von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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23. Eine Reise in fremde Lande

Ich rate allen, die im Norden geboren sind, dieses Kapitel zu überschlagen. Es ist eine unverständliche Abhandlung über einige seltsame Erscheinungen am Orangenbaume, der nur in Italien und Spanien gedeiht und zu seiner richtigen Höhe wächst. Um anderswo verstanden zu werden, müßte ich, die Tatsachen verkleinern. Sicherlich würde ich das auch tun, wenn ich im geringsten darauf ausginge, ein Buch für den allgemeinen Geschmack zu schreiben. Da mir aber der Himmel literarische Begabung versagt hat, habe ich lediglich die Absicht, mit rein wissenschaftlicher Genauigkeit und Sachlichkeit gewisse Tatsachen zu beschreiben, deren unfreiwilliger Zeuge ich durch längeren Aufenthalt im Lande der Orangen geworden bin. Friedrich der Große und jeder andere bedeutende Nordländer, der nie Gelegenheit gehabt hat, Orangenbäume unter freiem Himmel zu sehen, würde sicherlich die folgenden Tatsachen bezweifeln, und zwar mit vollem Rechte. Ich sehe das sehr wohl ein und weiß auch, warum es so ist,

Meine offenherzige Erklärung könnte hochmütig klingen; darum füge ich folgende Betrachtung hinzu.

Wir schreiben auf gut Glück, jeder was er für wahr hält, und jeder versucht dabei, dem anderen Unwahrheiten nachzuweisen. Für mich sind unsere Bücher wie Lotterielose; mehr Wert haben sie wirklich nicht. Erst die Nachwelt, die sie entweder vergessen hat oder neu herausgibt, weiß, welches Los gewonnen hat. Bis dahin hat keiner von uns, die wir doch alle unser Bestes und das, was uns am wahrsten erschien, niedergeschrieben haben, irgendwelches Recht, sich über den anderen lustig zu machen, höchstens in drolliger Satire, denn die hat immer ihre Berechtigung, zumal wenn sie geistreich ist.

Nach dieser Einleitung will ich getrost an die Darlegung der Tatsachen gehen, die man nach meiner Überzeugung in Paris selten beobachtet hat. Paris ist zwar unbestritten die erste Stadt der Welt; aber Orangen trifft man dort nicht unter freiem Himmel an wie in Sorrent. Und in Sorrent war es, der Vaterstadt Tassos, am Golf von Neapel, in halber Höhe über dem Meere, in einer Lage, die noch malerischer ist als die von Neapel selbst, wo man keine Zeitungen wie den Miroir liest. Dort hat Liso Visconti seine Beobachtungen gemacht und folgende Erfahrungen niedergeschrieben.

Wenn wir wissen, daß wir die Frau, die wir lieben, am Abend sehen werden, so macht die Erwartung dieses großen Glücks die Zeit bis dahin unerträglich. Ein verzehrendes Feuer läßt uns zwanzig Dinge anfangen und wieder beiseite legen. Alle Augenblicke sehen wir nach der Uhr und sind froh, sie einmal zehn Minuten lang nicht herausgezogen zu haben. Endlich schlägt die heißersehnte Stunde. Vor dem Hause der Geliebten, wenn wir schon an die Tür klopfen wollen, wünschen wir auf einmal, sie nicht anzutreffen; und doch würde uns das, wenn wir es uns richtig überlegen, betrüben. Mit einem Worte: die Erwartung, sie zu sehen, erhält plötzlich einen unangenehmen Beigeschmack.

Das sind Dinge, die den Philister zu dem Ausspruche veranlassen, die Liebe sei unvernünftig.

Der Grund ist, daß unsere Phantasie dem schönen Reich der Träume entrissen ist, wo nur Seligkeit herrscht, und wieder der rauhen Wirklichkeit gegenübersteht.

Eine zarte Seele weiß wohl, daß wir uns beim Anblicke der Geliebten in einen Kampf einlassen, der bei der geringsten Zerstreutheit und Mutlosigkeit mit einer Niederlage enden muß. Dann sind uns für lange Zeit die Träumereien der Phantasie vergiftet und unser Selbstgefühl ist uns genommen. Man sagt sich: »Es gebricht mir an Geist, ich habe keinen Mut.« Aber niemand hat vor einem geliebten Wesen Mut, oder man liebt es schon nicht mehr recht.

Die geringe geistige Sammlung, die man trotz aller Mühe aus den Träumereien der Kristallbildung noch gerettet hat, ist schuld daran, daß man in den ersten Plaudereien mit der geliebten Frau eine Unmenge von Dingen heraussagt, die keinen Sinn haben oder gerade das Gegenteil dessen ausdrücken, was man denkt, oder, was noch viel schmerzlicher ist, daß man seine wahren Gefühle übertreibt und sie dadurch in ihren Augen lächerlich macht. Da einem ein unbestimmtes Gefühl sagt, daß man auf die eigenen Worte nicht genug achtet, so fängt man unbewußt an, seine Ausdrücke sorgfältiger zu wählen und zu künsteln. Schweigen will man auch nicht, weil Stillsein verlegen macht und man dann noch viel weniger an die Geliebte zu denken vermag. Man sagt also mit ernster Miene eine Menge von Dingen, die man gar nicht ernstlich glaubt und deren Wiederholung einen in starke Verlegenheit brächte; man versagt sich hartnäckig die Gegenwart der Geliebten, um noch mehr der ihre zu sein. Als ich zum ersten Male die Liebe kennen lernte, verleitete mich diese Verworrenheit meines Innern beinahe zu dem Wahne, daß ich gar nicht liebte.

Die Feigheit der Rekruten und ihr Mittel, der Angst dadurch Herr zu werden, daß sie blindlings in das stärkste Feuer hineinrennen, begreife ich jetzt völlig. Wenn ich an die Unzahl von Dummheiten denke, die ich seit zwei Jahren gesagt habe, nur um in solchen Augenblicken überhaupt etwas zu sagen, gerate ich in Verzweiflung.

Gerade das sollte in den Augen der Frauen ein untrügliches Merkmal sein, um Liebe aus Leidenschaft von Liebe aus Galanterie und zärtliche von »prosaischen« Naturen, wie Leonore zu sagen pflegte, zu unterscheiden.

In solchen entscheidenden Augenblicken gewinnen diese soviel, wie jene verlieren. Eine prosaische Seele erlangt dann gerade die erhöhte Wärme, die ihr gewöhnlich fehlt, während die arme zärtliche Seele, übervoll von Empfindungen, bis zur Tollheit überreizt ist und dazu noch ihre Überreizung zu verbergen versucht. Durch die unaufhörlichen Anstrengungen, die eigenen Gefühle zu zügeln, verliert sie jede Spur von Kaltblütigkeit, deren sie doch bedarf, um ihren Vorteil wahrzunehmen. So hinterläßt sie schließlich eine Entfremdung bei der Geliebten, wahrend die prosaische Seele einen großen Schritt weiter gekommen ist. Sowie das Wohl und Wehe einer Leidenschaft auf dem Spiele steht, ist eine feinsinnige und stolze Natur nie imstande, vor der Geliebten Beredsamkeit zu entfalten. Der mögliche Mißerfolg droht als zu ungeheures Unglück.

Die gewöhnliche Seele hingegen berechnet genau die Aussicht auf Erfolg, denkt nicht daran, sich den Schmerz über eine Abweisung vorher auszumalen, und noch stolz auf das, was sie so gemein macht, spottet sie über die empfindsamen Seelen, die bei allem Geist nicht die einfachsten, immer erfolgreichen Dinge zu sagen fähig sind. Eine zartdenkende Seele muß sich, weit entfernt, etwas mit Gewalt erobern zu können, mit dem Mitleid der Geliebten begnügen. Vor einer Frau von wahrer Feinfühligkeit erfaßt uns immer Reue, wenn wir uns in unnatürlicher Weise gezwungen haben, zu ihr von Liebe zu sprechen. Wir sehen beschämt und kalt aus und könnten Lügner zu sein scheinen, wenn sich unsere Leidenschaft nicht durch andere Anzeichen verriete. Weil wir Romane im Kopfe haben, martern wir uns damit ab, dem Ausdruck zu geben, was wir beständig so lebhaft und so bis ins kleinste empfinden. Ein Naturmensch läßt sich gar nicht auf solche mühseligen Versuche ein. Anstatt von Gefühlen zu sprechen, die ihn vor einer Viertelstunde beherrschten, und zu versuchen, ein allgemeines und zu Herzen gehendes Bild davon zu entwerfen, schildert er einfach und klar seine augenblicklichen Gefühle. Aber das können wir nicht. Wir künsteln, ohne dadurch irgend etwas zu erreichen; und da unseren Worten die überzeugende Kraft der wirklichen Empfindung fehlt und wir gar noch Erinnerungen hineinmischen, finden wir im entscheidenden Augenblick Dinge von demütigender Lächerlichkeit für angebracht und sprechen sie aus.

Wenn wir uns nach einer qualvollen Stunde mit vieler Mühe endlich aus dem Irrgarten der Phantasie herausfinden und einfach die Gegenwart der geliebten Frau zu genießen beginnen, dann schlägt zumeist gerade die Trennungsstunde. Alles das erscheint übertrieben. Und doch habe ich noch viel mehr beobachtet. Ich hatte einen Freund namens Salviati, der eine Dame abgöttisch liebte. Sie glaubte sich durch irgend eine Rücksichtslosigkeit, die er mir nie eingestanden hat, beleidigt und bestrafte ihn damit, daß er sie nur zweimal im Monat sehen durfte. Diese seltenen und heißersehnten Besuche machten ihn wie wahnsinnig, und nur durch seine große Charakterstärke verbarg er diese Anfälle nach außen.

Schon zu Beginn des Besuches beeinträchtigt einen der Gedanke an das Ende zu sehr, um richtig in die genießende Stimmung zu kommen. Man spricht viel, ohne zu hören, was man spricht; oft sagt man das Gegenteil von dem, was man denkt. Man verwickelt sich in Sätze, die man plötzlich wegen ihrer Lächerlichkeit abbrechen muß, wenn man wieder zu Vernunft und Sammlung kommt. Die Gewalt, die man sich antut, erweckt den Anschein der Kälte. Die Liebe verleugnet sich durch ihr eigenes Übermaß.

Fern von diesem Zustande, malte sich vorher die Phantasie die reizvollsten Plaudereien aus; man empfand die zärtlichsten und rührendsten Wallungen, Tagelang glaubte man an seinen Mut, so zu der Geliebten sprechen zu können. Aber am Tage vor dem erträumten Glück beginnt die Unruhe, und sie wächst in dem Maße, wie sich der gefürchtete Zeitpunkt nähert.

In dem Augenblick, wo man das Zimmer der geliebten Frau betritt, klammert man sich, um nicht die größten Dummheiten zu sagen oder zu machen, an den Vorsatz, stumm zu bleiben und sie nur anzuschauen, um wenigstens die Erinnerung an ihr Wesen heimzubringen. Aber durch ihre Gegenwart überkommt die Sinne eine Art Taumel. Wie ein Verrückter fühlt man sich zu Sonderlichkeiten verleitet; man hat die Empfindung, zwei Seelen zu haben; die eine befiehlt, irgend etwas zu tun, und die andere heißt es falsch. Man hat das verworrene Gefühl, daß der Zwang, sich vor Dummheiten in acht zu nehmen, das Blut etwas abkühlt, aber man vergißt dabei, daß die Besuchsstunde zu Ende geht und man das Unglück hat, die Geliebte auf vierzehn Tage verlassen zu müssen.

Wenn zufällig irgend ein langweiliger Mensch bei ihr sitzt und fade Geschichten auftischt, so ist der arme Verliebte in unverständlicher Narrheit ganz Ohr, als ob es ihm darauf ankäme, so kostbare Augenblicke zu vergeuden. Die Stunde, die er sich so hold gedacht hatte, verrinnt mit Blitzesschnelle, und dabei lassen ihn tausend Kleinigkeiten mit unsagbarer Bitternis fühlen, wie fremd er der Geliebten geworden ist. Er sieht sich inmitten von gleichgültigen Menschen, die ihr Besuch machen, und findet, daß er der einzige ist, der nicht über alle Einzelheiten ihrer Erlebnisse in den letzten Tagen Bescheid weiß. Endlich erhebt er sich, und während er sich kalt empfiehlt, überkommt ihn das schmerzvolle Bewußtsein, sie erst in vierzehn Tagen wiederzusehen. Kein Zweifel, er würde weniger leiden, wenn er die Geliebte nie wieder sähe. So und noch qualvoller ging es dem Herzog von Policastro, der alle halbe Jahre eine Reise von hundert Weilen unternehmen mußte, um in Lecce eine angebetete, aber eifersüchtig bewachte Geliebte auf eine Viertelstunde zu sehen.

Hieraus sieht man recht, daß der Wille keinen Einfluß auf die Liebe hat. Wie wäre sonst jemand so toll, Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen, wenn er in der höchsten Aufregung über die Geliebte und über sich selbst ist? Der einzige Erfolg eines solchen Besuches ist eine Erneuerung der Kristallbildung.

Für Salviati war das Leben in Abschnitte von je vierzehn Tagen eingeteilt, deren Stimmung jedesmal durch die Färbung des Abends bestimmt wurde, an dem er die geliebte Frau sehen durfte. So war er zum Beispiel am einundzwanzigsten Mai überglücklich, und am vierten Juni ging er aus Angst vor der Versuchung, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, nicht nach Hause.

Übrigens habe ich an jenem Abend die Beobachtung gemacht, daß die Romanschreiber den Selbstmord sehr schlecht darstellen. Salviati sagte zu mir mit ruhiger Miene: »Ich bin durstig, ich muß dieses Glas Wasser trinken.« Ich kämpfte nicht gegen sein Vorhaben an, sondern sagte ihm Lebewohl. Da fing er an zu weinen.

Da die ganze Unterhaltung zweier Liebenden von Unruhe erfüllt ist, so wäre es unklug, voreilige Folgerungen aus einer Einzelheit derselben zu ziehen. Nur in unerwarteten Ausbrüchen zeigen sich unverhüllte Empfindungen; dann spricht die Stimme des Herzens. Höchstens kann man aus dem Gesamteindruck aller Reden irgend etwas folgern. Man muß aber bedenken, daß wir selbst in der höchsten Erregtheit meistens nicht die Zeit finden, die Erregung einer anderen Person zu beobachten, zumal wenn diese die Ursache unsrer Erregung ist.


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