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Dreiunddreißigstes Kapitel

Es war am ersten Freitag nach Beginn des Semesters.

Die Hammerglocke in der Vorhalle schlug sechs Uhr, als Sieburth in Frack und Claque das Universitätsgebäude betrat.

Am Fuße der Treppe erwartete ihn der Sekretär. Ein knorriger Baubau von berüchtigter Grobheit, wenig beliebt bei Professoren wie bei Studenten, aber von nicht zu unterschätzendem Einfluß. Auch er war im Frack, und der wildbebärtete Kopf steckte tief in dem niedrigen Halskragen, aus dem die weiße Binde wie ein Schifferknoten hervorsah.

»Na kommen Sie man, Herr Professor«, sagte er mit saurem Lächeln. »Das hohe Generalkonzil ist längst versammelt, und ich steh' mir nach Ihnen die Beine in 'n Leib.«

»Ich bin auf sechs Uhr geladen«, erwiderte Sieburth.

»Na ja, ja«, sagte jener, »aber in solchen Fällen kommt man doch 'n bißchen früher.«

Damit schritt er ihm voran die Treppe empor und öffnete die Tür zu dem sogenannten Dozentenzimmer, das im Nachmittagsschatten sich kahl und leer vor den Eintretenden auftat.

»Werden Sie mich anmelden gehen?« fragte Sieburth.

»So rasch laufen die jungen Pferde nich«, erwiderte er. »Wir werden hübsch warten, bis man uns haben will.«

Sieburth hängte den Überzieher an einen der Wandhaken, stellte sich vors Fenster und sah auf das junge Grün hinaus, das spärlich die noch kahlen Zweige umgaukelte.

»Na, nu wären Sie ja mit Gottes Hilfe so weit«, sprach hinter ihm die Stimme des Sekretärs.

» Wie weit?« fragte Sieburth, sich schroff umwendend.

»Nu, daß Sie die Ordentliche Professur haben«, erwiderte jener ein wenig verlegen. »Das is keine Kleinigkeit, wenn die Fakultät einen nich will.«

»Herr Gramatzki«, sagte Sieburth, »ich bin nicht in der Stimmung, mit Ihnen intime Gespräche zu führen.«

»Na, na, man nich gleich so kratzig«, erwiderte jener. »Ich mein's gut mit Ihnen. Ich hab' immer zu Ihnen gestanden, wenn man Sie von hinten her angriff. Außerdem bin ich ein königstreuer Mann und weiß Ihre Haltung zu würdigen. Also bitten Sie mal schön ab, Herr Professor.«

»Zur Abbitte wäre kein Grund«, erwiderte Sieburth, der einsah, daß er übers Ziel hinausgegangen war. »Aber wenn ich einen Freund an Ihnen habe, so soll es mich freuen.«

Und er streckte ihm die Hand entgegen.

»Nu, ob Sie einen Freund an mir haben!« rief er auflachend. »Wie manchen anonymen Brief hab' ich schon untern Tisch fallen lassen! Und jetzt – in Ihrer neuen Stellung – wenn Sie da mal 'n Rat brauchen – ich glaub', ich könnt' Ihnen ganz nützlich sein.«

»Gut – also was habe ich zu tun, wenn der feierliche Actus vorüber ist?«

»Ja, wissen Sie, Herr Professor! Absolut notwendig wär' es vielleicht nicht, weil Sie doch schon etliche Jahre hier sind und die Antrittsformalitäten längst hinter sich haben … Aber – es is ja kein Geheimnis, was ich da sage – da Sie mit den Herren der Fakultät zumeist nicht sehr gut stehen – und ich rate es auch sonst den Herren, die in eine höhere Stellung aufrücken: nehmen Sie sich 'n Landauer und klappern Sie die Runde ab … Ob Sie nu eine Karte oder zwei Karten 'reinschicken, das is Ihre Sache, aber ganz würde ich diese Aufmerksamkeit nicht außer acht lassen.«

Sieburth fühlte etwas wie Übelkeit in sich emporkriechen. Es war eine neue Charakterlosigkeit, die ihm da zugemutet wurde. Aber der Mann hatte wahrscheinlich recht; da ein Weiterexistieren in dieser Umgebung notwendig war, so durfte kein Mittel von der Hand gewiesen werden, ihm menschenmögliche Formen zu geben.

Die Korridortür wurde geöffnet. Ein Kopf erschien in dem Spalt und verschwand so rasch, daß Sieburth nicht erkennen konnte, wem er gehörte.

»Das gilt uns«, sagte der Sekretär und setzte sich in Positur.

Sieburth fühlte ein Herzklopfen erwachen, das ihm widersinnig und beschämend erschien. So gab es also immer noch etwas in ihm, das sich der Welt beugte, die er in Grund und Boden verachtete.

Eine Tür klappte und noch eine Tür. – Weitgestreckt und hell beschienen lag das Senatszimmer vor ihnen – und darinnen an hufeisenförmiger Tafel zwei dunkle Doppelreihen von Menschen, die sich nahe der Fensterwand in einem grauen Querdamm vereinten.

Dort in der Mitte der Ehrenplatz Seiner Magnifizenz.

Und nach ihm hin galt es zu steuern.

Ein Scharren, ein Knarren, ein Poltern. Alles schoß in die Höhe. Ausgerichtet wie die Soldaten standen sie da und starrten ihn an.

Ihm war, als wälze sich eine Woge von Feindseligkeit dickflüssig und ätzend ihm entgegen.

Und mit stelzenden Knien, wie von einer aufgezogenen Feder bewegt, schritt er an dunklen Schultern, an Glatzen und Mähnen vorüber, dem Sessel des Prorektors zu, der ihm erwartend entgegensah.

Ein Jurist, den er kaum kannte. Hoch aufgeschossen und hager. Mit goldener Brille und grauen Bartkoteletten. Im Frack wie er selber, mit der goldenen Amtskette geschmückt, deren Ringe und Knoten herausfordernd leuchteten.

Nach kurzer Verbeugung begann er, auf einen gelben Bogen niederblinzelnd, der vor ihm auf dem Tische lag: »Ich habe die Ehre, eine Allerhöchste Kabinettsorder zu verlesen, auf Grund deren Sie, Herr Kollege, zum Ordentlichen Professor der philosophischen Fakultät in der Königlichen Albertus-Universität ernannt worden sind.«

Und er las. Las ferner den Erlaß des Kultusministeriums, der am soundsovielten durch das Kuratorium den Universitätsbehörden übermittelt worden sei.

Seine Worte tropften eisig durch die eisige Stille.

Mit fest verbissenem Munde hörte Sieburth ihm zu. Da der Sprechende den Blick auf den Bogen gesenkt hielt, brauchte er ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Und er schielte seitwärts die Reihen entlang.

Haß! Haß! Haß! Haß in den Augen, die sich ins Leere bohrten, Haß um die Lippen, die sich verkrampften, genau so wie die seinen es taten, Haß in der Haltung der Köpfe, die hart im Nacken saßen, Köpfe von Empörern und von Empörten.

Wunder auch! War er doch der Unwillkommene, der Aufgehalste, der par Ordre de Mufti zu ihnen Gesellte. Was heute der einen Fakultät begegnete, konnte morgen das Schicksal der drei andern sein; drum hatten sich die Reihen geschlossen in wehrlosem, doch um so rachsüchtigerem Widerstande gegen ihn und seine Berufung.

Daß er ihnen schon damals unerwünscht ins Nest gesetzt worden war, das mochte ihnen heute als Kinderspiel gelten. Die Außerordentlichen zählten nicht mit. Zudem hatte der persönliche Verkehr die Unstimmigkeiten alsbald aus der Welt geschafft, bis dann der Riß gekommen war, der, sich allmählich erweiternd, ihn von den andern getrennt hatte.

Sein Auge suchte nach Pfeifferling. Die Unterschrift hatte er ihm zwar nicht vergeben, aber wissen, ob er zu ihm hielt oder nicht, wollte er doch.

Ja doch, dort saß er! Ein freundlicher Blick hätte viel gut gemacht, aber auch er starrte verkniffen ins Leere, wie alle die andern. Wahrscheinlich war die allgemeine Erbitterung zu solcher Stärke gediehen, daß selbst er es für ratsam hielt, sich dem Strome nicht entgegen zu stemmen.

Für eine Sekunde stieg der Gedanke in Sieburth auf: ›Schmeiß ihnen den Bettel vor die Füße und geh deiner Wege.‹

Aber er verwarf ihn sofort.

Er war am Ziele. Die Welt sollte es wissen. Was später geschehen konnte, vielleicht geschehen mußte, blieb seinem Belieben anheimgegeben. Zaudern würde er nicht, selbst den gewaltsamsten Entschluß in die Tat zu verwandeln.

Nicht umsonst hatte man ihn den »tollen Professor« genannt.

Der Prorektor war mit dem Lesen zu Ende.

Er ließ die Papiere fallen und wandte sich zu einer freien Ansprache dem vor ihm Stehenden entgegen.

Von einer Vereidigung dürfe er Abstand nehmen, da ja der Herr Kollege bereits bei seiner Herbeirufung vereidigt sei. Ihm erwachse nur die Aufgabe, an jenen Schwur zu erinnern, und empfange die abermalige Verpflichtung des Herrn Kollegen, als ob er auch heute geleistet sei.

Sieburth verneigte sich bejahend.

Die Brust des Prorektors hob und senkte sich in ansatznehmendem Atemzuge. Die goldenen Glieder der Kette klirrten ganz leise.

»Und somit, Herr Kollege, habe ich die Ehre, Sie in ein Amt einzuführen, das zu den ehrenvollsten gehört, die das akademische Leben Deutschlands kennt. Es ist der Lehrstuhl Kants, auf dem Sie fortan sitzen werden, und es ist zugleich der Lehrstuhl jenes Mannes« – er wies mit der Hand nach dem an der Längswand hängenden Bilde des großen Hegelianers –, »der den meisten von uns noch Gegenstand der Liebe und der Verehrung war. Wenn ich Sie auffordere, diesen beiden Vorbildern nachzueifern, so gebe ich damit einem Wunsche Ausdruck, dessen Erfüllung Ihr Leben geweiht sein möge.«

›Logisch nicht einwandfrei!‹ dachte Sieburth.

»Ich bitte Sie nunmehr, sich auf dem Platze niederzulassen, der in der Reihe Ihrer Fakultät für Sie bereit ist, und – e – und – e – seien Sie hiermit begrüßt und beglückwünscht.«

Die beiden Hände umkrallten sich. Es fühlte sich an wie Glut der Verbrüderung und war doch nur leerbleibende Form.

Sich kurz verneigend ging er den Weg zurück, den er gekommen war, und hielt Ausschau nach dem ihm verheißenen Sitze.

Niemand half ihm, niemand winkte ihm. Erst der Sekretär, der mit einer Miene dastand, als ob ihm das alles Untertan wäre, mußte eingreifen, damit er sich zu dem Platze hinfand, der ihm fortan von Rechts wegen gehörte.

Drei steife Bücklinge nach rechts, nach links und nach dem summarischen Gegenüber hin – womöglich noch steifer erwidert –, dann war der Empfang beendet.

Die Wand anstarrend saß er da.

Er sah nichts, er hörte nichts, er hatte nur den einen Gedanken: »Wie komm' ich hier wieder hinaus?«

Da fiel sein Blick auf das Bild des großen Hegelianers, der aus seinen Sonnenaugen lächelnd zu ihm herniedersah.

Wie war doch gleich dessen Abschiedswort gewesen? Oft genug hatte er sich's wiederholt: »Philosophieren heißt sterben lernen. Was wären wir Philosophen wohl wert, wenn wir uns nicht einmal auf dieses kleinste aller Kunststücke verstünden?«

Und da kam in befreiendem Aufatmen ein Friede über ihn. Ruhevoll ließ er den Krimskrams gleichgültiger Geschäfte an sich vorübergleiten.

Bis plötzlich ein allgemeines Stühlerücken losbrach und das Aufstehen der ihn Umgebenden verriet, daß die Sitzung geschlossen war.

Nun wäre der Augenblick dagewesen, daß man ihn, den neu Hinzugesellten, mit Gruß und Händedruck willkommen hieß.

Aber während rings um ihn eifrig redende Gruppen sich bildeten, stand er alleingelassen da.

Für eine Sekunde nur. Die Amtsbrüderlichkeit der Nachbarn auf die Probe zu stellen, konnte nur neues Mißgeschick bringen.

Drum floh er rasch zur Tür und verschwand in dem Dozentenzimmer, in dem sein Überzieher noch hing. Dort stellte er sich ans Fenster, wo er vordem gestanden hatte, und wartete, bis der Strom sich verlaufen würde.

Fünf, zehn Minuten vergingen. Die trappelnden Schritte draußen wurden seltener. Auch die Geräusche der Nachzügler verloren sich in der Ferne.

Nun mochte die Zeit gekommen sein.

Da wurde die Tür aufgerissen, und mit der ihm eigenen lärmenden Inbrunst stürmte Pfeifferling auf ihn zu.

»Hier also verkriechen Sie sich, Teuerster? Wie sollen Ihre Freunde Sie da finden? Ich habe gelauert und gelauert! Gelauert hab' ich –«

›– bis kein Zeuge mehr da war‹, ergänzte Sieburth im stillen.

»Endlich nun krieg' ich Sie beim Wickel! Und darf Ihnen sagen – und darf Ihnen sagen –«

»Bemühen Sie sich nicht, Herr Geheimrat«, fiel ihm Sieburth ins Wort. »Ich nehme Ihre Glückwünsche als genossen an. Und das kann ich umso ruhiger, als Ihr gütiger Rat es war, der mir dazu verholfen hat.«

Der alte Trompeter stutzte. Der Vorwurf hatte sein böses Gewissen getroffen. Aber sich dazu zu bekennen lag ihm sehr ferne.

»Nett von Ihnen, daß Sie mir das wenigstens attestieren«, lachte er polternd. »Den Dank, Dame, begehr' ich zwar nicht, aber wenn Sie mal wieder bei meiner Frau vorsprechen wollen, wird auch 'ne Tasse Kaffee und 'ne Zigarre immer für Sie bereit sein.«

Damit machte er, daß er davonkam.

Wie ein Verurteilter schritt Sieburth hinter ihm her – durch den halbdunklen Korridor und die leergewordene Halle …

Am nächsten Morgen erst brachten die Zeitungen die Nachricht von seiner Ernennung. So lange hatte man gezögert, das fatale Ereignis der Öffentlichkeit preiszugeben.

Drei nüchterne Zeilen ohne irgend eine Begrüßung. Aber auch ohne ein Hohnwort. Und das war schon als Glück zu bewerten.

Vor allem galt es, sich darüber schlüssig zu werden, ob die Rundfahrt der Antrittsbesuche ins Werk zu setzen war oder nicht.

Ja – nein? Ja – nein? Man hätte die Knöpfe um Rat fragen müssen.

Aber der Sekretär kannte die Regeln genau. Wenn er der Ansicht war, daß diese Förmlichkeit angebracht, vielleicht selbst geboten war, so mußten Trotz und Ablehnung schweigen.

Also los! Wagen bestellt, Liste gemacht und die Zähne zusammengebissen.

Am Sonntag morgen war eine große Post zu erwarten, denn nun die Ernennung bekannt geworden war, mußten auch Glückwünsche eintreffen.

Als er aber, durch das Klappen der Flurtüre hochgetrieben, das Arbeitszimmer betrat, lag auf der Frühstückstablette ein einsamer Brief.

Das war die Ernte, die die Freundschaften langer sieben Jahre ihm eingebracht hatte.

Mit bitterem Lachen zerriß er den Umschlag.

»In Dankbarkeit und Verehrung Referendar Dr. jur. Fritz Kühne.«

Schon einmal im Leben war er sein »einziger« gewesen und war es jetzt wieder. Wenn nur jener Oktoberabend nicht dazwischen gelegen hätte, an dem auch er gegen ihn aufgestanden war.

Um elf kam der Wagen. Eine Viktoria – blitzblank und geräumig, wie die Corps sie für ihre Prunkaufzüge benutzten.

Zwei Karten hineinschicken – also Familienanschluß begehren – davon war nicht die Rede. Ein Akt kollegialer Höflichkeit – mehr sollte, mehr durfte es nicht sein; alles andere wäre vermessen gewesen.

Ein Halt – ein zweiter – ein dritter.

Immer das gleiche Warten, das gleiche Gemurmel im Innern der Wohnung und schließlich der gleiche Bescheid: »Der Herr Professor ist nicht zu Hause« … »Der Herr Professor lassen bedauern« … »Der Herr Geheimrat sind nicht zu sprechen.«

Und so ging es weiter. Eine Leidensstation folgte der andern.

Hätte er die Vorsicht beachtet, einen Lohndiener mit sich zu nehmen, so wäre durch das bloße Abwerfen der Karte jeder Demütigung die Spitze abgebrochen gewesen. Jetzt hieß es, den Kelch bis auf die Hefe leeren. Denn der Rundfahrt in der Mitte ein Ende zu machen, hätte die Blamage nur noch vergrößert.

Schließlich war bloß einer übrig: Pfeifferling. Den hatte er sich bis zum Schlusse aufgespart.

Aber da gerade bäumte in ihm die Erbitterung sich auf.

»Nach Hause!« rief er dem Kutscher zu und sank ermattet in die Kissen zurück.

Der Lehrstuhl Kants – jetzt hatte er ihn.


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