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XIII.

Krzycki jedoch fuhr nach dem Gespräche mit Gronski nicht in die Stadt, da man ihn benachrichtigt hatte, daß die Sitzung der Zarnowskischen Testamentsvollstrecker auf eine Woche vertagt sei. Es geschah dies deshalb, weil in zwei Tagen eine Versammlung der Gutsbesitzer aus dieser Gegend stattfinden sollte, auf der die Altersversorgung der Offizianten und der Gutsdienerschaft zu erledigen war, sowie eine zweite, noch brennendere Frage, nämlich die Einführung der polnischen Sprache in den Gemeinden, woran die Dorfrichter ebenso wie die Landleute großes Interesse hatten.

An diesen Beratungen wollte Krzycki um jeden Preis teilnehmen, da aber dieselben nur an den Vormittagen stattfinden sollten, nahm er sich vor, jeden Morgen hinzufahren und nachmittags nach Hause zurückkehren. In Anbetracht der geringen Entfernung Jastrzembs von der Stadt war das leicht möglich.

Doch die Hoffnung, er würde jene zwei Tage den Gästen und besonders dem teuersten der Gäste ganz widmen können, erwies sich als trügerisch, weil die Rzenslewoer Angelegenheiten wiederum schlecht sich zu gestalten begannen und fast seine ganze Zeit in Anspruch nahmen. Der Streik der Meierhofdienerschaft hörte zwar vollständig auf, so daß die Intervention, zu der Dolhonski geraten, überflüssig wurde. Dagegen ließen sich einzelne Kleinhäusler und auch manche Hofbauern Waldschäden zuschulden kommen, so daß Krzycki gezwungen war, an der Spitze der Orts- und Jastrzember Waldhüter die Übeltäter zu verfolgen. Diese verbargen sich zwar bei seinem Anblick, drohten aber der Dienerschaft mit baldiger Rache. Die Waldhüter erhielten unbeholfene Briefe mit der Versicherung, »daß sie eine Kugel in den Kopf bekommen würden, und der Gutsherr ebenfalls.«

Aber der Gutsherr, dem es an jugendlicher Energie und selbst an Abenteuerlust nicht mangelte, vernachlässigte die Verteidigung der Rzenslewoer Wälder keineswegs, er erschien vielmehr persönlich an Ort und Stelle, rief die Schadenstifter zusammen und kündigte ihnen gerichtliche Verfolgung und Strafe an.

Nachher begab er sich zu dem festgesetzten Termin, um an den Beratungen teilzunehmen. Frau Otocka, Fräulein Marie und Gronski hatten endgültig beschlossen, am nächsten Tage nach Warschau abzureisen. Fräulein Anney willigte infolge der Bitten Frau Krzyckas ein, noch einige Tage zu bleiben und erst mit ihr gleichzeitig aufzubrechen. Wladislaw versprach, baldigst aus der Stadt zurückzukehren, um den Abschiedsabend noch gemeinsam mit den Gästen zu verbringen und zum letztenmal dem zaubervollen Geigenspiel des Fräulein Marie zu lauschen. Er wollte auch bestimmt den Notar und den Arzt mitbringen.

Aus diesem Grunde wartete man mit dem Mittagsmahle. Unterdessen, etwa gegen vier Uhr, schrieb Gronski in seinem Zimmer einen Brief an Dolhonski, Fräulein Marie spielte oben ihre täglichen Etüden, Frau Otocka saß bei der Kranken und Fräulein Anney ging auf die Veranda hinaus, scheinbar um alte Riesenbäume, die den Hof umgaben, zu photographieren, in Wahrheit aber, um auszuschauen, ob jener noch nicht zurückkehre, den man zu Hause erwartete. Darum begann sie, statt zu photographieren, die Augen und die Seele in der schattigen alten Lindenallee umherschweifen zu lassen. Die Hoffnung, sie werde dort unten eine Staubwolke und dann eine Equipage erblicken, aus der ein stattlicher Jüngling alsbald herausspringen würde, erfüllte sie mit inniger Freude. Also in einer Weile wird sie dies hübsche, sympathische, aufrichtige Gesicht vor sich sehen, diese Augen, die ihr mit jedem Blicke hundertmal mehr als die Lippen sagen, und diese Stimme hören, die ihr ins Herz dringt und darin wie Musik weitertönt.

Bei diesem Gedanken erfüllte Fräulein Anney ein solch süßes, ruhiges Gefühl, als wäre sie ein Kind, und eine liebende Hand wiege sie in den Schlaf, oder als rudere sie in einem Kahne, den eine sanfte Welle in unbekannte, strahlende Fernen trägt. Sich wiegen und sich tragen lassen, sich der Welle ganz anvertrauen, ohne vorläufig denken zu müssen, wo der Kahn landen werde – war alles, was des Mädchens Herz in diesem Augenblicke begehrte. Aber auch in anderen Momenten, wenn sie sich fragte, was weiter geschehen werde, blickte sie zuversichtlich in die Zukunft. Nur zuweilen, wenn der Schlaf ihre Lider nicht schließen wollte, flogen durch ihren Sinn dunkle Schmetterlinge, Ungewißheit und Furcht; doch auch dann sagte sie sich, daß, wenn auch der Himmel in Zukunft sich bewölken sollte, sie jetzt doch über sich ein wunderliebliches Firmament habe – und jeder Tag einer Blume gleiche, die sie pflücke, eine nach der anderen, und sie auf die Brust lege. Also dachte sie, es lohne sich schon, deswegen zu leben oder sogar zu sterben.

Allein in diesem Augenblicke als ihre Seele in der Sonne, in der lieblichen Atmosphäre, im Blütensäuseln und in der großen, lichtvollen, ländlichen Ruhe schwelgte, hatte sie durchaus keine Lust zu sterben, denn es schien ihr, sie atme zugleich mit der Luft eine freudige Linderung ein. Alles was sie umgab, verlor allmählich die Merkmale der Wirklichkeit und verwandelte sich in eine bläuliche Vision, in ein Halbwachen, Halbträumen von Glück.

Aus diesem Sinnen weckte sie jetzt eben jener Anblick, in dessen Erwartung sie seit fast einer Stunde hier gesessen hatte.

Am Ende der Allee erschien nämlich die ersehnte Staubwolke und nahte mit ungewöhnlicher Eile heran. Fräulein Anney kam bald zur Besinnung. Im ersten Augenblicke wollte sie fortgehen: »Man muß, man muß!« wiederholte sie sich, »denn sonst könnte er glauben, ich erwarte ihn hier!«

Und sie wäre sehr entrüstet gewesen, wenn ihr jemand gesagt haben würde, dies sei just der Fall.

Ihre Knie wurden jedoch plötzlich so schwach, daß sie sich wiederum setzen mußte; schnell ergriff sie den Apparat, um den Anschein zu erwecken, daß sie sich auf der Veranda nur zum Zwecke photographischer Aufnahmen befinde. Mittlerweile näherte sich die Staubwolke mit stets gleicher Schnelligkeit dem Einfahrtstor. Bald tauchten genau nach dem Bilde, das sich das schöne Mädchen vorher gemacht hatte, die grauen Köpfe der Pferde aus der Staubwolke hervor. Ein blitzartiges Gefühl der Freude ergriff Fräulein Anney: »Wie sie rennen und wie er eilt!« Aber gleich darauf dachte sie, daß die Pferde vielleicht scheu geworden seien, weil die Schnelligkeit des Laufes ihr verdächtig erschien. Mittlerweile waren sie dem Tore schon so nahe gekommen, daß man die fliegenden Mähnen, die aufgeblähten blutigen Nüstern und die wahnsinnige Bewegung der Pferdefüße sehen konnte. Plötzlich stand sie auf, und in ihren Nutzen malte sich ein furchtbarer Schreck, denn sie bemerkte, daß der Kutscher so hingebeugt war, daß man nur den oberen Teil seines Kopfes – ohne Mütze – sehen konnte. Unterdessen liefen die tobenden Pferde ins Tor hinein; der Kutscher fiel bei einer Biegung von seinem Sitze und der Wagen begann nicht minder schnell einen Halbkreis um das Blumenbeet zu beschreiben.

Im Wagen auf dem Hintersitz befand sich nur Krzycki mit emporgehobenem und an das Wagenpolster gelehntem Kopfe. Ein Schrei der Bestürzung drang aus Fräulein Anneys Brust. Die Pferde langten im nächsten Augenblick vor der Veranda an, und da sie gewohnt waren, vor derselben stehen zu bleiben, wühlten sie sich mit den Hufen in die Erde ein. Krzycki machte eine Bewegung – leichenfahl, mit blutbeflecktem Rockkragen und Ärmeln schob er sich aus dem Wagen, und als das Fräulein hinzueilte, rief er, nach Luft schnappend:

»Gar nichts! … Ich bin verwundet, das macht nichts! …« Und er stürzte zu ihren Füßen nieder.

Sie hob ihn sogleich mit einer bei einem Weibe bewunderungswürdigen Kraft auf, und ihn mit den Armen und der Brust schützend, begann sie zu schreien:

»Zu Hilfe, zu Hilfe! Zu Hilfe!«

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