von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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2. Die Entstehung der Liebe

Die Liebe entsteht, indem ein Weib in uns

1. Bewunderung erregt,

2. Gedanken, wie: welche Lust, es zu küssen und von ihm geküßt zu werden,

3. Hoffnung.

Wir suchen nach Vorzügen. In dieser Zeit sollte sich ein Weib hingeben; dann wäre der sinnliche Genuß der denkbar höchste. Selbst bei sehr spröden Frauen glühen im Augenblicke der Erwartung die Augen. Ihre Leidenschaft ist so mächtig und ihre Sinnlichkeit so erregt, daß sie sich an auffälligen Zeichen verraten.

4. Die Liebe ist entstanden.

Liebe ist die Freude, ein liebenswertes und liebendes Wesen mit allen Sinnen und in nächster Nähe zu sehen, zu berühren und zu fühlen.

5. Es beginnt die erste Kristallbildung.

Wir haben Gefallen daran, eine Frau, deren Liebe wir sicher sind, mit tausend Vorzügen auszuschmücken und uns unser Glück selbstgefällig bis in alle Einzelheiten auszumalen. Mit anderen Worten, wir überschätzen ein kostbares Geschenk, das uns der Himmel gerade in den Schoß geworfen hat und das uns ganz fremd ist, und betrachten es als unser sicheres Eigentum.

Beobachten wir einmal, was innerhalb von vierundzwanzig Stunden im Kopf und Herzen eines Liebenden vorgeht.

Wenn wir in den Salzbergwerken bei Salzburg in die Tiefe eines verlassenen Schachtes einen entblätterten Zweig werfen und ihn nach einigen Monaten wieder hervorziehen, so ist er über und über mit glitzernden Kristallen bedeckt. Selbst die kleinsten Ästchen, die kaum größer sind als die Krallen einer Meise, sind mit unzähligen hellfunkelnden Diamanten besät, so daß man den kahlen Zweig nicht wiedererkennt.

In diesem Sinne nenne ich Kristallbildung die schöpferische Tätigkeit unseres Geistes, der bei jeder neuen Betrachtung der Geliebten immer neue Vorzüge an ihr entdeckt.

Zum Beispiel erzählt ein Vielgereister von der Frische der Orangenhaine am Golf von Genua während der Glut des Sommers: welche Wonne, denken wir, diese Kühle mit der Geliebten zu genießen!

Oder einer unserer Freunde bricht auf der Jagd einen Arm: welche Seligkeit, sich der Pflege einer geliebten Frau zu überlassen. Immer mit ihr zusammen zu sein, ungehindert ihre Liebe vor Augen zu haben, das muß doch beinahe dazu verleiten, den Schmerz zu segnen. Und man kommt vom Krankenlager des Freundes zurück, ohne mehr an der engelhaften Güte der Geliebten zu zweifeln. Mit einem Worte, der bloße Gedanke an eine Vollkommenheit genügt, sie an dem geliebten Wesen alsbald zu erblicken.

Diese wundersame Erscheinung, die ich also Kristallbildung nennen will, hat ihre Begründung in der Natur, die uns ebenso die Sehnsucht nach Genuß eingibt, wie sie das Blut durch unsere Adern kreisen läßt, in dem Gefühl, daß sich der Genuß mit der Vollkommenheit der Geliebten steigert, und in dem Gedanken: »Sie ist mein.« Ein Wilder hat keine Zeit, zu dieser Verfeinerung zu kommen. Er genießt, aber seine Gedanken folgen bereits dem Damhirsche, der in den Wald flieht und mit dessen Fleisch er wieder neue Kräfte gewinnen muß, um nicht unter der Axt seines Feindes zu fallen.

Das andere Extrem der Kultur bildet ohne Zweifel die feinfühlige Frau, die sinnlichen Genuß nur bei dem Manne zu empfinden vermag, den sie liebt. Sie ist der volle Gegensatz zum Wilden. Bei den zivilisierten Völkern hat die Frau wenig Beschäftigung; dagegen ist der Wilde durch sein Tagewerk so in Anspruch genommen, daß er sein Weib wie ein Haustier behandelt. Auch unter den Tieren sind die Weibchen meistens um so glücklicher, je müheloser die Männchen ihren Lebensunterhalt aufbringen.

Aber verlassen wir den Urwald, um nach Paris zurückzukehren. Ein leidenschaftlicher Mensch sieht der Geliebten alle Vollkommenheiten an. Und doch ist er noch nicht mit ganzer Seele der ihre, denn der Mensch übersättigt sich leicht an allem Eintönigen, selbst am vollkommenen Glück. (Damit soll gesagt sein, ein und dieselbe Nuance des Seins hat immer nur einen Augenblick vollendeten Glückes; doch die Art und Weise zu sein, wechselt bei einem leidenschaftlichen Menschen zehnmal am Tage.) Um ihn ganz zu fesseln, kommt noch etwas anderes hinzu.

6. Es entstehen Zweifel.

Nach zehn- oder zwölfmaligem Sichsehen oder nach einer langen Reihe anderer Erlebnisse, die nur einen Augenblick ober viele Tage ausfüllen können, und die erst die Hoffnung erweckt und dann groß gezogen haben, überwindet der Liebende seine anfängliche Unruhe und vertraut seinem Glücke fester. Vielleicht schwebt ihm auch irgend ein Lehrsatz vor, der aber nur auf den Durchschnitt der Fälle anwendbar ist, wenn es gilt, leichtfertige Weiber zu erobern. Kurz, er verlangt ein greifbareres Unterpfand der Liebe und will sein Glück zum Siege führen.

Fühlt er sich zu siegesgewiß, so wird auf der anderen Seite mit Gleichgültigkeit, Kälte oder gar Entrüstung abgewehrt. Französinnen haben noch eine gewisse ironische Art, die zu sagen scheint: »Du bildest dir ein, weiter zu sein, als du bist!« So benimmt sich eine Frau, wenn Liebesrausch und Scham in ihr kämpfen und sie fürchtet, die letztere verletzt zu haben, oder einfach aus Vorsicht oder aus Gefallsucht.

Der Liebende beginnt dadurch an dem erhofften Erfolge zu zweifeln. Bitter ergeht er sich über die Gründe seiner Hoffnung, die er klar vor sich zu sehen vermeinte.

Er will sich wieder den anderen Zerstreuungen des Lebens in die Arme werfen, aber er findet sie schal. Das Bewußtsein, namenlos unglücklich zu sein, erfaßt ihn und damit eine tiefe Nachdenklichkeit.

7. Es beginnt die zweite Kristallbildung. Wie Diamanten bilden sich die Bestätigungen des Gedankens: »Sie liebt mich.«

In jeder Viertelstunde der Nacht, die dem ersten Zweifel folgt, und nach Augenblicken des tiefsten Unglücks redet sich der Verliebte ein: »Sie liebt mich doch,« und die Kristallbildung fördert immer neue Reize zutage, bis mit einem Male neuer Zweifel den Liebenden mit teuflischen Augen anstarrt und ihn wieder ganz niederdrückt. Seine Brust atmet kaum mehr; er fragt sich: »Liebt sie mich auch wirklich?« In diesem bald freudevollen, bald qualvollen Entweder-Oder fühlt der Verliebte lebhaft: »Sie würde mir Freuden gewähren, wie sie mir kein anderes Weib auf Erden geben kann.«

Gerade die Handgreiflichkeit dieser Wahrheit, wo wir gleichsam am äußersten Rande eines grausigen Abgrundes schreiten und mit einer Hand schon das seligste Glück erfassen, verleiht der zweiten Kristallbildung im Vergleiche zur ersten einen viel tieferen Gehalt.

Der Liebende schwankt beständig zwischen drei Gedanken hin und her:

1. Sie hat alle erdenklichen Vorzüge,

2. sie liebt mich,

3. wie fange ich es an, um von ihr den klarsten Beweis der Liebe zu erringen?

Ein herzzerreißender Augenblick einer jungen Liebe ist aber der, wo der Liebende merkt, daß er einen gründlichen Fehler begangen hat, und er ein Stück des entstandenen Kristalls wieder zerschlagen muß. Dann zweifelt er an der Kristallbildung überhaupt.


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