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XV.

Das Zimmer, in dem Marie verschieden war, verwandelte man in einen Trauerhain. Der Sarg stand etwas erhöht in der Mitte zwischen brennenden Kerzen und einem ganzen Wald von Blattgewächsen und Blumen, deren sich so viel angesammelt hatten, daß nicht nur das Trauergemach, sondern auch das Vorzimmer und die Treppen davon angefüllt waren. Der Sarg war noch offen, und in dem mit dem Schimmer der Weihkerzen vermischten Tageslichte sah man Marie in demselben Kleide, das sie im Konzert hätte tragen sollen. Ein silbernes Kreuzchen, das sie in den gefalteten Händen hielt, leuchtete wie ein strahlender Punkt auf dem dunklen Hintergrunde der Pflanzen. Ihr Gesicht schien nachdenklich, doch ohne die geringste Leidensspur – und zugleich wie versunken im Lauschen auf Stimmen, Töne und Klänge, die für Sterbliche unhörbar waren.

Durchs offene Fenster kam von Zeit zu Zeit ein Luftzug, der wohl eine von den flackernden Kerzen auslöschte und die Blattgewächse leise bewegte. In den Akazien vor dem Hause zwitscherten lärmend die Spatzen, sie mochten sich wohl erzählen von dem schönen toten Mädchen da drinnen. An dem Katafalk vorbei bewegte sich ein Menschenstrom; Arbeiter, zu deren Gunsten das Konzert hatte stattfinden sollen, brachten Kränze, und beim Anblick des so furchtbar hingemordeten wohltätigen »Fräulein« gingen sie mit flammendem Blick und geballten Fäusten von dannen.

Die Nachricht von dem grauenhaften, gedankenlosen Verbrechen führte auch große Studentenscharen herbei, die den Sarg auf ihren Schultern zu tragen beschlossen. Inzwischen umgaben sie geräuschlos den Katafalk, mit Wehmut und mitleidsvollem Herzen betrachteten sie das feine, gegen den Himmel gekehrte Antlitz des Mädchens und erinnerten sich unwillkürlich an die Dichterworte: »Auf dem Atlas ruht sie still und weiß, mit den kreuzweise gelegten Händen.« – Die ganze Stadt war in Aufregung, die Straße vor dem Hause besetzten große Volksmassen, unruhig, unfähig zu begreifen, weshalb ein solches Verbrechen begangen wurde, und durch den Gedanken entsetzt, was die Zukunft bringen würde und welche neue Opfer noch gefordert werden könnten.

 

Maries sterbliche Überreste sollten zur Bahn gebracht und von dort nach Zalesie überführt werden, wo die Familiengruft der Otockis sich befand. Nachmittags nahm man den Sarg von der Bahre herab – und nun vor dem Schließen desselben nahte für Frau Otocka und für Gronski der schreckliche Moment, wo sie zum letztenmal im Leben das vielgeliebte Wesen anschauen konnten, das ihnen Licht und Sonne gewesen war. Wenn Marie infolge einer Krankheit gestorben, wäre ihre Verzweiflung vielleicht nicht geringer, aber doch wenigstens erklärlich gewesen. Allein so war sie ja zwecklos hingemordet! Man tötete dieses süße und schuldlose Kind gerade dann, als es den Menschen helfen wollte und sich auf den Gedanken dieser Hilfe so sehr freute! Man mordete dieses verkörperte Lied, diese duftige Blüte, von Gott zur Freude der Menschen gesandt! Und darin eben lag etwas, was nicht nur zur Verzweiflung, nein, was zum Wahnsinn führen konnte. Und nun noch ein letzter Abschiedsblick auf dieses Lieb, diese Jugend, diesen mädchenhaften Zauber, dieses unschuldige Opfer des Verbrechens und des Irrtums – und dann das Nichts, die Finsternis – die Leere.

Der übergroße Schmerz jedoch vernichtet sich selbst wie ein Skorpion, bedeckt den Geist mir dichtem Nebel und befiehlt dem Blut, in den Adern zu erstarren. So geschah es auch mit der Schwester der Gemordeten. – Doktor Szremski war längere Zeit nicht sicher, ob er sie zum Leben zurückrufen könne.

Im Schreck und in der Verwirrung beobachtete man es kaum, daß eine Wahnsinnige ins Trauergemach gerannt kam und mit herzerschütterndem Wimmern sich auf den Boden warf. Swidwicki führte sie mit Hilfe einiger Studenten hinaus und übergab sie der Obhut einer Dienerin.

Unterdessen wurde der verlötete Sarg von der Jugend auf die Schultern genommen und der Leichenzug setzte sich in der Richtung nach dem Bahnhofe in Bewegung. Den Leidtragenden schloß sich eine unermeßliche Menschenmenge an, die Straßen und die Trottoirs überflutend, und erst in der Nähe der Brücke kehrten die, welche nur aus Neugier mitgegangen waren, nach Hause zurück.

Swidwicki näherte sich dem Doktor Szremski, und eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander, ohne zu bemerken, daß sie immer mehr hinter dem Zuge zurückblieben.

»Haben Sie die Verstorbene gekannt?« fragte der Doktor.

»Otocki war mit mir verwandt.«

»Ach, Herr, welch schrecklicher Irrtum!«

Swidwicki aber platzte heraus:

»Das ist durchaus kein Irrtum. Das ist eine logische Folge der Zeitverhältnisse, in denen ähnliches den gewöhnlichen, alltäglichen Lauf der Dinge bilden wird.«

»Wie verstehen Sie das?«

»So, wie man es zu verstehen hat. Dieser Sarg hat mehr Sinn als es scheint. Er ist eine Voraussage. – Ein Irrtum? Nein? Nur ein Ereignis! Wir begraben da eine Harfe, die durch ihren Klang die Menschen erfreuen wollte, und die der Pöbel nun mit schmutzigen Füßen zertreten hat … Warten Sie! Nur so weiter, und wer weiß, ob wir nicht in zehn oder zwanzig Jahren auf diese Weise Wissenschaft, Bildung, Kultur und vielleicht die ganze Zivilisation begraben. Und zwar nicht nur bei uns, sondern überall. Die Zahl solcher Ereignisse wird endlos sein … Mir ist es übrigens gleichgültig – das ist schon möglich …«

Der Arzt überlegte Swidwickis Worte und rief endlich:

»Ach, Bildung, Bildung, Bildung!«

Swidwicki jedoch blieb stehen, griff Szremski beim Rock, schüttelte mit dem Kopfe und fuhr fort:

»Hören Sie einen Atheisten oder wenigstens einen Menschen, der mit Religion gar nichts zu schaffen hat: Bildung ohne Religion züchtet nur Diebe und Banditen.«

Der Leichenkondukt stockte eine Weile infolge des Gedränges; sie näherten sich also wieder dem Sarge – Swidwicki dämpfte nur die Stimme, ohne mit dem Sprechen aufzuhören.

»So ist's wirklich, mein Herr … Viele Menschen denken gleich mir, nur haben sie nicht den Mut, es laut zu sagen. Übrigens wiederhole ich, daß es mir gleichgültig ist, denn – was uns betrifft – so sind wir rettungslos verloren. Bei uns ist es wie in einem Strudel … Und zwar nicht in einem Strudel auf dem Wasser, wo unten in der Tiefe Ruhe herrscht, sondern in einem Strudel aus Sand. Jetzt weht der Wind von Osten herüber und unfruchtbarer Sand verschüttet unsere Tradition, unsere Zivilisation, unsere Kultur – ganz Polen – und verwandelt es in eine Wüste, in der alle Blumen verdorren und wo nur Schakale leben können.«

Hier wies er auf Maries Sarg.

»Auch das ist eine Blüte, die verwelkte. Wissen Sie, weshalb ich bei diesen Damen, obgleich ich verwandt mit ihnen bin, so selten verkehrte? Weil ich vor ihrem Blick mich schämte.«

Sie erreichten jetzt den Bahnhof und als sie den Bahnsteig betraten, sahen sie einen mit Blumen und Fichtenzweigen geschmückten Waggon.

»Fahren Sie mit nach Zalesie?« fragte der Arzt.

»Ja. Ich will Frau Otocka noch sehen, mit der – Gott weiß, was geschehen wird. Und sehen Sie nur, wie Gronski ausschaut! Ein Greis – nicht? Auch sein Latein und seine Bücher werden ihm nun nicht viel helfen.«

»Wer möchte es nicht mitempfinden!« – erwiderte der Arzt. »Krzycki sieht ebenfalls aus wie vom Kreuz abgenommen.«

»Krzycki? Vielleicht deshalb, weil seine Verlobung angeblich aufgelöst wurde!«

Das weitere Gespräch wurde von dem Orchester unterbrochen, das Chopins Trauermarsch zu spielen begann.


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