von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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I

Felicie

(Ein Beispiel für die Liebe in den wohlhabenden Kreisen Frankreichs)

Gelegentlich seines Buches »Über die Liebe« sind dem Verfasser zahlreiche Briefe zugegangen. Einer der interessantesten (von Victor Jacquemont) sei hier wiedergegeben.

Saint Dizier, im Juni 1825

Mein lieber Philosoph!

Ich weiß nicht recht, ob Sie mit »Liebe aus Eitelkeit« die kleine berechnende Eitelkeit der jungen Französin bezeichnen dürfen, die Sie im vergangenen Sommer in Aix-les-Bains in Savoyen kennen gelernt haben, und deren Geschichte ich Ihnen versprochen habe. Denn in jener übrigens ziemlich faden Komödie steckt nicht eine Spur von Liebe. Die Liebe ist sozusagen leidenschaftliche Träumerei, die das Glück der völligen Hingabe überschätzt. Glauben Sie aber nicht etwa, ich hätte Ihr Buch nicht verstanden; ich wende mich lediglich an ein schlecht passendes Wort.

An jeder Spielart der Liebe muß sich eine bestimmte gemeinsame Eigentümlichkeit wiederfinden; im Grunde ist es das Verlangen nach völliger Hingabe. Nun, in der »Liebe aus Eitelkeit« fehlt dieses Kennzeichen.

Wenn man an die tadellose Sprachgenauigkeit der Physik gewöhnt ist, so stößt man sich leicht an der mangelhaften Ausdrucksweise in der Metaphysik.

Frau Felicie Feline ist eine junge Französin von fünfundzwanzig Jahren; sie besitzt prächtige Landgüter und ein köstliches Schloß in Burgund. Sie selbst ist, wie Sie wissen, häßlich, aber von schöner Figur und lymphatisch- nervösem Temperament. Sie ist durchaus nicht dumm, aber sicher auch keine geistige Größe. Im ganzen Leben hat sie keinen starken oder pikanten Gedanken gehabt. Weil sie von einer gebildeten Mutter und in sehr vornehmer Umgebung erzogen worden ist, steckt Methode in ihrem Verstand. Sie plaudert die Aussprüche anderer Leute wortgetreu nach, und wunderbar, genau wie eine eigene Leistung. Dabei heuchelt sie sogar jene feine Verwunderung, die wir über unsere eigenen Einfälle haben. So erscheint sie Leuten, die sie nur selten, oder auch beschränkten Menschen, die sie oft sehen, als reizende und überaus geistreiche Dame.

Für Musik hat sie genau die nämliche Art von Begabung wie für die Plauderei. Mit siebzehn Jahren spielte sie geläufig Klavier und so gut, daß sie hätte Unterricht die Stunde zu acht Franken erteilen können (was sie natürlich nicht tat, da sie sehr reich ist). Wenn sie eine Oper Rossinis gehört hat, vermag sie am anderen Tage die Hälfte daraus auf dem Klavier zu wiederholen. Infolge ihrer musikalischen Beanlagung trägt sie mit einem vollendeten Ausdrucke vor und spielt die schwierigsten Stücke vom Blatt herunter.

Aber gerade wegen dieser spielenden Auffassungsweise versteht sie schwierige Sachen nicht, weder in Büchern, noch in der Musik. Ich bin fest davon überzeugt, Frau Gherardi würde in zwei Monaten die Theorien des Berzelius begriffen haben; Frau Felicie jedoch ist unfähig, die ersten Kapitel von Say oder die Lehre von den Kettenbrüchen zu verstehen. Sie hat in Deutschland einen ganz berühmten Lehrer in der Harmonie gehabt, aber nicht einen Deut davon erfaßt. Sie hat ein paar Stunden bei Redouté genommen und übertrifft in gewisser Hinsicht ihren Lehrer; ihre Rosen sind noch graziöser als die jenes Künstlers. Ich habe beobachtet, wie sie mehrere Jahre lang Freude an ihrer Malerei hatte, aber niemals hat sie sich andere Gemälde angesehen als die in den Kunstausstellungen; selbst als sie das Blumenmalen lernte, und sogar als wir noch die Meisterwerke der italienischen Malerei besaßen,Anmerkung des Übersetzers: Napoleon der Große hat bekanntlich die Meisterwerke der italienischen Malerei in Paris vereinigt. Nach seinem Sturze sind sie größtenteils wieder an die Orte ihrer Herkunft zurückgegeben worden. kam es ihr nie in den Sinn, sie betrachten zu wollen. Sie versteht nichts von der Perspektive in einer Landschaft und nichts vom Helldunkel.

Diese Unfähigkeit des Verstandes, schwere Sachen zu begreifen, ist ein Zug der französischen Frauen; sobald etwas anfängt schwierig zu werden, wird es ihnen langweilig und sie lassen es links liegen.

Aus diesem Grunde wird auch Ihr Buch »Über die Liebe« keinen Erfolg bei den Frauen Frankreichs haben. Sie werden die Anekdoten lesen und die Folgerungen überschlagen und sich über alles überschlagene lustig machen. Ich bin recht höflich, daß ich alles das in futuro sage.

Frau Felicie hat sich mit achtzehn Jahren standesgemäß verheiratet. Sie sah sich mit einem jungen Manne von dreißig Jahren vereint, der ein wenig lymphatisch und sanguinisch, jedenfalls aber nicht gallig und nervös war, dabei gutmütig, sanft, gleichmäßig und sehr dumm. Ich kenne niemanden, dem es so vollständig an Geist fehlt.

Trotzdem hatte er die technische Hochschule mit großem Erfolge besucht; dort habe ich ihn kennen gelernt. In dem Gesellschaftskreise, in dem Felicie aufgewachsen war, hatte man seine Verdienste kräftig herausgestrichen, um dadurch seine Beschränktheit in allem, mit Ausnahme seiner hervorragenden Begabung in der Leitung von Bergwerken und Hütten, zu bemänteln.

Ihr Gatte widmet sich ihr nach besten Kräften, was in diesem Falle wirklich sehr viel war. Aber er hatte es mit einem eiskalten Wesen zu tun, mit dem nichts zu machen war. Jene zärtliche Dankbarkeit, die Gatten selbst gleichgültigen Frauen einzuflößen pflegen, währte bei ihr keine acht Tage.

Bei diesem Zusammenleben merkte sie nur das eine, daß man ihr einen Dummkopf zum Partner gegeben hatte, und was noch viel schlimmer war: dieser Dummköpf machte sich mitunter in der Gesellschaft lächerlich. Sie fand, daß das Vergnügen, einen sehr reichen Mann geheiratet zu haben und häufige Schmeicheleien über die Verdienste ihres Gatten zu ernten, hierdurch reichlich bezahlt sei. Damit begann er bei ihr in Ungnade zu fallen.

Der Gatte, der nicht aus so guter Familie war wie sie, dachte, sie spiele die Prinzessin. Nun wurde er seinerseits zurückhaltend. Doch da er ein außerordentlich beschäftigter und sehr anspruchsloser Mensch war, und weil ihm seine Frau am bequemsten war, versuchte er neben seiner Arbeit und seinen Maschinen ab und zu, ihr ein wenig den Hof zu machen. Das war der Grund, weshalb ihr Mißfallen in Abneigung umschlug, zumal er seine Galanterien vor einem Dritten, mir zum Beispiel, versuchte: so täppisch, gewöhnlich und geschmacklos war er.

Wenn er dergleichen in meiner Gegenwart vor einer anderen Frau gesagt und getan hätte, so hätte ich mir vielleicht einfallen lassen, ihn mit ein paar Ohrfeigen zu unterbrechen. Aber ich wußte, welche nüchterne Seele in Felicie steckte, wie sehr ihr das echte Zartgefühl mangelte. Ich bin so oft über ihre Eitelkeit aufgebracht gewesen, daß ich mich begnügte, sie ein wenig zu bedauern, sobald sie durch ihren Gatten in ihrer Eitelkeit verletzt wurde, und entfernte mich.

Auf diese Weise ging die Ehe einige Jahre hin. Felicie blieb kinderlos.

Solange ihr Gatte in Paris weilte, – und er verbrachte nur sechs Wochen im Sommer in seinen burgundischen Werken, – verkehrte er in der besten Gesellschaft, nahm deren Ton an und vervollkommnete sich bedeutend. Er blieb zwar nach wie vor ungebildet, aber er machte sich doch nicht mehr lächerlich und hatte täglich größere Erfolge in seinem Berufe, die sich an den bedeutenden Besitzerwerbungen, die er nach und nach machte, und nach dem letzten Berichte der Jury der nationalen Industrieausstellung beurteilen lassen.

Infolge der mehrfachen Zurückweisungen seiner Frau bildete sich Herr Feline bona fide ein, etwas in sie verliebt zu sein. Felicie hängte ihm den Brotkorb höher. Ihre Gefallsucht kam in dieser Zeit darin zum Ausdrucke, daß sie ihm öffentlich Liebenswürdigkeiten sagte, unter vier Augen aber Vorwände fand, ihn grausam zu behandeln. Dadurch steigerte sie die Begehrlichkeit ihres Gatten, und wenn sie sich zur Hingabe herabließ, mußte er ihr alle Toilettenrechnungen von Leroy oder Corcelet bezahlen. Dabei fand er ihre sinnlosen Ausgaben noch bescheiden.

Während der ersten zwei oder drei Jahre ihrer Ehe, bis zu ihrem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahre, hatte Felicie ihr Vergnügen allein in der Befriedigung folgender Eitelkeiten gefunden:

Schönere Toiletten zu haben als alle anderen Frauen ihres Kreises,

die besten Diners zu geben,

mehr Schmeicheleien als jene für ihr Klavierspiel einzuernten, für geistreicher als jene zu gelten.

Mit einundzwanzig Jahren begann sie die Gefühlvolle zu spielen. Sie war von einer atheistischen Mutter und in einem Kreise philosophischer Atheisten erzogen worden. Sie war genau einmal in der Kirche gewesen, bei ihrer Trauung, und auch das hatte sie kaum gewollt. Seit sie verheiratet war, las sie alle möglichen Bücher; Rousseau und Frau von Staël fielen ihr in die Hände. Sie geriet ganz in deren Bann, – ein Beweis, wie gefährlich Bücher sind.

Zunächst las sie Rousseaus »Emil«. Danach fühlte sie sich berechtigt, alle jungen Frauen ihrer Bekanntschaft in geistiger Hinsicht recht zu verachten. Wohlgemerkt, sie hatte kein Wort von der Metaphysik des savoyer Vikars verstanden. Rousseaus Sätze sind gut durchgearbeitet, scharfsinnig und sehr schwierig zu behalten. Sie begnügte sich also damit, gelegentlich eine Bemerkung über die Religion fallen zu lassen, um in einer gottlosen Gesellschaft, in der man eher über den König von Siam als über dieses Thema gesprochen hätte, einen Trumpf auszuspielen.

»Corinne« las sie noch am gründlichsten. Die Sprache der Staël ist auf Wirkung berechnet und prägt sich leicht ein. Felicie lernte eine ganze Reihe von Phrasen aus diesem Buche auswendig. Des Abends suchte sie sich in ihrem Salon unter den jungen Herren die beschränkteren aus und sagte ihnen mir nichts dir nichts gewissenhaft ihre Morgenlektion auf. Einige fielen darauf herein, hielten sie für eine leidenschaftliche Natur und schenkten ihr ihre Aufmerksamkeit. Indessen brachte sie das nur bei den gewöhnlichsten und unbedeutendsten Leuten fertig, bei den anderen war sie sich nie ganz sicher, ob sie sich nicht ein wenig über sie lustig machten. Der Gatte, der durch seinen Beruf viel abwesend war und überhaupt nicht viel auf anderer Leute Meinung gab, bemerkte das nicht oder kümmerte sich wenigstens in keiner Weise um solche geistreiche Koketterien.

Felicie las nun die »Neue Heloise« und entdeckte alsbald in ihrem Herzen wahre Schätze von Zärtlichkeit. Dieses Geheimnis vertraute sie ihrer Mutter und einem alten Onkel an, der Vaterstelle bei ihr vertreten hatte. Beide lachten sie aus wie ein Kind. Trotzdem bildete sie sich fest ein, daß man nicht ohne einen Geliebten leben könne, und zwar nicht ohne einen Geliebten von der Art des Saint-Preux.

Unter ihren Bekannten war ein junger Schwede, ein ziemlich wunderlicher Mensch. Von der Universität weg hatte er sich, erst achtzehn Jahre alt, im russischen Feldzuge 1812 mehrfach ausgezeichnet, hatte dann einen hohen Rang im Milizheere seines Vaterlandes bekleidet, und war schließlich nach Amerika gegangen, wo er sechs Monate unter den Indianern gelebt hatte. Er war weder dumm noch gescheit; aber er hatte einen festen Charakter, nicht ohne gewisse hervorragende Züge von Tugend und Größe. Übrigens ist er der symphatischste Mensch, den ich kenne; er hat eine leidlich hübsche Figur und ein einfaches, aber wunderbar ernstes Benehmen. Das genügt, um ihm allgemein Achtung und Ehrenbezeugungen einzutragen.

Felicie sagte sich: »Das ist der Mann, der als mein Geliebter gelten soll. Da er der Kälteste von allen ist, wird seine Leidenschaft der höchste Triumph für mich sein.«

Weilberg, der Schwede, wurde ganz und gar Hausfreund. Im Sommer vor fünf Jahren unternahmen alle drei eine Reise.

Weil er ein außerordentlich stiller, strenger Mann war, und besonders, weil er nicht im geringsten in Felicie verliebt war, so sah er sie, wie sie war, in ihrer vollen Haßlichkeit. Übrigens wußte er bei der Abreise nicht, welche Rolle er spielen sollte. Der Gatte, den ihre Affektiertheit ärgerte, überließ sie, zumal er von dieser Reise, die er seiner Frau zu Gefallen unternahm, auch einigen geschäftlichen Vorteil haben wollte, sobald sie irgendwo ankamen, sich selbst und besichtigte Fabriken, besuchte Hütten und Bergwerke und sagte dabei zu Weilberg: »Gustav, ich übergebe dir meine Frau!«

Weilberg sprach sehr schlecht französisch; er hatte weder Rousseau noch Frau von Staël je gelesen, ein Umstand, den Felicie bewunderte.

Die kleine Frau stellte sich also krank, um ihren Gatten durch Langeweile zu vertreiben und das Mitleid des gutmütigen jungen Mannes zu erregen, mit dem sie sich dauernd allein befand. Um ihn für sich einzunehmen, erzählte sie ihm von ihrer Liebe zu ihrem Manne und von ihrem Herzeleid, daß er ihre Empfindungen so wenig teile. Dieses Klagelied langweilte Weilberg; er hörte aus reiner Höflichkeit zu. Sie glaubte, bereits Erfolg bei ihm zu haben; sie redete von der Sympathie, die zwischen ihnen beiden bestehe. Gustav nahm seinen Hut und machte einen Spaziergang.

Bei seiner Rückkehr warf sie ihm sein Benehmen vor. Sie sagte, er hatte sie beleidigt, indem er ein lediglich wohlwollendes Wort für den Anfang einer Liebeserklärung ausgelegt habe.

Wenn sie bei Nacht reisten, lehnte Felicie ihren Kopf an Gustavs Schulter, was er aus Höflichkeit duldete. Auf diese Weise reisten sie zwei Monate lang, gaben viel Geld aus und langweilten sich immer mehr.

Nach der Heimkehr fing Felicie ein ganz neues Leben an. Wenn es angängig gewesen wäre, Anzeigen zu verschicken, so hätte sie allen ihren Freunden und Bekannten die freudige Mitteilung gemacht, daß sie eine große Leidenschaft für den Schweden Weilberg hege und daß Herr Weilberg ihr Liebhaber sei.

Keine Bälle mehr, keine Toiletten; die früheren Freunde wurden vernachlässigt, die alten Bekannten vor den Kopf gestoßen. Kurz, sie opferte alle ihre Liebhabereien, um den Glauben zu erwecken, daß sie Weilberg innig liebe, diesen Halbwilden, der mit achtzehn Jahren Oberst in Schweden gewesen war, und daß dieser Mensch in sie vernarrt sei.

Am Tage ihrer Rückkehr gibt sie das zunächst ihrer Mutter zu verstehen. Ihrer Überzeugung nach sei diese schuld daran, daß sie mit einem ungeliebten Manne verheiratet sei; nun müsse sie mit allen Mitteln ihre Liebe für den Mann begünstigen, den sie erwählt habe und den sie anbete; sie müsse ihren Gatten überreden, Weilberg unter irgend einem Vorwande in sein Haus aufzunehmen. Wenn sie ihn nicht ohne Unterlaß um sich habe, drohe sie, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen.

Einfältig wie die Mutter ist, glaubt sie das und bringt dem Schwiegersohn ganz vorzüglich bei, Weilberg könne gar nicht wo anders als in seinem Hause wohnen. Karl bittet ihn nun unaufhörlich, die Mutter ist ebenfalls so voll von Höflichkeit und Zuvorkommenheit, daß der arme junge Mann, der nicht weiß, was man von ihm will, und der vor allem vermeiden möchte, unfreundlich gegen so gastfreie Menschen zu sein, nicht nein zu sagen wagt.

Tränen kommen bei Frauen, wie Sie wissen, immer nach Bedarf. Eines Tages bin ich allein bei Felicie; da fängt sie an zu weinen, erfaßt meine Hand und schluchzt: »O, bester Goncelin, Ihre hellsehende Freundschaft hat mein Herz durchschaut. Früher standen Sie sich gut mit Weilberg; seit unserer Reise ist das anders. Sie scheinen ihn zu hassen. (Das schien gar nicht so; ich wußte, woran ich war.) Ach, mein Freund, früher war ich nicht glücklich ... Erst, seitdem ... Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie barbarisch sich Karl auf der Reise benommen hat!... Wenn Sie Gustav besser kennten ... Wenn Sie Gustavs rührende Fürsorge, seine zarten Rücksichten gesehen hätten! ... Konnte ich da widerstehen? ... Wenn Sie wüßten, welche feurige Seele, welche wilden Leidenschaften dieser scheinbar so kalte Mensch birgt! ... Nein, mein Freund, Sie könnten mich nicht verachten! ... Ich fühle es wohl, etwas fehlt mir ... Mein Glück ist nicht rein. Ich weiß wohl, was ich Karl schulde. Aber, mein Freund, ewig auf der einen Seite Gleichgültigkeit und Geringschätzung, auf der anderen Fürsorge und Liebe ... und die unvermeidliche Vertraulichkeit der Reise ... So viel Gefahren! ... Kann ich solcher Liebe widerstehen und obendrein solchem Ungestüm? ...«

Da war also der arme Weilberg, obwohl keusch wie Josef, angeschuldigt, die Frau seines Freundes verführt zu haben. Man mußte es glauben, denn sie sagte es selbst; sie hatte sich dessen vor zwei meiner Bekannten gerühmt und zweifellos noch vor anderen, mir unbekannten Leuten.

Meine Schilderung ist ziemlich wahrheitsgetreu; ich habe mir ihre Ausdrücke genau gemerkt. Ein paar Tage später traf ich jemanden, dem das gleiche Geheimnis anvertraut worden war. Auf meine Bitte, sich genau ihrer Ausdrücke zu entsinnen, wiederholte er mir die nämlichen Worte, die ich zu hören bekommen hatte. Ich mußte lachen.

Nach ihrer Beichte hatte mir Felicie gesagt, indem sie mir die Hand gab, sie rechne auf meine Verschwiegenheit; ich müsse wieder wie früher mit Weilberg verkehren und solle tun, als bemerkte ich nichts. Die wilde Jugend dieses großartigen Mannes ängstige sie. Wenn er sie verließe, fürchte sie immer, ihn nicht wiederzusehen; sie befürchte, er könne sich, durch einen raschen Entschluß getrieben, plötzlich nach Schweden einschiffen. Ich selbst versprach ihr selbstverständlich, daß unsere Unterhaltung mein tiefstes Geheimnis bleiben würde.

Indessen fanden es alle Freunde der Familie niederträchtig, daß dieser armselige Weilberg eine junge Frau verführt hatte, in deren Hause er täglich als Gast verkehrte, deren Gatte ihm tausend Dienste geleistet und die selbst bis dahin sehr rechtschaffen gelebt hatte. Ich machte ihn auf die zweideutige Rolle aufmerksam, die man ihn spielen ließ. Er umarmte mich, dankte mir für meinen Wink und beteuerte, keinen Fuß mehr über die Schwelle jenes Hauses setzen zu wollen. Dabei erzählte er mir, was sich auf der Reise alles zugetragen hatte.

Als Felicie Weilberg, der fast täglich bei ihr zu Tisch war, ein paar Tage entbehren mußte, spielte sie die Verzweifelte. Sie sagte, es sei eine Nichtswürdigkeit ihres Gatten, daß er diesen tugendsamen Mann aus dem Hause gejagt hätte. (Mir und zwei anderen Bekannten hatte sie ja anvertraut, daß dieser tugendsame Mensch sie regelrecht verführt habe, im Moose zu Füßen einer Tanne des Schwarzwaldes, wie das so zu geschehen pflegt.) Sie deutete ferner in verschleierten Worten an, ihre Mutter sei ihr zwar erst gefällig gewesen, habe ihr hinterher aber den tugendhaften Verehrer abspenstig gemacht. Dabei war die gute alte Dame sechzig Jahre alt und seit zwanzig Jahren über alle Liebesgedanken hinaus. Dann bestellte sie sich bei einem geschickten Messerschmied einen Dolch mit Damaszenerklinge und ließ ihn sich eines Tages, als man gerade bei Tisch saß, überbringen. Ich sah, wie sie dafür vierzig Franken bezahlte und ihn vor unseren Augen in ihren Schreibtisch einschloß. Dann brachten zehn Apothekergehilfen jeder eine kleine Flasche Opiumtropfen; diese Fläschchen ergaben insgesamt eine beträchtliche Menge Opium, das sie in ihren Toilettentisch verschloß.

Am nächsten Morgen erklärte sie ihrer Mutter, wenn sie nicht dafür sorge, daß Gustav wiederkäme, würde sie sich mit Opium vergiften und mit einem eigens dazu bestellten Dolche erdolchen.

Die Mutter, die sehr wohl wußte, was sie von Weilbergs Liebe zu halten hatte, suchte ihn auf, da sie einen Skandal befürchtete, und erzählte ihm, ihre Tochter sei verrückt, stelle sich verliebt in ihn und wolle sich ums Leben bringen, falls er nicht wiederkäme. Sie fügte hinzu: »Gehen Sie wieder hin zu ihr; seien Sie recht schroff gegen sie; machen Sie sich ihr verhaßt und kommen Sie dann nicht wieder!« Weilberg war ein guter Mensch; er fühlte Mitleid mit der alten Mutter, die so mit Bitten zu ihm kam, und willigte ein, sich zu dieser ärgerlichen Komödie herzugeben, nur um dem Skandal aus dem Wege zu gehen, den die Mutter befürchtete.

Er ging also wieder hin. Die junge Frau sagte ihm nichts, sie machte ihm nur einige liebenswürdige Vorwürfe wegen seines fünftägigen Fernbleibens. Als sie allein waren, kam es ihr nicht in den Sinn, von Liebe zu reden, in Erinnerung an den bewußten Tag auf der Reise, wo er seinen Hut genommen hatte und fortgelaufen war, als sie ihre Liebeserklärung beginnen wollte.

Weilberg ist sehr musikalisch. Sie verbrachte die Zeit mit Klavierspielen, und da sie wundervoll spielt, blieb Weilberg gern da, um ihr zuzuhören. In Gegenwart von anderen benahm sie sich anders, sie sprach dann von nichts weiter zu ihm als von Liebe, freilich auf eine sehr geschickte Weise. Da er unglücklicherweise nur schlecht französisch versteht, brachte sie es zuwege, allen Anwesenden zu verstehen zu geben, er sei ihr Geliebter, ohne daß er selbst es verstehen konnte.

Alle ihre näheren Freunde durchschauten die Komödie längst; aber die ferner stehenden Bekannten wußten noch nichts davon. Von neuem erörterten sie das unerhörte Benehmen Weilbergs. Dieser zog sich abermals zurück und wollte nicht wieder zu ihr kommen.

Felicie legte sich zu Bett und sagte ihrer Mutter, sie wolle den Hungertod sterben. Sie trank von jetzt ab nur noch Tee, stand zwar zu Tisch auf, aß aber gar nichts. Nachdem sie sechs Tage lang bei dieser Lebensweise verharrt hatte, wurde sie ernstlich krank. Man schickte nach Ärzten. Sie erklärte, daß sie sich vergiftet habe, daß sie von niemand gepflegt werden wolle, und daß alles vergeblich sei. Die Mutter und zwei Freunde waren mit den Ärzten bei ihr. Sie sagte, sie stürbe wegen Weilberg, dessen Herz man ihr entfremdet habe. Schließlich bat sie noch darum, man möge ihrem Gatten, der glücklicherweise von der ganzen Geschichte keine Ahnung hatte, diese traurigen Bekenntnisse ersparen.

Endlich willigte sie ein, Medizin zu nehmen. Man gab ihr ein Brechmittel und sie, die seit sechs Tagen nur von Tee gelebt hatte, gab drei bis vier Pfund Schokolade von sich. Ihre Krankheit, ihre Vergiftung waren nichts als eine tüchtige Verdauungsstörung. Ich hatte das vorher gesagt.

Als sie kein Mittel mehr wußte, ihre Mutter zu rühren und sie zu neuen Schritten zu bewegen, um Weilberg in ihr Haus zurückzubringen, drohte sie, ihrem Manne alles zu beichten. Karl, der seiner Frau aufs Wort glaubte, hätte sie ohne Zweifel augenblicklich verlassen. Da dieser Skandal also möglich war, versuchte die Mutter ihr Heil nochmals beim guten Gustav, und er versprach in der Tat, wiederzukommen. Er und ich verkehrten damals viel miteinander. Wir arbeiteten gemeinsam. Ich war ihm sympathisch und so ziemlich der Franzose, mit dem er am liebsten verkehrte. Wir verbrachten den Tag teilweise zusammen; er unterrichtete mich im Schwedischen, ich ihn in der Geometrie und Differenzialrechnung. Seit kurzem nämlich schwärmte er für Mathematik und ich mußte oft bei unseren Büchern meine alten Schulkenntnisse auskramen. Manchmal griff ich auch zur Violine und, viel geduldiger als Sie, hörte er mir stundenlang willig zu.

Felicie machte mir den Hof, damit ich fortwährend bei ihr sein sollte; sie sah darin ein Mittel, Weilberg heranzuziehen. Als wir eines Tages zusammen bei ihr zu Tisch waren, geriet sie auf den Einfall, Gustavs Liebe vor mir auf die Probe zu stellen. Sie nahm sich ihm gegenüber Vertraulichkeiten heraus, wie man sie nur zwischen ganz intim zusammenlebenden Menschen sieht. Weilberg verstand sie zuerst nicht; da wurde sie derartig deutlich, daß er verstehen mußte. Er sah mich an, lachte und aß ruhig weiter, ohne sich zu rühren. Felicie ersuchte ihn, ihr etwas an ihrem Kleide in Ordnung zu machen. Schroff entgegnete er: »Mein Gott, Sie haben doch eine Kammerjungfer, die Sie ankleiden kann!«

»Sehen Sie,« flüsterte Felicie mir zu, »wie taktvoll er ist. Ich dachte mir's wohl, daß er in Ihrer Gegenwart nicht eine Stecknadel an mein Kleid stecken würde.«

Trotzdem war sie über diese Zurückhaltung und den Takt ihres angeblichen Liebhabers gar nicht so sehr entzückt, wie sie tat. Ich erinnere mich, es war am Ostersonntag. Nach dem Frühstück, als wir nur noch den Tee vor uns stehen hatten, befahl sie dem Diener: »Paul, sagen Sie der Jungfer, daß ich sie nicht mehr brauche. Sie kann die Zeit für sich benutzen und zur Messe gehen.« Wir tranken unseren Tee weiter. Als der Diener hinaus war, setzte sie sich nahe an den Kamin. »Mich friert,« sagte sie, und Weilberg die Hand hinreichend, fügte sie hinzu: »Habe ich nicht Fieber?« – »Wirklich, darauf verstehe ich mich gar nicht,« antwortete Weilberg, »aber hier Goncelin, der auf dem Lande unter seinen Bauern den Arzt macht, der muß über Fieber Bescheid wissen, er wird es Ihnen sagen.«

Ich fühlte ihr den Puls. »Er ist ganz in Ordnung!« sagte ich. – »Das ist sonderbar, mir ist so seltsam zumute. Sehen Sie, jetzt wird mir unwohl. Herr Gustav, machen Sie mir meine Taille auf! Goncelin, gehen Sie, bitte, in meines Mannes Zimmer und holen Sie...« – »Was, bitte?« – »Die Räucheressenz; es ist welche in Pauls Münzenschranke.« – »Ich weiß, wo sie steht,« sagte Weilberg, »ich hole sie! Goncelin wird Ihnen behilflich sein, ich bin sofort zurück.« Und er ging.

Ich machte mir das Vergnügen, ihre Taille aufzuknöpfen. Abgesehen von ihrem Gesichte war sie hübsch, jung, schön gebaut, ihre Haut weich und weiß. Ich legte ihr die Brust bloß; sie hätte sich auch ganz nackt ausziehen lassen. Ich war begnügsam und sagte ihr: »Ihr Herz schlägt sehr ruhig, haben Sie keine Angst, es ist gar nichts.« Sie spielte eine kleine Ohnmacht. Weilberg, der sehr lange fortblieb, trat endlich wieder ein, stellte die Essenz auf den Kamin und machte sich ruhig daran, Biskuits zu essen und seinen Tee auszutrinken. Felicie, die alles das beobachtete, obgleich sie so tat, als ob sie es nicht sähe, hielt es nicht länger aus. Es war, wie ich Gustav sagte: sowohl Puls wie Atmung waren in Ordnung. »Sonderbar,« meinte er, »daß sie dabei einen Ohnmachtsanfall gehabt hat.«

Felicie war wütend und kam nach und nach zu sich. Sie ordnete ihre Kleidung und bat uns, sie allein zu lassen.

Da ihr sehr viel daran lag, in Gustavs Augen ohnmächtig gewesen zu sein, hätte sie mich ganz sicherlich, falls ich eine Lust (die nicht vorhanden war) hätte befriedigen wollen, alles tun lassen, nur um hinterher mein schmähliches Betragen und ihr tiefes Unglück beklagen zu können.

Dabei war sie bis dahin tatsächlich ehrbar und überhaupt völlig gleichgültig für dieses Vergnügen; aber sie hätte sich bestimmt mißbrauchen lassen.

Dadurch, daß Weilberg, den sie stets als leidenschaftlichen Verehrer hingestellt hatte, seine Gleichgültigkeit vor mir offen bekundet hatte, fühlte sich Felicie so tief gedemütigt, daß sie wirklich krank wurde. Weilberg wollte nach dieser lächerlichen Szene nicht mehr zu ihr gehen. Als sie jedoch längere Zeit das Bett hüten mußte, und in Anbetracht dessen, daß er früher so viel in ihrem Hause verkehrt hatte, und weil sein Fernbleiben aufgefallen wäre, erschien er wieder. Dann wurden seine Besuche nach und nach seltener, und erst nach acht Monaten ging er gar nicht mehr hin.

Felicie liebt die Musik sehr. Da sie selbst keine Loge in den Bouffes besaß, hatte sie selten Gelegenheit, hinzugehen. Eines Tages überließen uns Bekannte eine ganze Loge. Sie arrangierte es so, daß Weilberg und ich sie begleiteten, ihr Mann sollte nachkommen und uns dort treffen. Im Grunde ihres Herzens verabscheute sie Weilberg offenbar, sie zwang ihn nur, mit dorthin zu kommen, um sich mit ihm vorn in der Loge zu zeigen. Gustav gab vor, es sei ihm im Theater zu heiß, ging fort und ließ mich mit Felicie allein.

Von diesem Tage an, da Weilberg sie immer wieder derartig Lügen strafte, änderte sie ihr Verhalten und, nachdem sie ein Jahr lang von Weilbergs Liebe und Leidenschaft gesprochen hatte, begann sie nun mit Bemerkungen über seine Unbeständigkeit und den Kummer, den er ihr bereitet habe. Zur selben Zeit erfuhr ich, daß man mich für ihren Liebhaber hielt. Ich ging zu ihr und sagte es ihr mit dem Bemerken, daß ich nicht dafür gelten wollte, ohne den Vorteil davon zu haben. Ich zog sie mit Gewalt auf meine Knie nieder. Ich wußte genau, daß eine Vergewaltigung ihr unangenehm wäre, und sie hatte das Gefühl, daß nicht viel dazu fehlte. Ich sagte ihr deshalb, ich wolle die Nachrede, die von ihr ausginge, bewahrheiten ...

Das war bei Tage, jeden Augenblick konnte irgend jemand in ihr Zimmer kommen; sie hatte eine Höllenangst, beschwor mich, sie in Ruhe zulassen und beteuerte, nie einen anderen als Weilberg lieben zu können. Endlich befreite sie sich aus meinen Armen. Sie klingelte, ein Diener erschien, sie befahl, Feuer nachzulegen, die Vorhänge zu schließen und den Tee zu bringen. Ich ging. Seitdem sind wir fast ganz entzweit. Sie erzählt überall, ich sei ein Stück Verbrecher wie Jago, ich hege seit langem eine tolle Leidenschaft für sie und nur ich hätte ihr ihren Geliebten entfremdet. Sie hat sich sogar erlaubt, ein paar freundschaftlich gehaltene Briefe, die ich ihr vor sechs Jahren geschrieben habe, als ich mit Ihnen in Rom war, als Liebeserklärungen von mir zu zeigen.

Gegenwärtig betätigt sich Felicies Eitelkeit auf ganz neue Weise. Von Weilberg spricht sie nur in sentimentalen Redensarten aus dem dritten Bande von »Corinne«. Sie heuchelt Trauer um eine große Leidenschaft, geht nicht mehr aus und trägt einfache Kleider; nur ihre vorzüglichen Diners gibt sie noch, wozu sie blöde Greise, die ehedem für geistreiche Menschen gegolten haben, und arme Teufel, die nichts zu essen haben, einladet. Schwärmerisch spricht sie vom Lord Byron, von Cabanis, von Bolivar und von Frau von Lafayette. Man beklagt sie in ihrem engen Kreise als sehr unglückliche junge Frau und lobt ihr großes Zartgefühl und ihren Geist. Sie selbst ist mit ihrem Schicksal leidlich zufrieden. Sie hält eben ein bürgerliches Haus von der Sorte, die Sie so verabscheuen.

Habe ich nicht recht gehabt, wenn ich behauptete, daß diese langweilige Erzählung Ihnen zu nichts nützt? Sie ist ganz naturgemäß fad. In der Liebe aus Eitelkeit liegt alles im Wort. Wiedergegebene Worte langweilen, die kleinste Tat wirkt stärker.

Ferner glaube ich, daß Liebe aus Eitelkeit, wie Sie sie meinen, etwas anderes ist. Felicie hat einen seltenen, vielleicht einzigartigen Zug: die Erfüllung ihres weiblichen Berufs ist ihr unangenehm und es lag ihr sehr wenig daran, den Mann, den sie für ihren Liebhaber ausgab, davon zu überzeugen, daß sie ihn wirklich liebe.

Goncelin


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