von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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20. Von der ersten Begegnung

Ein phantasiereiches Gemüt ist feinfühlig und mißtrauisch, selbst wenn es sehr naiv ist. Es ist vielleicht mißtrauisch, ohne es selbst zu wissen. Es hat so viele Enttäuschungen im Leben gefunden. Darum beleidigt bei der Vorstellung eines Menschen alles Vorbereitete und Feierliche die Phantasie und verhindert die Möglichkeit der Kristallbildung. Dagegen triumphiert die Liebe, wenn sich zwei Menschen zum ersten Male unter romantischen Umständen sehen. Nichts ist einfacher. Die Verwunderung, die uns noch lange an etwas Außergewöhnliches denken läßt, liefert schon die Hälfte der für die Kristallbildung erforderlichen Gehirntätigkeit.

Zur Erläuterung will ich den Anfang von Seraphines Liebschaften (Gil Blas, II, 142) anführen. Don Fernando erzählt von seiner Flucht, als er von den Häschern der Inquisition verfolgt wurde:

»Nachdem ich in völliger Dunkelheit und bei unaufhörlich strömendem Regen mehrere Hallen durcheilt hatte, geriet ich an einen Saal, dessen Tür offen stand. Ich trat ein und bemerkte, nachdem ich all die Pracht angestaunt hatte, an der einen Seite eine nur leicht angelehnte Tür. Ich öffnete sie und sah eine lange Flucht von Gemächern, von denen nur das letzte erleuchtet war. Was soll ich tun? fragte ich mich selbst. Ich konnte meiner Neugier nicht widerstehen, ging vorwärts, durchschritt alle Zimmer und betrat das erleuchtete. Eine Kerze brannte in einem goldenen Leuchter auf einem Marmortische .... Meine Blicke fanden ein Bett, dessen Vorhänge der Hitze wegen nur halb zugezogen waren. Darin lag etwas, das meine ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm: eine junge Frau, die trotz des heftigen Gewitters draußen im tiefsten Schlummer lag .... Ich näherte mich ihr, ... ich war wie erstarrt, ... und während ich mich an ihrem herrlichen Anblick weidete, erwachte sie. Man stelle sich ihr Erstaunen vor, in ihrem Schlafzimmer mitten in der Nacht einen fremden Mann zu erblicken. Sie zitterte vor mir und stieß einen Schrei aus. Ich gab mir die größte Mühe, sie zu beruhigen, sank auf die Knie und sagte zu ihr: »Gnädige Frau, fürchten Sie nichts!« ... Sie rief nach ihren Kammerfrauen .... Durch das Erscheinen einer kleinen Zofe etwas beherzter geworden, fragte sie mich in stolzem Tone, wer ich wäre ....«

Das ist eine erste Begegnung, die man nicht so leicht wieder vergißt. Wie töricht ist im Gegensatze hierzu die steife und rührselige Art, mit der man nach unseren heutigen Sitten einem jungen Mädchen seinen »Zukünftigen« vorstellt. Das ist eine von der Gesellschaft gebilligte Prostitution, eine Verletzung des Schamgefühls.

»Heute nachmittag, am 17. Februar 1790,« schreibt Chamfort (IV, 155), »habe ich einer sogenannten Familienzeremonie beigewohnt, das heißt, ehrbare und angesehene Leute aus achtbarem Gesellschaftskreise wünschten Fräulein von Marille, einem klugen und tugendhaften jungen Mädchen, Glück, weil es den Vorzug hat, die Gattin eines Herrn R*** zu werden, eines kränklichen, unausstehlichen, unhöflichen und verblödeten, aber reichen alten Mannes. Heute bei der Unterzeichnung des Ehekontrakts haben sie sich zum dritten Male gesehen.

»Nichts kennzeichnet die Ehrlosigkeit eines Jahrhunderts deutlicher als derartige Veranlassungen zu Glückwünschen, als die Lächerlichkeit einer solchen Feier und hinterher die prüde Grausamkeit und die ungeheure Verachtung, mit der dieselbe Gesellschaft eine auf diese Weise verheiratete, liebebedürftige, arme junge Frau bei der geringsten Unvorsichtigkeit verurteilt.«

Jede Zeremonie ist an sich unnatürlich und auf irgend einen Vorteil berechnet; die Hauptsache dabei ist das standesgemäße Auftreten. Darum ist sie eine Feindin der Phantasie. Diese kommt höchstens zur Geltung, indem sie, dem Zwecke der Zeremonie entgegen, das Lächerliche an ihr zu entdecken sucht. Daraus erklärt sich auch die magische Wirkung der geringsten boshaften Bemerkung. Ein junges, in seiner Schamhaftigkeit und Schüchternheit befangenes Mädchen kann während der feierlichen Vorstellung des Zukünftigen nichts anderes tun, als an die ihm zugeteilte Rolle denken. Das ist das sicherste Mittel, die Phantasie zu töten.

Es ist viel mehr gegen das Schamgefühl, wenn ein Mädchen mit einem Manne zu Bett geht, den es nur zweimal gesehen hat, nachdem es in der Kirche ein paar unverstandene Formeln angehört hat, als daß es sich wider Willen einem Manne hingibt, den es seit zwei Jahren anbetet. Aber ich sage da Dinge, die niemand versteht.

Diese Schamlosigkeit ist die fruchtbare Quelle der Verworfenheit und des Unglücks unserer modernen Ehen. Sie nimmt dem jungen Mädchen vor der Ehe jede Freiheit und in der Ehe das Recht der Scheidung, wenn es sich getäuscht hat, oder richtiger, wenn es durch die aufgezwungene Wahl getäuscht worden ist. Blicken wir einmal nach Deutschland, dem Lande der glücklichen Ehen, wo eben eine Prinzessin, die Herzogin zu Sa***, ehrsam zum vierten Male heiratet und nicht verfehlt, zu dieser Hochzeit alle drei früheren Gatten einzuladen, mit denen sie auf freundschaftlichem Fuße steht. Welcher Gegensatz!

Eine einzige Scheidung, die einen Ehemann für seine Tyrannei bestraft, verhindert tausend schlechte Ehen. Scherzhaft ist es, daß in Rom die meisten getrennten Ehen zu finden sind.

Die Liebe sucht am Manne einen Gesichtsausdruck, der auf den ersten Blick zur Achtung und Anteilnahme zwingt.


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