit.

Nun suchte sie doch seinen Blick, den Kopf, auf dem seine Hand noch ruhte, weit zurückgebogen, die Blicke voll leuchtender Ekstase in die seinen grabend.

»Oh, das ist gut«, sagte sie dankbar. »Dann sind wir beide eins in Gott.«

»Eins in Gott!« wiederholte er, jener Abschiedsstunde gedenkend, die ihn einer andern, einer Todgeweihten, in dem gleichen mystischen Bunde zugesellt hatte. Hier aber blühte das junge, heiße Leben ihm entgegen.

Und da küßte er sie doch. Küßte sie in entschlossener Besitzergreifung mitten auf den Mund, denselben Mund, der am Christabend als ein flüchtiger Bote künftigen Heils den seinen nur eben gestreift hatte.

Es war, als ob ein Schlag sie gefällt hätte. Sie kroch, sie sank, sie brach in sich zusammen. Ihr Kopf berührte fast ihre Knie.

»Helene! Komm zu dir! Helene!«

Sie rührte sich nicht.

›Gerade im Gedenken an Herma hättest du es nicht tun dürfen‹, sagte er zu sich.

Da, wie er leise über ihren Scheitel hinstrich, richtete sie sich auf, schlang die Arme um seinen Nacken, und den Kopf an seinem Halse bettend lag sie da wie eine Schlafende – mit tiefen, langen, ihn warm überströmenden Atemzügen.

Es war, als ob eine dauernde qualvolle Spannung sich in seligem Ausruhn gelöst hätte.

Er aber dachte an Herma.

Nie mehr hatte sie von sich hören lassen.

Ob sie in ihrer neuen Heimat geblieben war? Ob sie die Höhen aufgesucht hatte? Auch am Pfeifferlingschen Tische war nie mehr von ihr die Rede gewesen.

Wie hatte sie gesagt?

»Einmal noch werd' ich dir schreiben.«

Und als er gefragt hatte: »Wann?«, war ihre Antwort gewesen:

»Wenn es Zeit ist.«

Eine schmerzhafte Ahnung stieg in ihm auf: ›Bald wird es Zeit sein.‹

›Solange sie auf dieser Erde ist‹, dachte er weiter, ›gehör' ich zu ihr.‹

Statt dessen spielte er mit diesem Kinde.

Doch war es ein Spiel?

»Heilig halten!« – »Würdig sein!« Mit hochtönenden Beteuerungen hatte er nicht gespart – vor ihr nicht und vor sich selber nicht.

Nun hing sie an seinem Halse – und alles ging seinen Weg!

Noch einmal riß er sich zusammen.

»Richte dich auf, Liebling«, sagte er. »Wir müssen an ernste Dinge denken. Wir haben heute noch nichts getan.«

Mit weiten, irren Augen sah sie ihn an.

»Jawohl«, sagte sie gehorsam, »noch haben wir nichts getan.«

Aber aus dem Arbeiten wurde nicht viel.

In süßer Schlaffheit saß sie da und suchte nach einer Stütze für die taumeligen Glieder. Ihr Blick hing an ihm und ging doch nach innen, als fragte, als forschte sie nach Unerforschlichem.

›Eins in Gott!‹ dachte er mit wehem Spotte.

Und dann hieß er sie heimgehen.


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