von Stendhal - Henry Beyle
Über die Liebe
von Stendhal - Henry Beyle

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62. Die Ehe in Europa

Bis hierher haben wir die Ehefrage nur theoretisch beleuchtet, wenden wir uns nun zu den Tatsachen.Lisio Visconti hat in der italienischen Übersetzung der »Ideologie« von Destutt de Tracy ein Kapitel, betitelt Dell'Amore, gelesen. An jener Stelle wird der Leser Ideen von ganz andrer philosophischer Tragweite finden, als sich ihm alles in allem hier bieten.

Welches Land der Erde hat die glücklichsten Ehen? Unstreitbar das protestantische Deutschland.

Es ist wahr, die Männer werden dort nicht betrogen. Aber, großer Gott, was gibt es da für Frauen! Bildsäulen, keine lebendigen Wesen. Vor der Ehe sind sie angenehm, leicht wie Gazellen, mit lebhaften und zärtlichen Augen, die jede Andeutung von Liebe verstehen. Sie sind eben auf der Jagd nach einem Gatten. Kaum ist er gefunden, so sind sie nichts anderes mehr als Gebärmaschinen. In einer Familie mit vier bis fünf Kindern ist immer eins notwendigerweise krank, und sobald ein Kind krank ist, geht hierzulande die Mutter nicht mehr aus. Ich habe beobachtet, daß die Mütter eine unbeschreibliche Freude an den Liebkosungen ihrer Kinder finden. Nach und nach hören sie gänzlich auf zu denken. Junge Mädchen von ausgelassenster Fröhlichkeit werden nach kaum einem Jahre die langweiligsten Frauen.

Ich füge diesen Bemerkungen hinzu, daß in Deutschland die Mitgift der Frauen infolge des Erbrechtes gleich Null ist. Ein junges adliges Mädchen, dessen Vater vierzigtausend Mark Jahreseinkünfte hat, erhält vielleicht zweitausend Taler Mitgift.

Die Mitgift wird durch die Eitelkeit auf die Hoffähigkeit ersetzt. Man könnte im Bürgerstande Partien mit hunderttausend und hundertfünfzigtausend Talern finden, aber dann wäre man nicht mehr hoffähig und von allen Gesellschaften, wo Prinzen oder Prinzessinnen erscheinen, ausgeschlossen, und »das ist entsetzlich«, sagte mir ein deutscher Freund aus vollstem Herzen.

Eine deutsche Frau, wie Frau Philippine von M***, seelenvoll und geistreich, mit edlen und feinen Zügen und dem Feuer der Jugend, anständig und infolge der hiesigen Sitten auch natürlich und aus dem gleichen Grunde nicht über das nützliche Maß religiös, vermag ohne Zweifel ihren Gatten sehr glücklich zu machen. Darf man aber hoffen, daß sie unter all diesen stumpfsinnigen Müttern so bleibt?

»Er war doch verheiratet!« antwortete sie mir heute morgen als ich Lord Oswald, den Geliebten der Corinne, wegen seines vierjährigen Schweigens tadelte. Bis drei Uhr früh hatte sie in »Corinne« gelesen. Der Roman hatte sie tief erregt, und doch antwortete sie mir in rührender Aufrichtigkeit: »Er war doch verheiratet!«


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