von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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15. Aus dem Tagebuche des Liso Visconti

Heute abend habe ich gemerkt, daß gute Musik die Seele in genau dieselbe Stimmung bringt, wie wenn wir die Gegenwart unserer Geliebten genießen, daß sie uns also das offenbar höchste Glück auf Erden gewährt.

Wenn es allen Menschen wie mir geht, dann macht uns nichts für die Liebe empfänglicher als die Musik.

Ich habe schon im vergangenen Jahr in Neapel (1821) die Beobachtung gemacht, daß ausgezeichnete Musik – auch ein gutes Ballett, ich denke an »Othello« und »Die Vestalin«, Balletts von Viganò, – mich an das denken macht, was tagsüber schon der Gegenstand meiner Träumereien war, und daß ich dabei meine besten Einfälle habe. Damals in Neapel hatte mich die Begeisterung für die Befreiung Griechenlands ergriffen. Nun, heute abend kann ich mir nicht verhehlen, daß ich das Unglück habe of being too great an admirer of milady L***.

Die Gewöhnung an Musik mit ihren Träumereien macht für die Liebe empfänglich. Eine zarte, wehmütige Melodie, vorausgesetzt, daß sie nicht zu dramatisch ist und die Phantasie nicht geradezu der Handlung zu folgen zwingt, wirkt durch die Erregung von Liebesgedanken wunderbar auf zärtliche und unglückliche Gemüter ein, so zum Beispiel die Klarinettenwendung zu Beginn des Quartetts im zweiten Aufzuge von Rossinis »Bianca und Falliero« und die Arie der Caporesi in der Mitte dieses Quartetts.

Ein glücklich Liebender ist entzückt von dem berühmten Duett aus Rossinis »Armida«, das die Eifersüchteleien der glücklichen Liebe und die köstlichen Augenblicke nach einer Wiederaussöhnung so trefflich schildert. Die Instrumentalmusik in der Mitte des Duetts, wo Rinaldo fliehen will, die mit staunenswerter Kunst den Kampf der Leidenschaften widerspiegelt, empfindet ein Liebender wie eine physische Einwirkung auf sein Herz, geradezu wie eine wirkliche Erschütterung, Meine eigenen Gefühle wage ich gar nicht zu bekennen; Nordländer würden mich für verrückt halten.


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