Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Wladislaw Krzycki hatte die glückliche Natur, daß er wenige Minuten nach dem Niederlegen in tiefen Schlaf verfiel, der bis in den Morgen hinein dauerte. Diese Nacht jedoch konnte er nicht einschlafen, weil die Eindrücke des ganzen Tages und zugleich die letzten Worte Dolhonskis ihn in einen Zustand von Aufregung und Zorn versetzt hatten. Er war über Rzenslewo, über die »Abenteuer«, die sich dort ereigneten, über Dolhonski, daß er den Eindruck bemerkte, welchen die junge »Miß« auf ihn ausübte, und insbesondere, daß er sich die Freiheit nahm, darüber zu sprechen, und schließlich sogar über das ganz unschuldige Fräulein Anney aufgebracht. Nachdem er sich eine Weile von einer Seite auf die andere geworfen, fing er in Gedanken ein Gespräch mit ihr an, indem er die Rolle eines Menschen übernahm, der nicht verneint, »tief« bezaubert zu sein und dennoch die Dinge nüchtern und verständig ansieht. Also gestand er Fräulein Anney zu, daß sie hübsch und anmutig sei, daß sie eine selten sympathische Stimme, einen merkwürdig anziehenden Blick und einen Körper wie aus Marmor (ach, welch einen Körper!) besitze – aber er verwahrte sich energisch dagegen, daß sie sich einbilde, er hätte sich in sie sogleich – und zwar sterblich – verliebt. Zugestehen würde er ihr alles, was sie nur wolle, aber vom Zugestehen bis zum Verlieben sei es noch weiter, als vom Verlieben bis zur Ehe, von der ja überhaupt keine Rede sein könne. Vor allem ist sie eine Ausländerin, sagte er sich weiter, und die Mutter hat in dieser Beziehung ihre Vorurteile, übrigens ganz erklärliche – denn auch er würde für den Rest des Lebens neben sich lieber eine polnische als eine fremde Seele haben. Es ist richtig, daß in ihr etwas seltsam Heimisches ist, aber immerhin ist sie keine Polin. – Das Blut hat seine Bedeutung, da hilft alles nichts, sagte er weiter in Gedanken zu Fräulein Anney. Da du eine Engländerin bist, so heirate einen Engländer oder Schotten, nur verlange nicht von mir, ich solle mit solch einem Affen Bekanntschaft oder Freundschaft schließen, da ich mich ohne dieselbe sehr gut behelfen kann. – –

Und in diesem Moment erfaßte ihn eine so plötzliche Antipathie gegen diesen eventuellen Engländer »mit der hervorstehenden Kinnlade«, oder dem Schotten, »mit nackten Knien«, daß er fühlte, er wäre bei der geringsten Meinungsverschiedenheit imstande, jeden von ihnen zu verprügeln.

Durch diesen Zornesausbruch riß er sich gänzlich aus dem Zustande des Halbschlafes heraus, in dem die Wirklichkeit sich mit der Phantasie vermengt, und als er erwachte, war er sehr zufrieden, daß dieser mißhandelte Bräutigam doch nur in seiner Einbildung existiere, und gleichzeitig überflutete sein Herz tiefe Dankbarkeit für Fräulein Anney.

Ich zanke hier mit ihr und mache Einwendungen – dachte er – und sie schmiegt unterdessen ihr liebes Köpfchen ans Polster und schläft fest.

Hier tobte wieder das Blut durch seine Adern, aber er verscheuchte bald diese unreinen Visionen, was ihm um so eher gelang, da ihn eine neblige Sehnsucht nach einer rechtschaffenen Liebe und nach dem noch namenlosen Wesen, das sein Leben mit ihm teilen sollte, zu erfüllen anfing.

Er fuhr nun fort, diesmal jedoch schon demütiger, mit Fräulein Anney zu sprechen, indem er ihr mit einer Art Wehmut versicherte, er wisse ja, sie würde ihn nicht wollen, auch wenn nicht anderweitige Hindernisse im Wege ständen, aber seine zukünftige Lebensgefährtin müsse ihr wenigstens ein bißchen ähnlich sein, sie müsse einen solchen Blick und eine solche seltsame magnetische Kraft besitzen, der er bis jetzt nur durch ein Wunder nicht unterlegen sei. Fräulein Anney persönlich schulde er nur Dankbarkeit. Ihm sei nirgends so wohl, wie in diesem lieben Jastrzemb, aber er könne keineswegs in Abrede stellen, daß es in diesem verdammten Neste nach ihrer Ankunft so frisch und hell geworden sei, wie wenn jemand die Fensterläden geöffnet hätte; nach ihrer Abreise würde es um so finsterer, öder und langweiliger sein. Für diese lichten Augenblicke möchte er ihr die Hände und, wenn sie glaube, dies würde nicht genügen, die Füße küssen. Mittlerweile bitte er sie um Verzeihung für diese verrückten Gedanken, die in seinem Kopfe entstanden, als er im Salon ihren Arm an sich preßte, denn obgleich er stets der Ansicht sei, daß man für ihre Gegenliebe das Leben hinopfern könne – so behaupte er gleichzeitig, Dolhonski sei ein Narr und Zyniker, der sich in fremde Angelegenheiten menge und dessen Worten man keine Wichtigkeit beimessen solle.

Hier erfaßte ihn zum zweitenmal Zorn gegen Dolhonski, und er wälzte sich wieder von einer Seite auf die andere, bis ihn endlich die späte Stunde und die schlafbedürftige Jugend in einen sanften Schlummer hüllte.

Es befand sich aber im Jastrzember Herrschaftshause noch jemand, der auch nicht schlief und sich mit einer abwesenden Person unterhielt – nämlich Laskowicz.

Nach all dem, was sich ereignet und was die letzten Tage ans Licht gebracht, bereitete er sich zu einer letzten Abschiedsverhandlung mit der Familie Krzycki vor, weil er einsah, daß seine weitere Anwesenheit in Jastrzemb unmöglich geworden. Doch jetzt wünschte er noch einige Tage hier zu bleiben, um Fräulein Marie Zbyltowska länger anzuschauen und sich noch weiter – wie er es nannte – zu narkotisieren. Denn wahrlich, von dem Augenblicke an, als er sie spielen hörte, beschäftigte sie so seine Gedanken, wie nie ein weibliches Wesen je zuvor. Vor allem gehörte zu den fertigen Formeln, deren er sich in seinem Urteile über Menschen mit dogmatischem Glauben bediente, die Überzeugung, daß die den sogenannten satten Klassen angehörenden Damen gedankenlose Geschöpfe seien. Mittlerweile mußte er von dieser Formel abweichen, weil durch die Geige eine Seele zu ihm sprach. Dann überraschte es ihn, daß in diesem jungen Mädchen gleichsam zwei Wesen wohnten – eines offenbarte sich in der Musik als eine große, ernste, enthusiastische, in der Tönenflut voll ausgehende Künstlerin, die spielte, als wenn sie die Bogen über eigene Nerven striche – das andere Wesen zeigte sich im Alltagsleben und im gewöhnlichen Verkehr mit Menschen. Und dieses andere erschien auf den ersten Blick, wenn auch nicht als ein alltägliches, so doch als einfaches, bescheidenes, heiteres Mädchen, das wie eine Katze pfauchte, sobald jemand, z. B. Dolhonski, ihr unangenehme Dinge sagte, das sich mit Gronski neckte, unsinnige Märchen von Geistern erzählte oder in den Garten rannte, um zum großen Schrecken Gronskis und der älteren Schwester auf dem Teiche zu rudern.

Laskowicz kannte die Welt nicht und war durchaus kein scharfsinniger Mensch, allein auch er bemerkte, daß in diesem gewöhnlichen Mädchen etwas stecke, das aus ihm eine kleine Gottheit mache, die von stiller Anbetung umgeben war. Sie selbst war sich dessen nicht bewußt und sah diesen Zustand als selbstverständlich an und lebte das Leben einer Blume oder eines Vogels. Voll Zuversicht, daß ihr niemand Böses antun könne, war sie frohen Mutes, wohlauf, lebte jenseits der Lebensnot und Erbärmlichkeit, jenseits der Kümmernisse, jenseits des kalten Lebenswindes, der die Augen tränen macht, und jenseits des schmutzigen Staubes, sie war einer reinen Quelle ähnlich, welche die Menschen als Segen betrachten und deren Kristallhelle sie zu trüben fürchteten.

Es hatte den Anschein, als ob die Umgebung nichts mehr von ihr verlange, als daß sie existiere – so wie man auch von einem Meisterwerke nichts mehr verlangt. So oft Laskowicz sie anschaute, kam ihm gleich ein Vorkommnis aus seiner Kindheit in den Sinn. Er und sein älterer Bruder, der vor einigen Jahren schwindsüchtig geworden und durch einen Selbstmord an der Riviera geendigt – waren Söhne einer Trödlerin die einen Kramladen mit geweihten Wachswaren, kleinen heiligen Medaillen, Rosenkränzen und Bildchen nächst einer Warschauer Kirche hatte. Die zwei Brüder wuchsen deshalb in der Vorhalle der Kirche auf und standen im fortwährenden Verkehr mit den Geistlichen. Es ereignete sich nun, daß ein alter Kanonikus, der Pfarrer dieser Kirche, bei einer Lizitation die alabasterne Statuette einer Heiligen kaufte und unbegreiflicherweise sich einbildete, sie wäre nicht nur ein Werk, sondern sogar ein Meisterwerk Canovas. Die Statuette, die wirklich hübsch und äußerst fein ausgeführt war, wurde nach der Einweihung unter dem Namen der heiligen Appollonia in einer besonderen Mauernische nahe dem Altar aufgestellt, und seit dieser Zeit behandelte sie der greise Pfarrer mit großer Verehrung als ein Heiligtum, und mit großer Sorgfalt als die interessanteste Sehenswürdigkeit der Kirche. Er zeigte sie seinen Gästen sowie den frömmeren Pfarrkindern und ärgerte sich, so oft jemand eine kritische Bemerkung sich erlaubte. Selbstredend teilten die Bewunderung des Kanonikus auch der Organist, der Glöckner, die ganze kirchliche Dienerschaft und die beiden Knaben der Trödlerin.

Laskowicz dachte jetzt oft ganz unwillkürlich, Fräulein Marie sei eine heilige Appollonia für ihre Umgebung. Deshalb nannte er sie gleich unter dem ersten Eindrucke »heiliges Püppchen«. Er erinnerte sich aber, daß, als er seinerseits den Glauben verlor, und er verlor ihn noch im Gymnasium, welches er, beiläufig bemerkt, mit Hilfe des alten Domherrn absolvierte – er oft große Lust empfand, diese alabasterne Statuette zu zertrümmern. Jetzt durchwühlte ihn eine noch größere, an Leidenschaft grenzende Lust, diese lebendige zu zertrümmern. Und durchaus nicht deshalb, weil sie ihm verhaßt wäre. Im Gegenteil. Auch er konnte nicht dem Zauber dieses allgemein geliebten Mädchens widerstehen, so wie niemand dem Eindruck der Morgenröte oder des Lenzes widerstehen kann. Selbst das, was ihn an ihr ärgerte und ihn empörte, zog ihn gleichzeitig mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihr hin. So fesselte ihn ihre Zugehörigkeit zu jener Welt, deren Existenz er schon vom sozialen Standpunkte aus als eine Ungerechtigkeit, ein Verbrechen und einen Schaden ansah; sie zog ihn an, trotz seines inneren Kummers, den ihm der Gedanke verursachte, daß solchen Blumen das Proletariat nur als Dünger diene. Ein Köder war ihm ihre verfeinerte Kultur und ihre Kunst, obschon in seinen Augen solche Sachen unnütze, überflüssige Lebensblüten fürs Volk waren – eine Lockspeise war ihm auch ihre gänzliche Unähnlichkeit mit den Weibern, mit denen er bis zu seiner Ankunft hierher verkehrt hatte – ein Rausch ihre ganze Gestalt. Nie vorher weilte er mit einem solchen Wesen unter einem Dache, also war er ganz außer sich und verlor bei ihrem Anblick den Kopf – und, obgleich er sich noch nicht jener Kräfte, die ihm die Brust zu zersprengen drohten, bewußt war – und sie mit der Bezeichnung »Liebe« noch nicht getauft hatte –, war es trotzdem zur Wahrheit geworden, daß er in diesen paar Tagen wie ein Vulkan entbrannt und sterblich verliebt war. Dumpf jedoch fühlte er, daß in dieser Leidenschaft etwas von der Gier des Mohren nach einem weißen Weibe enthalten sei, ja noch mehr, daß in solcher Liebe etwas wie Treubruch gegenüber seinen Grundsätzen liege. Darum vergiftete er diese leidenschaftlichen Triebe gleich beim Entstehen mit dem Geifer des Hasses und dem Wolfstriebe der Vernichtung.

Nun aber rief er das »heilige Püppchen« herbei, daß es zu ihm komme. Indessen er kritiklos, aber mit der ganzen dem Fanatismus und der Jugend eigenen Übertreibung alles hinnahm, was die Bücher als letztes Resultat der Forschung oder als Erscheinungen auf dem Gebiete der Wissenschaften bezeichneten – glaubte er, der Hypnotismus sei eine riesige, geheimnisvolle und in ihrer praktischen Anwendung unbesiegbare Macht.

Da er sich auf Grund von mit Kollegen angestellten Proben für einen Hypnotiseur und das zarte, empfindsame Mädchen für ein vorzügliches Medium hielt, war er überzeugt, er könne es einschläfern und ihm aus der Entfernung Befehle erteilen. Das Gewissen flüsterte ihm zwar zu, daß es ein Mißbrauch der Wissenschaft sei, was er vorhabe, doch übertönte er diese Stimme, indem er sich einredete, daß dies einem Siege des Proletariers über jene Welt gleichkomme, für die man kein Erbarmen habe, und ferner, daß ein Mensch, der einer Partei angehöre, die einen Kampf auf Leben und Tod dem ganzen sozialen Gebäude erklärt habe, das Recht und die Pflicht für sich in Anspruch nehmen müsse, rücksichtslos zu sein.

Vor allem jedoch wollte er dieses feine, keusche Mädchen erobern und beherrschen, nicht nur den Körper und die Seele, sondern auch ihren Willen, aus demselben etwas ihm Eigenes machen, sie zu sich herabziehen, in ihr den schlummernden Instinkt wecken, die verschlossene Tür der Leidenschaft ihr eröffnen, sie entflammen, umfassen, zerknittern, um sie dann immer nahe an seiner Brust zu haben. Bei diesen Gedanken erfüllte ihn eine wilde Freude, derjenigen ähnlich, die Wahnsinnige empfinden, wenn sie die als heilig geltenden und mit Ehrfurcht umgebenen Dinge profanieren. Zugleich wurden seine Liebe und das Begehren immer stärker; er fühlte, daß nach all dem und für all dies er diese seine Beute, sein Opfer über alles lieb gewinnen möchte.

Weil er aber nur ein lieberasender und dabei mit einem fast jungfräulichen Herzen ausgestatteter, aber im Grunde kein verdorbener Mensch war, befiel ihn von Zeit zu Zeit eine solche Rührung, daß, wenn auch sein Rufen sich wirksam erwiesen hätte, er dennoch kein Verbrechen begangen haben würde. Doch dies waren nur vorübergehende Momente, nach denen er seine ganze Willenskraft und seinen Blick in der Richtung nach Fräulein Maries Schlafzimmer sandte und den Befehl erteilte: »Steh' auf! – mache kein Licht – wecke die Schwester nicht – öffne still die Tür und schreite in der Dunkelheit den Weg, den meine Gedanken dir vorschreiben, bis du in meine Arme, an meine Brust sinkst.«

Und er stellte sich vor, er werde sie gleich erblicken, wie sie, jener Alabaster-Statuette gleich, im Nachtgewande, mit dem mechanischen Schritte einer Mondsüchtigen, ganz silbern, schlafend, mit nach rückwärts geneigtem Kopfe, mit geschlossenen Augen und den Mondesglanz, der durchs Fenster hereinfiel, mit offenen Lippen trinkend – eintreten würde.

Dann lauschte er, und mit noch stärkerem Willen wiederholte er mit solchem Nachdruck, als ob er jedes Wort in Stein aushauen müßte: »Steh' auf! – zünde keine Kerze an, wecke die Schwester nicht, öffne die Tür – und beschreite den Weg meiner Gedanken – komm'!«

Alles dies war wirklich schrecklich! Nur fügte es ein glücklicher Zufall, daß es Fräulein Marie gar nicht einfiel, aufzustehen, die Tür zu öffnen, den Weg seiner Gedanken zu betreten usw. – Im Gegenteil. Sie schlief still, als wenn ein über sie geneigter Engel mit dem Flügelschlage unruhige und fieberhafte Träume von ihr wegscheuche.

Auch die kleinen Jastrzember Hausgeister, solche, von denen sie Gronski erzählte, störten ihre Ruhe nicht. Vielleicht vertrieben manche derselben Nachtnonnen von den Fenstern, daß sie nicht lärmten, wenn sie ihre Köpfe an die Scheiben stießen, vielleicht auch kletterten die kleinen Wichte an den Vorhängen des Bettes hinauf, betrachteten die Schlafende mit ihren klugen Äuglein von ferne und flüsterten einander zu:

»Es schläft das Mädchen, das uns auf der Geige vorspielt – es schläft! – Pst! – wecken wir es nicht!« – Und obwohl sie gewiß große Lust hatten, die Pflöckchen an der Geige abzudrehen und mit den haarigen Fingerchen die Saiten zu rühren, unterließen sie es dennoch aus Gutmütigkeit und Gastfreundlichkeit.

Durch die Öffnungen der Fensterläden drangen Mondstrahlen herein, warfen helle, sich langsam fortbewegende Strahlen an die gegenüberliegende Wand, und tiefe Stille herrschte – nur irgendwo hinter dem Hause bei den Wirtschaftsgebäuden pfiffen die Nachtwächter, und im Hause selbst sagte eine alte Schrankuhr, die bereits einigen Generationen das Leben abmaß, wieder mit Resignation: »Ja! – Ja! – Ja!« – zu den in die Vergangenheit verrinnenden Sekunden.

Und Laskowicz sandte wiederum von seinem Zimmer Befehle aus, die niemandes Bewußtsein erreichten. Aber merkwürdig, innerlich vernahm er eine Stimme, die ihm nüchtern und mit größter Klarheit sagte, das Mädchen werde nicht kommen, und trotzdem glaubte er bestimmt, sie müsse kommen. Erst nach langer Zeit dämmerte es in ihm auf, daß, wenn sie nicht komme, er mit seinem Hypnotismus die Rolle eines Narren spiele.

Endlich wurde er müde, mißvergnügt und auf sich selbst ärgerlich, kein Schlaf erquickte den müden Körper. Stunde verrann um Stunde – der Himmel nahm gegen Osten eine grünliche Farbe an und säumte sich schließlich am unteren Rande mit dem rosigen, durchsichtigen Bande der Morgenröte. Der junge Student öffnete, ohne sich anzukleiden, das Fenster, um die erfrischende Morgenluft einzuatmen. Im Garten ertönte das erste Vogelgezwitscher, und vom ziemlich nahen Teiche strömten Akaziendüfte herüber und ertönten die Stimmen der Reiher, sowie das gedämpfte, schläfrige Quaken der Wildenten. Nach einiger Zeit hörte man vom nahen Dorfe das Geräusch der knarrenden Brunnenschwengel.

Laskowicz glaubte, dies sei sein letzter Morgen in Jastrzemb, er werde am nächsten Tage in der Stadt erwachen und weder Fräulein Marie und das kleine Ännchen Krzycka wieder sehen, das einzige Wesen, das er im ganzen Jastrzember Hause liebgewonnen hatte. Und das tat ihm ein wenig leid.

Da er aber einsah, daß nach Ankunft seiner Parteigenossen in Rzenslewo und nach dem gestrigen Besuche des Ökonomen Kapuscinski ein weiterer Aufenthalt in Jastrzemb für ihn unmöglich sei – wollte er lieber selbst seine Entlassung fordern. Aus diesem Grunde beschloß er, einen Brief an Wladislaw mit der Erklärung zu schreiben, er sei der pädagogischen Pflichten schon überdrüssig. Er sah übrigens voraus, daß es auch ohnedies, wenn auch nur bei der Gehaltsauszahlung, zu einer entscheidenden Aussprache kommen müsse, die weit führen könne. Für alle Fälle hielt er einen Revolver in Bereitschaft. Er war jedoch der Ansicht, daß er durch einen trockenen und kurzen Brief am besten seinen Zweck erreichen würde, und, nachdem es kaum zu tagen anfing – saß er bereits am Schreibtisch.

Krzycki erwachte bereits mit Sonnenaufgang, denn auf dem Lande pflegte er stets um diese Zeit aufzustehen, einerlei ob er sich früh oder spät zur Ruhe begeben hatte. An seiner Müdigkeit merkte er jedoch, daß er zu wenig geschlafen hatte und indem er seine kräftigen Arme reckte, dachte er bei sich, daß er höchstens dadurch entschädigt werden könne, wenn Fräulein Anney je erfahren würde, daß er ihretwegen nicht zu schlafen imstande gewesen sei, und wenn sie ihn wenigstens ein bißchen bemitleiden würde. Unterdessen erinnerte er sich, was er heute alles zu tun habe, und machte sich folgenden Plan: Vor allem eine kräftige Dusche, um die Müdigkeit aus den Knochen zu vertreiben, noch vor dem Frühstück nach Rzenslewo fahren, um sich diese »Herrchen« ein bißchen anzuschauen und, falls möglich, mit den Bauern sprechen; dann rückkehren, nach dem Frühstück sich mit Laskowicz endgültig auseinandersetzen und ihn mit dem Wagen, der den Arzt bringen sollte, in die Stadt expedieren; die restliche Zeit wollte er dem Briefschreiben, der Wirtschaft und den Gästen opfern. Nach Rzenslewo beschloß er unbedingt zu reiten; zwar stimmte er im Grunde mit Dolhonski darin überein, daß dort vorläufig nichts zu machen sei, aber er wollte doch auch nicht, daß die Damen etwa glauben könnten, er sei aus Furcht dort weggeblieben.

Nachdem er dies alles überdacht hatte, warf er nachlässig einen leichten Überwurf um, steckte die Fuße in Pantoffeln und begab sich ins Badezimmer, ohne zu ahnen, daß er dort ein merkwürdiges Abenteuer erleben würde, und daß er nach einer Weile zwar nicht eine Alabaster-Statuette, von der Laskowicz die ganze Nacht geträumt, aber doch etwas der Diana im Wasserfalle Ähnliches sehen würde. In derselben Sekunde nämlich, in der er die Tür öffnete, erbrausten geräuschvolle Wasserströme, und im Lichte der blauen Scheiben des Badezimmers sah er unter der Dusche eine nackte, mit bläulichen Perlen bedeckte weibliche Gestalt, die das Haupt ein wenig niedersenkte und die Hände zu den ins Gesicht herabfallenden Haarwellen erhob.

Dies dauerte nur einen Augenblick. Ein gedämpfter Schrei und das Zuschlagen der Tür ertönten gleichzeitig.

Krzycki lief wie ein Wirbelwind in sein Zimmer zurück, und voll Erregung und Schrecken ergriff er mit zitternder Hand die Wasserflasche, goß noch ein Glas Wasser ein und wiederholte unzusammenhängend: »Was ist denn geschehen? Wer war das? Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«

Im ersten Augenblick dachte er, daß es vielleicht Frau Otocka oder Fräulein Marie gewesen sei, und dies wäre doch ein riesiger Skandal. Diese Damen würden sicherlich Jastrzemb sofort verlassen, und er wäre gezwungen, um die Hand derjenigen anzuhalten, die er in diesem Paradieszustande erblickt hatte.

»Ist es denn meine Schuld?« dachte er, »weshalb hat sie nicht die Tür geschlossen? Dort ist ja ein Riegel!«

Er trank wieder ein Glas Wasser, um das erhitzte Blut abzukühlen und nachzusinnen, was nun zu tun sei und wer diese Nymphe gewesen sein möchte.

Nach einer Weile gelangte er zu der Überzeugung, daß es keine der beiden Schwestern gewesen sei. Erstens, weshalb wären sie so zeitig aufgestanden; dann waren ja beide so zart, jenes Wesen war aber stärker und so gebaut, daß – aj! – aj!

Endlich erriet er: Gewiß niemand anderes als diese Schwarze, die ihm den Anblick des Fräulein Anney während der Andacht verdeckte, und die er bei seiner Rückkehr mit Gronski von der Jagd in der dunklen Allee traf. Wenn dem so wäre, dann wäre nichts Schreckliches geschehen, im Gegenteil …

Es fiel ihm ein, daß diese blauen Scheiben doch eine gute Idee waren, weil in solcher Beleuchtung die Erscheinung einfach zauberhaft war. Und bei dieser Erinnerung fühlte er das Bedürfnis nach einem dritten Glase Wasser. Allein er unterließ das nochmalige Trinken, und nach einiger Zeit ging er wieder ins Badezimmer, das nun leer war.

Nachdem er sich gut abgekühlt hatte, zog er sich an und begab sich nach den Ställen. Dort ließ er sich ein Pferd satteln, um nach dem nahen Rzenslewo zu galoppieren.

Es war noch früh am Tage, aber die ganze Natur war schon wach, und taubedeckt und in der Sonne gebadet schien sie freudig aufzujauchzen, ganz wie ein Landmädchen, das im Übermaße von Gesundheit und Leben bis zur Bewußtlosigkeit: Juchhe, juchhe! ruft …

Die Vögel schmetterten aus voller Kehle, im fernen Eichenwalde erscholl der Kuckucksruf, die Goldamsel pfiff zwischen den Wipfeln der hohen Bäume, im Waldesinnern ließ sich mit seiner Brettersägestimme ein alter Rabe vernehmen, der ein volles Nest hütete, und ab und zu platzte ein lachenähnliches Geschrei der Holzhäher heraus.

Krzycki ritt vom Walde auf die offene Straße. Diese säumte von einer Seite ein Getreidefeld, von der anderen eine Wiese ein, von der es nach Torf und Frühling duftete – und die ganz mit goldenen Königskerzen und rosigen Pechnelken bedeckt war, die im warmen Sonnenlichte und unter dem warmen Lufthauche wie im Wonnerausche erbebten.

Diese Wonne, diese allgemeine Fröhlichkeit und Lebensüppigkeit erfüllten auch Krzyckis Brust. Er fühlte sich so jung und kräftig, daß er imstande gewesen wäre, Hunderte von Sozialisten zum Kampfe herauszufordern, aber gleichzeitig auch die ganze Welt und besonders alle Weiber unter dreißig Jahren ans Herz zu drücken. Die Vision der weißen, mit Schuppen aus blauen Perlchen bedeckten Diana erstand wieder vor seinen Augen, da dachte er sich aber, daß, wenn er statt der schwarzen Haarsträhne goldene auf dem gesenkten Haupte erblickt hätte, er gewiß umgesunken wäre.

Unter solchen Visionen langte er in Rzenslewo an, wo er jedoch, wie Dolhonski dies vorausgesagt hatte, nichts ausrichten konnte. »Die Apostel«, die er von Angesicht zu Angesicht sehen wollte, waren nachts zur Stadt gefahren; die Bauern waren auf ihren Feldern beschäftigt, die Fensterläden in der Pfarre noch geschlossen, denn der Pfarrer war seit einigen Tagen leidend. In den Gesindestuben des Herrschaftshauses war keine lebende Seele zu sehen, und erst der alte Scheunenaufseher benachrichtigte Krzycki, daß die Knechte das Vieh getränkt, es dann auf die Weide getrieben hätten und hierauf, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, zur Kirchweihe nach Brzesnia gegangen seien, wohin auch eine große Anzahl Hofbauern und Kleinhäusler sich begeben hätten.

Es war also ein Streik der Gutsdienerschaft und eine offenkundige Auflehnung, doch vorläufig konnte Krzycki nichts dagegen tun. Er ließ nur durch den Aufseher den Knechten sagen, daß nach Rzenslewo solche Herren kommen und Ordnung schaffen würden, vor denen diese Landstreicher, die gestern da waren und es erfuhren, gleich Reißaus genommen hätten. – Dann kehrte er um und war eine halbe Stunde später in Jastrzemb.

Dort meldete ihm der Diener, alles schlafe noch, mit Ausnahme von Herrn Laskowicz, der ihm einen Brief zu übergeben befohlen habe. Krzycki übernahm den Brief und ging damit in die Kanzlei. Nachdem er ihn gelesen hatte, klingelte er den Diener.

»War Herr Laskowicz vollständig angekleidet, als er diesen Brief übergab?«

»Ja – er packte die Sachen.«

»Frage ihn, ob er zu mir in die Kanzlei kommen könne und wenn ja, dann bitte ihn her.«

Bald darauf betrat der junge Student das Zimmer.

Krzycki wies mit der Hand auf den Sessel neben dem Schreibtisch und sagte:

»Guten Tag, mein Herr! Ich ersehe aus Ihrem Briefe, daß Sie Jastrzemb verlassen wollen, und zwar sogleich. Ich nehme an, daß Sie triftige Gründe haben, und darum erachte ich eine Auseinandersetzung hierüber als unnütz und werde Sie nicht aufhalten. Hier haben Sie, was Ihnen gebührt, und die Pferde stehen zur gewünschten Stunde zu Ihrer Verfügung.«

Aber Laskowicz, der in Geldangelegenheiten überaus genau war, zählte das Geld nach und bemerkte:

»Sie zahlen mir den ganzen Gehalt aus, trotzdem er mir nur für den letzten Monat gebührt, weil ich mich selbst vor der Zeit befreie.« Und er warf ziemlich barsch den Restbetrag auf den Schreibtisch.

Um Krzycis Mundwinkel zuckte es. Da er sich aber gestern Gronski gegenüber verschworen hatte, keinen Auftritt hervorzurufen und sich selbst auch dasselbe vorgenommen hatte, erwiderte er ruhig:

»Wie Sie glauben.«

»Und was meine Abreise betrifft, so wünsche ich sofort wegzufahren.«

»Wie Sie glauben«, wiederholte Krzycki. »In einer Stunde schicke ich nach dem Arzt für meine Mutter, wenn es Ihnen gelegen ist, können Sie mit diesem Wagen fahren.«

»Gern.«

»Es ist also abgemacht. Ich werde gleich die nötigen Anordnungen treffen.«

Nachdem er dies gesagt, erhob er sich, verschloß den Schreibtisch, wie um anzudeuten, daß er das Gespräch ebenfalls für beendet erachte.

Laskowicz sah ihn mit haßerfüllten Blicken an. Er suchte keinen Auftritt heraufzubeschwören, aber er ahnte etwas dergleichen, und darum stand er vor Krzycki wie ein straff gespannter Bogen. Doch nichts Ähnliches ereignete sich, und der für alle Fälle in Bereitschaft gehaltene Revolver war durchaus unnötig; Krzycki erwähnte mit keinem Worte des Briefes, obwohl derselbe rauh und barsch geschrieben war.

Und dennoch lag etwas Unliebenswürdiges in dem kalten Tone, in dem Krzycki sprach, und eine gewisse Beleidigung in der Bereitwilligkeit, mit der er das Projekt der sofortigen Abreise annahm. Laskowicz, der dies in seine eigene Lesart übertrug, glaubte natürlich, daß das eisige Gespräch nur das Verhältnis zwischen einem Wohlhabenden und einem obdachlosen Gesellen kennzeichnen solle, zwischen dem Besitzer eines vollen Geldschrankes, dem Eigentümer von Pferden und Equipagen und ihm, dem armen Hauslehrer. Daß er seinerseits nichts tat, um dies Verhältnis zu bessern, eher alles, um es zu verschlechtern, und daß er seit seiner Ankunft sich in eine diesen Menschen feindselige Doktrin, wie eine Schildkröte in ihre Schale verschloß, daran dachte er in diesem Augenblick nicht. Die ganze Szene regte ihn dermaßen auf, daß er die Vermeidung eines ernsthaften Auftrittes fast bedauerte. Da aber Krzyckis Worte keinen Anhaltspunkt zu einem Streite boten, verließ er mit doppeltem Hasse, ohne sich zu verabschieden, die Kanzlei.

Krzycki klingelte dem Diener, befahl, die Pferde in einer Stunde bereit zu halten und, anläßlich des Freitages, den Gärtner zu beauftragen, Fische zu fangen. Hierauf begann er nachzudenken, ob die Angelegenheit mit Laskowicz den gewünschten Verlauf genommen. Er war mit sich zufrieden und zugleich unzufrieden. Das Bewußtsein, daß er lakonisch und entschieden – eisig aber artig gewesen, und daß er es zu keinem Streit kommen ließ, erfüllte ihn mit Zufriedenheit und mit einem gewissen Stolze. Dagegen konnte er sich trotz dieses Stolzes eines gewissen Mißbehagens nicht erwehren; er wiederholte sich zwar, daß solche Auftritte »immer unangenehm seien – und das ist alles!« Eigentlich war aber noch ein anderer Grund vorhanden, nämlich daß sein ganzes Benehmen, das ihm so gemessen, klug und fast diplomatisch erschien, nicht nur nicht aufrichtig war und unmittelbar aus seinem Temperament entsprang, sondern im krassen Gegensatz zu seinem nicht sehr tiefen, doch offenen und aufbrausenden Naturell stand. Wenn er entsprechend demselben vorgegangen wäre, hätte er entweder mit dem jungen Studenten Streit beginnen oder ihm sagen müssen: »Herr Laskowicz, Sie haben uns hier Ihre Stacheln wie ein Igel entgegengestreckt und den Leuten den Kopf verdreht, aber da Sie fortreisen, so reichen Sie mir die Hand und leben Sie wohl!« Das eine oder das andere wäre seinem Charakter angemessener gewesen.

Am weiteren Nachdenken wurde er durch den Diener gestört der mit der Meldung erschien, daß das Frühstück bereits aufgetragen und die Gäste versammelt seien. Im Speisezimmer duftete bereits der Kaffee und der Samowar summte. Beim Anblick der weißen Kleider der Damen und ihrer rosigen frischen Gesichter wurde es ihm auf einmal so licht in der Seele, daß die Erinnerung an die letzten unangenehmen Ereignisse schnell verschwand.

Zum Morgengruß küßte er Frau Otocka die Hand und dann, wie aus Zerstreutheit auch Fräulein Anney, aber so stark, daß sie wie eine Kirsche errötete, hierauf drückte er die Hand Maries, begrüßte die Herren und rief lustig:

»Kaffee, Kaffee! weil ich einen Wolfshunger und seit Sonnenaufgang nur zwei Glas Wasser getrunken habe.«

»Ist denn das eine Kur oder hattest du Hitze?« fragte Gronski.

»Vielleicht hatte ich Hitze, aber außerdem ritt ich nach Rzenslewo hinüber und habe eine Menge Angelegenheiten erledigt …«

»Was macht das ›idyllische, engelgleiche‹ Rzenslewo? unterbrach ihn Dolhonski.

»Gar nichts! Es steht dort schlecht. Diese polizeiwidrigen Personen, die ich sehen wollte, sind nicht mehr da. Doch jetzt will ich vor allem Kaffee trinken und werde jede weitere Frage unbeantwortet lassen.«

Fräulein Marie schenkte in Vertretung von Frau Krzycka, die infolge Rheumatismus länger das Bett hüten mußte, ihm den Kaffee ein, wofür er auch der jugendlichen Cousine die Hand küßte, was Marie sehr freute, da sie dadurch eine Respektsperson zu werden glaubte.

»Das gebührt mir als Vizehausfrau«, sagte sie schelmisch.

»Besonders hinsichtlich Ihres Alters«, ergänzte Dolhonski.

Sie streckte ihm nur deshalb nicht die Zunge heraus, weil sie zu gut erzogen war.

Dolhonski, der an einem Magenkatarrh litt, betrachtete den essenden Krzycki mit Neid und sagte:

»Ist das ein Appetit! Der reine Kannibale!«

»Reite auch du eine Meile vor dem Frühstück und du bekommst denselben Appetit. Übrigens, ein Kannibale oder nicht, aber sicher ist, daß ich imstande gewesen wäre, dies vor mir stehende Bukett zu vertilgen, als ich hierher kam.«

»Es kommen vielleicht noch Zeiten, in denen die Landedelleute nichts anderes zum Essen haben werden«, erwiderte Dolhonski.

Fräulein Marie ergriff rasch das Bukett und schob es lächelnd an das andere Tischende.

»Nach dem Kaffee ist keine Gefahr mehr vorhanden«, meinte Krzycki.

»Welch schöne Feldblumen! Haben die Damen sie selbst gepflückt?«

»Wir sind Langschläfer«, erwiderte Frau Otocka, »dies pflückte Aninkas Stubenmädchen.«

Mit diesem Kosenamen benannten beide Schwestern Fräulein Anney.

Krzycki blickte die Damen scharf an, da jedoch ihre Gesichtszüge ganz ruhig blieben, dachte er.

»Blumen pflückte sie und erwähnte das Abenteuer nicht.«

Und Fräulein Anney drehte langsam den Strauß herum.

»In der Mitte ist eine Apfelblüte – der Tunichtgut von einem Mädchen brach ein Bäumchen, wofür man sie rügen müßte – das sind Ranunkeln, dies Primeln und dies da Taubnesseln, die bald verblühen werden.«

»Merkwürdig, wie gut Sie Polnisch sprechen«, bemerkte Dolhonski, »Sie kennen sogar die Pflanzennamen.«

»Ich hörte sie aus dem Munde der Dorfmädchen in Zalesie bei Sophie«, erwiderte Fräulein Anney. »Ich besitze offenbar ein linguistisches Talent, weil ich von ihnen sogar das ländliche Idiom erlernte.«

»Wirklich?« rief Krzycki – »Sie könnten etwas im Bauerndialekt reden? – So sagen Sie etwas!« bat er mit gefalteten Händen.

Sie lachte und weigerte sich, doch endlich neigte sie den Kopf und legte die äußere Handfläche auf die Stirn, wie es verschämte Landmädchen tun; dann ließ sie sich vernehmen, indem sie jedes Wort in die Länge zog:

»Ich möchte es vielleicht kenna, nur daß ich es nicht wagen tua …«

Lachen und Bravorufen erschallten, nur Frau Otocka warf ihr einen sonderbaren Blick zu, und Fräulein Anney wurde wirklich verwirrt, war aber dabei so hübsch, daß Krzycki schon gänzlich entbrannte.

»Ach! Da kann man ja den Kopf verlieren«, rief er mit wahrem Enthusiasmus, »ich gebe mein Wort, man kann den Kopf verlieren!«

Und Gronski, der gleich den anderen gut gelaunt war, sagte still:

»Und sogar consummatum est! …«

Das weitere Gespräch wurde durch ein Wagengerassel unterbrochen, das vom Hofe herkam und vor dem Gange verstummte.

»Was ist los?« fragte Gronski.

»Ich schicke nach dem Arzt für die Mutter«, antwortete Wladislaw, sich erhebend. »Wer etwas aus der Stadt braucht – sage es.«

Dolhonski und Gronski standen auch auf und gingen ins Vorhaus.

»Und ich wollte dich eben um Pferde bitten«, sagte Gronski, »ich weiß, daß ihr in Jastrzemb nur einen Damensattel besitzt, und deshalb habe ich einen zweiten bestellt, den ich persönlich von der Post abholen muß. Ich wollte hiervon vor den Damen nichts erwähnen, weil es eine Überraschung sein soll.«

»Gut«, erwiderte Krzycki, »aber ich möchte Ihnen einen anderen Wagen beistellen, weil Laskowicz mit diesem fortfährt, und es Ihnen gewiß unangenehm wäre, in seiner Gesellschaft zu sein.«

»Ihm?« sagte Dolhonski, »da kennst du ihn nicht. Er würde gern mit Beelzebubs alter Tante reisen, um nur von ihr etwas zu erfahren, mit ihr zu disputieren und sie allein zu sprechen.«

»Etwas Wahres ist daran«, entgegnete Gronski. »Ich bin wirklich eine Plaudertasche. Ich werde mit Laskowicz gern fahren und ihn zum Sprechen bringen, weil er mich interessiert. »Hast du dich von ihm heute früh endgültig verabschiedet?«

»Ja. Ich muß übrigens auf einen Augenblick zur Mutter gehen, um sie von Laskowicz' Abreise in Kenntnis zu setzen. Ich habe mit ihm abgeschlossen, und zwar ruhig. Ich wenigstens war ganz gelassen.«

»Um so besser! Geh' also zur Mutter, und ich hole mir inzwischen meinen Leinenkittel, weil es gewiß sehr staubig ist. Ich komme sofort wieder.«

Er kehrte auch gleich mit einem weißleinenen Kittel bekleidet zurück. Gleichzeitig trug der Diener Laskowicz' Koffer zum Wagen und bald erschien der Student selbst, verschlossen und finster wie die Nacht, denn der Gedanke, er werde seine alabasterne Statuette nicht wiedersehen, erfüllte ihn mit Schmerz, und zwar um so mehr, da er nach seinen hypnotischen Anstrengungen, sobald der Tag ihn ernüchtert hatte, sich ihr gegenüber im Unrecht fühlte.

Er hätte zwar, statt mit unnützer Hast oben auf seinem Zimmer das Frühstück zu verzehren, hinunter gehen und Fräulein Marie noch eine kleine Stunde ansehen können, doch er wollte es nicht, erstens, um Krzycki nicht zu begegnen, und dann, weil er fühlte, daß er in dieser Gesellschaft die Pilatusrolle im Credo spielen würde. Nun aber bedauerte er, daß er seine Augen nicht zum letztenmal an ihrem Bilde geweidet hatte.

Doch eine angenehme Ueberraschung wartete seiner, denn auch die jungen Damen in Dolhonskis und Wladislaws Gesellschaft begaben sich auf die Veranda hinaus, und als Klein-Ännchen erfahren hatte, daß Laskowicz fortfahre, kam es mit tränengefüllten Augen, einem in Hufeisenform herabgezogenen Mäulchen und einem kleinen Blumenstrauß in den Händchen schnell dahergeeilt, um sich von ihm zu verabschieden. Der junge Student dankte für die Blumen, küßte ihre Händchen und nahm mit schwerem Herzen im Wagen neben Gronski Platz, der währenddessen mit Frau Otocka geplaudert hatte.

Ännchen stieg die Treppe der Veranda hinab und blieb an der Wagentür stehen; ihrem Beispiel folgte Fräulein Marie, und weil sie fürchtete, daß der Wagen beim Fortfahren die Kleine anstoßen könnte, faßte sie deren Hand und tröstete sie.

»Herr Laskowicz wird dich ja nicht vergessen«, sagte sie, indessen sie sich über die Kleine beugte, »er wird dir gewiß schreiben, und wenn er sich sehr sehnen wird – kommt er bestimmt wieder.«

Und dann fuhr sie fort, indem sie auf Laskowicz blickte:

»Nicht wahr, Sie werden sie nicht vergessen?«

Laskowicz schaute tief in ihre klaren Augen, als wollte er sie bis auf den Grund durchschauen, und erwiderte wirklich tiefgerührt:

»Ich werde sie nicht vergessen.«

»Siehst du«, beruhigte Fräulein Marie Ännchen

In diesem Augenblick nahte Krzycki.

»Die Mutter läßt Ihnen Lebewohl sagen«, sagte er. Und sogleich rief er dem Kutscher zu: »Vorwärts!«

Der Wagen setzte sich in Bewegung, beschrieb einen Kreis um den Hof und verschwand in der Allee hinter dem Tore.

Fräulein Anney und die beiden Schwestern begaben sich jetzt zu Frau Krzycka, um ihr Gesellschaft zu leisten, denn an den Tagen, an denen das Leiden ihr mehr zusetzte, pflegte sie das Frühstück im Bette einzunehmen.

Krzycki erinnerte sich, daß er in der Frühe beordert hatte, Fische zu fangen, und ging jetzt durch den Garten zum Teiche um nachzuschauen, ob der Fang geglückt. Bevor er aber das Ufer erreichte, begegnete er unverhofft an einer Windung des schattigen Spaliers seiner Vision von heute morgen, »der Diana im Wasserfalle«.

Das Mädchen blieb bei seinem Anblicke stehen, und ihr Gesicht wurde zunächst flammend rot und dann so blaß, daß der schwarze Lippenflaum ganz deutlich sichtbar war. So stand sie unbeweglich, mit gesenktem Blicke und hochwogender Brust, verwirrt und beschämt.

Er aber sprach vollkommen unbefangen:

»Guten Tag, Fräulein, guten Tag! Wie heißen Sie, Fräulein, eigentlich?«

»Pauline«, flüsterte sie, ohne die Augen zu erheben.

»Ein schöner Name.«

Dann lächelte er ein wenig schelmisch und fügte hinzu: »Aber Fräulein Paulinchen … das nächste Mal … dort ist ja ein Schieber.«

»Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zu ertränken« rief das Mädchen mit verzweiflungsvoller Stimme.

Und er sprach mit überzeugendem Tone:

»Warum? Wozu? Hier ist ja niemand schuldig – das ist ja reiner Zufall. Ich erzähle hiervon niemand, und daß ich so etwas Wunderschönes sah, ist nur mein Glück«

Und er ging zu den Fischen weiter.

Sie folgte mit ihren Blicken der schönen Gestalt und blieb noch lange gedankenvoll stehen, denn es schien ihr, daß wegen dieses nur ihnen beiden bekannten Geheimnisses zwischen ihnen etwas entstanden sei, das sie nun auf immer verbinden würde.

Und dann, als sie sich erinnerte, wie der bildhübsche Jastrzember junge Herr sie gesehen hatte, erschauerte sie vom Kopf bis zu den Füßen.


 << zurück weiter >>