von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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47. In England

Ich habe in letzter Zeit viel mit den Tänzerinnen vom Theater del Sol in Valencia verkehrt. Man versichert mir, verschiedene unter ihnen seien sehr keusch, weil nämlich ihre Beschäftigung zu ermüdend ist. Viganò läßt sie das Ballett in der »Jüdin von Toledo« alle Tage von zehn Uhr vormittags bis vier Uhr nachmittags und von Mitternacht bis drei Uhr morgens proben. Außerdem müssen sie alle Abende zweimal tanzen.

Das hat mich an Rousseau erinnert, der Emil viel zu gehen empfiehlt. Als ich heute um Mitternacht mit den kleinen Tänzerinnen in der Frische am Meeresstrand einen Spaziergang machte, kam mir in den Sinn, wie unbekannt dieser überirdische Genuß der frischen Seebrise unter dem Himmel von Valencia beim Anblick der schimmernden, hier so nahen Sterne in unserem traurigen, nebligen Norden ist. Er allein lohnt schon eine Reise von vielen hundert Meilen, er verhindert durch die Fülle der Empfindungen das Denken. Mir fiel ein, daß die Enthaltsamkeit meiner kleinen Tänzerinnen sehr gut erklärt, warum der männliche Stolz in England den Weg des Trunkes geht, um Haremssitten inmitten eines Kulturvolles langsam wieder einzuführen. Man weiß, daß manche junge Engländerin trotz ihrer Schönheit und ihres reizenden Gesichtsausdruckes in geistiger Hinsicht recht zu wünschen übrig läßt. Trotz der Freiheit auf dieser Insel und der bewundernswerten Eigenart des Volkscharakters fehlt es den Engländerinnen an anregenden und ursprünglichen Gedanken. Oft haben sie nichts Bemerkenswertes als die Verschrobenheit ihres Zartgefühls. Das ist leicht erklärlich; in England ist die Schamhaftigkeit der Frauen der Stolz ihrer Ehemänner. Aber so unterwürfig eine Sklavin auch sein mag, ihre Gesellschaft wird doch bald zur Last. Daher kommt für die Männer die Notwendigkeit, sich allabendlich stumpfsinnig zu betrinken, statt wie in Italien die Abende mit der Geliebten zu verbringen. In England unternehmen reiche Leute, die sich zu Hause langweilen, unter dem Vorwande einer notwendigen Leibesübung einen vier- bis fünfstündigen Marsch, als ob der Mensch auf die Welt gekommen wäre, um zu laufen. Sie verbrauchen so ihre Nervenkraft mit den Beinen, statt mit dem Herzen. Bei alledem wagen sie von weiblichem Zartgefühl zu sprechen und Spanien und Italien gering zu schätzen.

Niemand hingegen ist beschäftigungsloser als die jungen Italiener. Alle Bewegung, die ihre Empfindlichkeit beeinträchtigen würde, ist ihnen unangenehm. Höchstens machen sie von Zeit zu Zeit einen halbstündigen Spaziergang, weil er ihrer Gesundheit dienlich ist. Was die Frauen anbetrifft, so läuft eine Römerin in einem ganzen Jahr weniger als eine junge Miß in einer Woche.

Mir scheint, daß der Stolz des englischen Ehemannes die Eitelkeit seiner armen Frau sehr geschickt auf die Spitze treibt. Er redet ihr vor allem ein, daß man nie gewöhnlich sein darf, und die Mütter, die ihre Töchter daraufhin zustutzen, einen Gatten zu finden, haben diesen Gedanken gut verstanden. Deshalb ist auch die Mode im vernünftigen England viel geschmackloser und herrischer als im leichtfertigen Frankreich. In England ist sie eine Pflicht, in Paris ein Genuß. Die Ehemänner gestatten ihren Frauen gern diese aristokratische Narrheit als Entschädigung für den unendlichen Stumpfsinn, den sie ihnen auferlegen.

Vorzüglich finde ich in den einst berühmten Romanen der Miß Burney die Schilderung der gesellschaftlichen Zustände unter den englischen Frauen, wie sie der wortkarge Dünkel der Männer verschuldet hat. Da es gewöhnlich ist, um ein Glas Wasser zu bitten, wenn man durstig ist, so verdursten die Heldinnen der Miß Burney lieber. Um das Gewöhnliche zu meiden, fällt man in die schauderhafteste Ziererei.

Ich vergleiche die Vorsicht eines jungen Engländers von zwanzig Jahren mit dem tiefen Mißtrauen eines gleichalterigen Italieners. Der Italiener wird dazu gezwungen, um sich persönlich zu sichern, er legt aber sein Mißtrauen ab oder vergißt es wenigstens, sobald er vertraut wird, während sich Vorsicht und Hochmut beim jungen Engländer gerade inmitten der augenscheinlich zärtlichsten Gesellschaft verdoppeln.

Wohlgemerkt zwingt das Los des Silvio Pellico und hundert anderer den Italiener zum Mißtrauen, während die Vorsicht des jungen Engländers nur durch die übertriebene und krankhafte Empfindlichkeit seiner Eitelkeit verursacht wird. Der Franzose, der in seiner Denkweise jederzeit verbindlich ist, sagt seiner Geliebten alles. Das ist eine Gewohnheit bei ihm, ohne die er nicht ungezwungen wäre, und er weiß, daß es ohne Ungezwungenheit keine Anmut gibt.

Nur mit Schmerz und mit Tränen im Auge habe ich gewagt, das Vorstehende niederzuschreiben. Da ich aber auch einem Könige nicht schmeicheln würde, warum sollte ich da von einem Lande nicht sagen, was ich denke, wenn es auch of course vielleicht recht ungereimt ist, weil ich gerade diesem Lande das Leben der liebenswürdigsten Frau danke, die ich kennen gelernt habe?

Mit Befriedigung will ich hinzufügen, daß unter dieser Art von Sitten und unter so vielen Engländerinnen, die das geistige Opfer des männlichen Dünkels sind, doch eine ausgesprochene Originalität lebt, daß eine vornehme Familie, die über diese trübselige Beschränktheit erhaben ist, bezaubernde Charaktere hervorzubringen vermag. Aber wie unbezeichnend ist doch das Wort »bezaubernd« trotz seines Ursprungs, um das wiederzugeben, was ich damit ausdrücken möchte. Die sanfte Imogen und die holde Ophelia haben sicherlich in England lebendige Urbilder; aber diese Wesen genießen durchaus nicht die hohe Verehrung, die der »fashionablen« Engländerin einmütig gezollt wird, deren Bestimmung es ist, allen Anforderungen des Herkommens voll zu entsprechen und einem Gatten den Genuß des krankhaftesten aristokratischen Dünkels und eines sterbenslangweiligen Glückes zu gewähren.Siehe Richardsons Romane. Die Sitten der Familie Harlowe in »Clarissa« sind mit einigen der Neuzeit entsprechenden Änderungen in England etwas Alltägliches; die Bedienten haben dort mehr Freiheit als die Herrschaft.

In der langen Flucht von fünfzehn bis zwanzig kühlen und lauschigen Gemächern, in denen die italienischen Damen nichtstuend ihr Dasein verträumen, lauschen sie den halben Tag lang den Worten der Liebe und der Musik. Abends im Theater im Dunkel der Logen hören sie wiederum die Sprache der Musik und der Liebe.

So ist neben dem Klima die Lebensweise in Spanien und Italien der Musik und der Liebe ebenso günstig, wie sie ihnen in England feindlich ist.

Ich tadle und lobe nicht, ich beobachte.


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