von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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49. Die Liebe in den Vereinigten Staaten

Eine freie Regierung ist eine Regierung, die ihren Bürgern nichts Böses zufügt, sondern ihnen im Gegenteil Sicherheit und Ruhe gewährt. Trotzdem ist der Weg von diesem Zustande bis zum Glücke noch weit; der Mensch muß es in sich selbst finden, denn nur eine gewöhnliche Seele kann sich im Genusse der Sicherheit und Ruhe völlig glücklich fühlen. In Europa, besonders in Italien, ist man sich darüber nicht recht klar. Da wir an Regierungen gewöhnt sind, die uns Schlimmes antun, erscheint uns die Befreiung davon als das höchste Glück. Wir gleichen in dieser Hinsicht Kranken, die sich unter schrecklichen Leiden abquälen. Das Beispiel Amerikas zeigt den Gegensatz. Dort versieht die Regierung ihr Amt vorzüglich, ohne irgend jemandem zu schaden. Aber als ob das Geschick unsere ganze Philosophie Lügen strafen und irre machen oder vielmehr der Unkenntnis über die Grundlagen der Menschennatur beschuldigen wollte, sehen wir, so fern uns auch bei unseren unglücklichen europäischen Zuständen seit Jahrhunderten jede wirkliche Erfahrung ist, doch ein, daß es den Amerikanern trotz ihrer vorteilhaften Regierung innerlich an etwas fehlt. Man möchte sagen, daß die Quelle des Gefühls bei ihnen versiegt sei. Sie sind gerecht, sie sind vernünftig, aber keineswegs glücklich.

Volney erzählt, daß er einmal auf dem Lande im Hause eines biederen Amerikaners war, eines wohlhabenden und von bereits erwachsenen Kindern umgebenen Mannes, als ein junger Mensch eintrat. »Guten Tag, William,« sagte der Familienvater, »setze dich.« Der Reisende fragte, wer der junge Mann sei. »Mein Zweitältester.« – »Woher kommt er?« – »Aus Canton.« – Die Rückkehr eines Sohnes vom andern Ende der Welt verursachte keine größere Erregung.

Alle Aufmerksamkeit scheint auf die vernünftige Regelung des Lebens und auf die Beseitigung aller Störungen gerichtet zu sein. Ist man endlich so weit, die Frucht so vieler Sorgen und eines so lange bewährten Ordnungssinnes zu pflücken, dann reicht das Leben zum Genuß nicht mehr aus.

Man kann sagen, die Söhne Penns haben nie jenen Vers gelesen, der ihre Geschichte zu sein scheint:

»Et propter vitam vivendi perdere causas.«

Die jungen Leute beiderlei Geschlechts unternehmen im Winter, der wie in Rußland die heitere Zeit des Landes ist, Tag und Nacht Schlittenfahrten miteinander und sind meilenweit unterwegs, lustig und ohne Beaufsichtigung. Aber niemals entsteht Schlimmes dabei.

Es gibt dort einen sozusagen physischen Frohsinn, der mit dem Feuer der Jugend, das heißt mit kaum fünfundzwanzig Jahren, dahin ist, aber keine genußbringenden Leidenschaften. Man ist in den Vereinigten Staaten so sehr an die Vernunft gewöhnt, daß eine Kristallbildung unmöglich ist.

Ich bewundere dieses Glück, aber ich fühle keinen Neid. Es ist wie das Glück einer fremdartigen, untergeordneten Art von Wesen. Von Florida und Mittelamerika vermute ich Besseres.

Meine Ansichten über Nordamerika werden bestärkt durch den völligen Mangel an Künstlern und Schriftstellern. Die Vereinigten Staaten haben uns noch keine Tragödie, kein Gemälde und keine Lebensbeschreibung Washingtons herübergeschickt.


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