von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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Einleitung

Viel bedauerlicher als die von Arthur Chuquet vermißte, bei einem so subtilen Thema unmögliche Vollständigkeit hinsichtlich etlicher Abarten der Liebe ist es, daß »der scharfe Darsteller der Zustände der Renaissancezeit«, – so wird Stendhal von Jacob Nurckhardt in der »Kultur der Renaissance in Italien« (II, 179) genannt, – unterlassen hat, die Liebe und die vergeistigte Galanterie der Italiener jener Epoche und die Theorie der vornehmen Liebschaft etwa aus dem Cortigiano oder den Asolanen und Briefen des Pietro Vembo oder verwandten Quellen im klaren Spiegel seines Geistes wiederzugeben.

Einem Punkt der zu Anfang dieser Einleitung angeführten Worte Stendhals gebührt noch eine Erläuterung. Er hat uns da das Unverständliche einiger Stellen selbst eingestanden. In einer (fortgelassenen) Anmerkung sagt er von seinem Buche: »Man muß beim Lesen den Bleistift in die Hand nehmen und das Fehlende zwischen die Zeilen schreiben.« Der Hauptfaktor dieser Unklarheiten ist an anderer Stelle, in den »Bekenntnissen eines Egotisten«, dargelegt worden. Stendhal hat – gleich seinem Geistesbruder Nietzsche – eine eigentümliche Neigung, seine Person, sein Leben, seine Werte und Gedanken hinter erdichtete Namen und Figuren zu verstecken, teils aus reinem Mutwillen, teils aus einem gewissen Schamgefühl heraus, um seine intimsten Erlebnisse und aufrichtigsten Bekenntnisse nicht dem ersten besten preiszugeben. Mehr als in seinen anderen Büchern kommt dieser Hang in De l'Amor zum Ausdruck. »Dieses ganze Buch«, heißt es in einer (fortgelassenen) Anmerkung, »ist eine freie Übersetzung nach dem italienischen Manuskript des Lisio Visconti, eines jungen Mannes von höchster Distinktion, der soeben in seiner Vaterstadt Volterra gestorben ist und dem Übersetzer am Tage seines plötzlichen Todes gestattet hat, den von ihm verfaßten Essay über die Liebe zu veröffentlichen, vorausgesetzt, daß es ihm gelänge, ihn in anständige Form zu bringen. Castel-Fiorentino, den 10. Juni 1819.« Dieser Lisio Visconti ist eine Mystifikation, hinter der sich Beyles eigene Person verbirgt; der Name hat wohl einen absichtlichen Anklang an den Mädchennamen der Generalin Dembowska (Mathilde Viscontini). Mathilde selbst trägt in De l'Amour den Namen Leonore. Leonores Freundin Alviza ist in Wirklichkeit Mathildes Cousine und Freundin, die reiche Frau Traversi, die übrigens auch der intriganten Marchesa Raversi in der »Kartause von Parma« als Modell gedient hat. Es finden sich auch in verschiedenen Anmerkungen angebliche Worte jenes Lisio zitiert, in einem Fall mit dem launigen Zusatz: »Hier verliert sich der arme Lisio in den Wolken,« und um die Verwirrung zu vollenden, macht Stendhal auch noch Auszüge aus den angeblichen Memoiren seines »verstorbenen Freundes, des Barons von Bottmer«, sowie aus dem Tagebuche eines anderen ebenfalls toten Freundes namens Salviati. Man darf wohl auch hinter diesen beiden Masken Beyle selbst suchen. Lisio bekommt ferner einen Freund del Rosso zugeschrieben, und daneben treten noch andere Proteusgestalten auf, wie Alberic, Lord Mortimer, Graf Delfante, Kapitän Trab, der Hauptmann von Wesel u. a. Alle diese übermütigen oder verschämten Maskeraden sind in der vorliegenden Übertragung teilweise unterdrückt, teilweise ein wenig aufgehellt worden. Sie wirken auf einen Leser, der nicht gerade ein genauer Kenner von Beyles Leben ist, nur störend, und selbst der französische TextAußer bei sehr seltenen Erstausgabe von 1822 und der Pseudoausgabe von 1833 (Bohaire, der neue Inhaber der Firma Mongie, hat den Rest der Auslage mit neuen Titelblättern versehen) gibt es folgende Ausgaben: 1. Stendhal (Henri Beyle). De l' Amour. Avec une étude sur Stendhal par Paul Limayrac. Paris, Eugène Didier, 1853. – 2.De l'Amour par Stendhal (Henri Beyle). Seule édition complète, augmentée de préfaces et de fregments entièrement inédits. Paris, Michel Lévy frères, 1853. Mehrere Auflagen nach den alten Platten. Später: Paris, Calmann-Lévy (Preis 3 Frcs., später auf schlechterem Papier: Preis 1 Frc.). – 3. Physiologie de l'Amour par de Stendhal. Illustrée (25 Vignettes) par Bertall. Paris, Barba (1854). – 4. Stendhal. Physiologie de l'Amour. Paris, E. Dentu, 1886. (Preis 1 Fr.) – Im Buchhandel ist zurzeit nur noch die Einfrankausgabe von Calmann-Lévy zu haben. – zumal in der lieblosen Verfassung, in der die Firma Calmann-Lévy in Paris die Oeuvres complètes de Stendhal immer noch zu bieten wagt – bedarf zweifellos kundiger Erläuterungen. Ein solcher Kommentar möchte die vorliegende deutsche Ausgabe über ihre eigentliche Aufgabe hinaus sein. Es ist in ihr überall angestrebt worden, die sibyllinische Sprache des Originals indem von Stendhal gewollten Sinne klar wiederzugeben. Die Übertragung selbst schließt sich an den Text der französischen Erstausgabe an. Von den Anhängen, die erst 1853 aus Beyles Nachlaß in die neueren französischen Ausgaben aufgenommen worden sind, ist Ernestine ou le naissance de l'amour als entbehrlich weggelassen worden. Neu hinzugekommen ist aus Beyles Nachlasse ein Romanfragment, das, weniger literarisch als vielmehr psychologisch interessant, Beyles Beziehungen zu Mathilde beleuchtet. Die zahlreichen Fußnoten des Originals sind hinter den Text gesetzt worden, einige Literatur-Verweise, die an ihrer eigentlichen Stelle mit dem Text nur in ganz loser Verbindung stehen, sind in der Anmerkung 86 übersichtlicher vereinigt worden.

Schließlich hat Stendhal über sein Buch eine Flut von Daten und Ortsangaben ausgeschüttet. Bald heißt es am Kopf eines Kapitels: »In einem kleinen Hafen, dessen Namen ich nicht kenne, bei Perpignan, am 25. Februar 1822,« ein andermal mitten im Text: »München, 1820,« dann wiederum: »Cassel, 1808, – Dresden, 1818, – Auf einem Hoffeste in den Tuilerien, 1811, – Auf dem Gardasee, 1811, – in Giat, 1812, – in Orscha, 13. August 1812, – Wilna, 1812, – Königsberg, 1812, – Loreto, am 11. September 1811, – Berlin, 1807, – Bologna, am 18. April, 2 Uhr morgens, – Modena, 1820, – Znaim, 1816, – London, den 20. November 1821, – Träumereien auf den Borromeïschen Inseln, – Posen, 1807, – Neapel, 1821, – Venedig, 1810,« usw. usw. Wenn man alle diese Angaben nachprüft, findet man, daß sie mit Beyles tatsächlichem Leben häufig in Widerspruch stehen. Wohl hat er alle die angeführten Orte ein oder viele Male in seinem Leben besucht, zumeist aber nicht an den willkürlich angegebenen Daten. So war er, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, in Dresden nicht im Jahre 1818, sondern mehrere Wochen des Jahres 1813, ferner in Orscha sicherlich nicht am 13. August 1812, sondern erst auf dem Rückmarsch von Moskau im November desselben Jahres (vgl. Bd. V dieser Ausgabe, S. 136). Es macht den Anschein, als habe Stendhal mit solchen Angaben dokumentieren wollen, daß sein – anonymes – Buch nicht die Arbeit irgend eines theoretisierenden Stubenhockers in Paris oder gar irgend einem Winkel der Provinz sei, sondern Stücke aus dem lebensfrischen Tagebuche eines weltmännischen Europäers. Heute, wo seinen Lesern sein vielbewegtes Wanderleben wohlbekannt ist, bedarf es natürlich jenes Mittels nicht mehr. Somit muß man über diese überflüssig gewordenen Zutaten hinwegsehen, ohne ihm wie einer seiner neueren französischen Biographen pedantische Vorwürfe zu machen.

Am 2. September 1806
Arthur Schurig


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