von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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17. Kapitel

Im Theater macht man an beliebten Schauspielern eine ähnliche Beobachtung: die Zuschauer sehen nicht mehr ihre wirkliche Schönheit oder Häßlichkeit. Lekain, der mager und auffällig häßlich war, wußte in hohem Maße die Leidenschaften zu entfachen, ebenso Garrick. Es gibt verschiedene Gründe dafür; der hauptsächlichste ist der, daß man die wirklichen Züge und Bewegungen der Schauspieler nicht mehr sieht, sondern nur die Schönheit, die ihnen die Phantasie gewohnheitsmäßig verleiht, in dankbarer Erinnerung an alle schon früher gewählten Genüsse. So reizt uns schon das Gesicht eines bekannten Komikers zum Lachen, sobald er nur die Bühne betritt.

Ein junges Mädchen, das zum ersten Male ins Théâtre français geführt wurde, mochte allerdings während der ersten Szenen eine gewisse Abscheu vor Lekain empfinden. Bald aber brachte er es zum Weinen und zum Zittern. Anfangs wirkte wohl seine Häßlichkeit ein wenig störend, doch sehr bald wurde dieser Eindruck durch die allgemeine Begeisterung und den für ein junges Herz erschütternden Eindruck verscheucht.Gerade dieser nervösen Sympathie möchte ich die wunderbare und unerklärliche Wirkung der Modemusik zuschreiben. (Dresden, Rossini, 1821.) Wenn sie nicht mehr Mode ist, wird sie deshalb nicht schlechter, aber sie macht keinen Eindruck mehr auf die leichtentflammten Herzen der Jugend. Vielleicht gefiel sie nur, weil sie die jugendliche Begeisterung erregte.

Frau von Sévigné (Brief 202 vom 6. Mai 1672) schreibt ihrer Tochter: »Lully hat mit der königlichen Kapelle das Höchste erreicht. Dieses schöne Miserere enthält ein Libera, bei dem aller Augen tränenfeucht waren...« Man kann ebensowenig an der Wahrheit dieses Eindrucks zweifeln, als Frau von Sévigné guten Geschmack abstreiten. Die Musik Lullys, die sie entzückte, würde heutzutage abstoßen. Damals regte sie die Kristallbildung an, heute nimmermehr.

Nichts blieb von seiner Häßlichkeit übrig als ihr Ruf, und kaum dieser, denn man hörte Frauen enthusiastisch über Lekain ausrufen: »Wie schön ist er!«

Vergessen wir nicht, daß die Schönheit der Ausdruck des Charakters ist oder, mit anderen Worten, der innerlichen Eigenschaften, und daß sie infolgedessen leidenschaftslos ist. Wir bedürfen aber der Leidenschaft. Die Schönheit vermag uns nur Vermutungen über den Wert einer Frau einzugeben, am ersten die, daß sie kaltherzig sei. Dagegen ist das Antlitz einer Geliebten, das durch Blatternarben verunziert wird, holde Wirklichkeit, die alle Vermutungen überflüssig macht.


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