Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Am Abend von Maries Geburtstage trafen Krzycki und Fräulein Anney, zufällig etwas entfernt von der übrigen Gesellschaft, beim blumengeschmückten Pianino zusammen.

Wladislaws Augen leuchteten freudig und glückselig. Er war froh, daß seine Gefangenschaft zu Ende war und er mit der ganzen Glut eines jungen Herzens seine geliebte Gebieterin wieder anschauen durfte.

»Ich weiß«, sagte er, »daß Sie heute früh in der Stadt waren und Blumen kauften. Dies erfuhr ich von Ihrem Stubenmädchen, das einen Brief für Herrn Gronski brachte. Dann gingen Sie in die Kirche. Ich fragte Pauline, in welche, da ich auch dorthin gehen möchte, aber das Mädchen wußte es nicht.«

»Das wundert mich, denn sie weiß ja, daß ich immer in die Heilige Kreuzkirche gehe, und zuweilen nehme ich sie auch mit; ich bin dort jeden Tag in der Frühmesse.«

»Werden Sie auch morgen dort sein?«

»Ja, wenn das Wetter nicht zu schlecht ist.«

Krzycki flüsterte:

»Ich frage, weil ich eine große und herzliche Bitte habe … Erlauben Sie mir, zur selben Stunde vor demselben Altar dort zu sein …?«

Fräulein Anneys Antlitz errötete und ihre Brust fing heftig zu wogen an. Sie neigte das Haupt, bedeckte mit dem Fächerrande die Lippen und entgegnete still:

»Ich habe kein Recht, zu erlauben oder zu verbieten. Die Kirche steht allen Gläubigen offen.«

»Ja. Aber ich möchte für einen Moment neben Ihnen niederknien … zusammen mit Ihnen … und nicht infolge gewöhnlicher Demut, sondern mit besonderer Absicht. Was meine Frömmigkeit anbelangt, so muß ich aufrichtig gestehen, daß ich an Gott – ach! besonders jetzt – glaube, daß ich an seine große Güte glaube, aber bisher bin ich nicht sehr fromm gewesen … So wie alle … Wenn es sich jedoch ums ganze Leben handelt – wäre sogar ein ganz ungläubiger Mensch bereit, niederzuknien und zu beten – neben Ihnen niederzuknien, wäre schon ein besonderes Glück … Denn man hätte einen Engel neben sich. Und ich will um etwas mehr noch bitten, nämlich: daß wir zusammen in demselben Augenblicke beten: ›Unter deinen Schutz flüchten wir uns, heilige Mutter Gottes‹.«

Krzycki schwieg einen Augenblick; seine Stirn war feucht. Nachdem sein Herzklopfen sich etwas gelegt hatte, fuhr er fort:

»›Flüchten wir‹ wird heißen: wir beide. – Nichts mehr, teures, teuerstes Fräulein Anney – nichts mehr! – Dann werde ich fortgehen, und nachmittags erlauben Sie, daß ich in Ihre Wohnung komme, um alles zu gestehen, was mich seit der Zeit, da ich Sie das erstemal in Jastrzemb erblickte, bewegt hat … In Ihren Händen liegt mein Schicksal, aber ich muß es schon aussprechen, denn sonst könnte es mir die Brust zersprengen … Doch wenn Sie gestatten, vorher das ›Unter deinen Schutz flüchten wir‹ zu beten, werde ich glücklich sein …«

Sie schaute ihn gerade und ehrlich durch den bläulichen Schimmer ihrer Augen an und erwiderte nur:

»Kommen Sie morgen in die Kirche.«

Krzycki flüsterte:

»Und nicht imstande sein, Ihnen in diesem Augenblicke zu Füßen zu sinken – nicht imstande sein …«

Aber Fräulein Anney berührte wie unwillkürlich die Handfläche Wladislaws, die sich auf den Rand des Pianinos stützte, und entfernte sich, denn sie bemerkte, da sie nicht so weltentrückt war wie Krzycki, daß man sie beide zu beobachten anfing.

Zu Ehren des Geburtstagskindes hatte sich abends bei Frau Otocka eine zahlreichere Gesellschaft eingefunden. Es erschien der Notar Dzwonkowski, dann ein alter Nachbar aus der Gegend von Zalesie, außerdem Dolhonski und die beiden Damen Wlocki, die man nach gegenseitigem Besuchsaustausch auch eingeladen hatte. Selbstverständlich erschien als erster Gronski und spielte beinahe die Rolle des Hausherrn, worin ihn Maries früherer Violinlehrer Bochener unterstützte, der nicht minder seine Schülerin lieb hatte, und endlich Swidwicki, der an diesem Tage ausnahmsweise nüchtern war.

Frau Otocka war um die Frau Wlocka und deren Tochter beschäftigt. Gronski unterhielt sich mit Swidwicki, wenn seine Augen nicht gerade Marie folgten, die in ihrem weißen, veilchengeschmückten Kleide – schlank und biegsam – in der Tat wie ein Alabasterfigürchen aussah. Aber eben sie und Frau Krzycka begannen mit besonderer Aufmerksamkeit Wladislaw und Fräulein Anney zu betrachten. Maries kleine Ohren spitzten sich vor Neugier und auf Frau Krzyckas Antlitz malte sich Unruhe und leichte Gereiztheit.

Nachdem Fräulein Anney ihr Gespräch mit Krzycki beendigt hatte, begab sie sich zu dessen Mutter und setzte sich auf einen neben ihr stehenden Sessel.

»Herr Wladislaw«, sagt sie, »fühlt sich so glücklich, daß seine Gefangenschaft nun zu Ende ist.«

»Ich sehe es«, erwiderte Frau Krzycka, »aber ich fürchte, daß ihn ernste Gespräche noch zu sehr anstrengen. Was hat er denn so lebhaft erzählt?«

Fräulein Anney senkte eine Weile den Kopf und begann wie verlegen die Falten ihres lichten Kleides zu glätten; doch alsbald, wie wenn sie einen plötzlichen Entschluß gefaßt hätte, richtete sie ihrer aufrichtigen Augen auf Frau Krzycka, so wie früher auf Wladislaw, und erwiderte:

»Er sprach solch liebe und gute Worte: daß er morgen in die Kirche gehen und das ›Unter deinen Schutz‹ … mit mir zusammen beten wolle.«

In ihren Augen waren weder Fragen noch Unruhe, noch auch eine Herausforderung, nur große Güte und Wahrheit.

Frau Krzycki war durch die Aufrichtigkeit dieser Antwort so betroffen, daß sie im ersten Augenblick verstummte. Es schien ihr, daß, was bis jetzt nur zweifelhafte, neblige, unklare Mutmaßung war, plötzlich hell ans Tageslicht treten würde, aber sie versuchte noch, daran zu zweifeln, und sagte nach kurzem Zögern:

»Wladislaw wäre ja sonst undankbar. Er steht so tief in deiner Schuld – ich auch …«

Fräulein Anney verstand sehr gut, daß Frau Krzycka ihr klar machen wollte, nur Dankbarkeit wäre das Motiv der Worte Wladislaws; sie hatte jedoch keine Zeit, Frau Krzycka zu antworten, denn in demselben Augenblicke neigte sich über die Sessellehne Maries schlanke Gestalt:

»Ännchen, kannst du mir eine Minute schenken?«

»Gern«, erwiderte Fräulein Anney.

Sie stand auf und entfernte sich. Frau Krzycka schaute ihr nach und seufzte. In dieser entzückenden Gestalt war so viel Jugend, Gesundheit und Glanz – ihre Zöpfe schimmerten so goldig und ihre Blicke leuchteten so blau; so viel Wärme und weibliche Anmut besaß sie – daß eine ältere und erfahrene Frau, wie es Frau Krzycka ja war, im Grunde der Seele sich gestehen mußte, es wäre ganz unverständlich, wenn Wladislaw gegen so viel Liebreiz gleichgültig bliebe. Sie seufzte zum zweitenmal und dachte: Wozu hat diese Sophie sie nur nach Jastrzemb mitgebracht!? Und sie suchte mit den Augen Frau Otocka, die soeben der Türe sich näherte, um einen älteren Herrn zu begrüßen, der weißes, löwenmähniges Haar und einen weißen Bart trug und der, offenbar sehr kurzsichtig, an der Schwelle stehen blieb und durch eine goldene Brille sich im Salon umsah. Als er endlich Frau Otocka erblickte, ergriff er ihre beiden Hände und küßte dieselben feurig, während sie ihn mit jener scheuen Anmut bewillkommnete, durch die sie einem jungen Landfräulein so ähnlich schien.

»Wie süß und lieb sie doch ist!« dachte Frau Krzycka.

Ihre weiteren wehmutsvollen Betrachtungen unterbrach Swidwicki, der den von Fräulein Anney verlassenen Sessel eingenommen hatte:

»Ihr Sohn, gnädige Frau, ist ein wahrer Ulan von Somo-Sierra. – Was für Rasse! Was für ein Typus! Mir, der ich, wie ein Jagdhund die Rebhühner, überall Schönheit wittere, fiel er sogleich bei Gronski auf. Nur den Säbel in die Hand und aufs Pferd! Oder in eine Ausstellung! Ganz einfach in die Ausstellung als Musterexemplar seiner Rasse! Ach! wie Milch und Blut! Die Mädchen müssen wie toll hinter ihm her sein!«

Frau Krzycka hörte trotz aller inneren Sorgen mit großem Vergnügen die Worte, denn Wladislaws gefälliges Äußere war seit dessen Kindheit eine Quelle ihrer stolzen Freude. Selbstverständlich erachtete sie es als schicklich, dies Swidwicki nicht merken zu lassen.

»Ich lege dem keine Bedeutung bei«, erwiderte sie daher, »und danke Gott, daß man nicht nur das zum Vorteil meines Sohnes sagen kann.«

Swidwicki trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne und sagte:

»Sie messen dem schon eine Bedeutung bei. Gewiß tun Sie es! Und auch diese Damen verstellen sich in derselben Weise – sowohl die junge Engländerin wie nicht minder dies durchsichtige Porzellanfigürchen, obgleich sie scheinbar nur an Musik denkt. Am wenigsten vielleicht noch Frau Otocka, aber nur deswegen, weil sie seit einiger Zeit Plato zu eifrig studiert.«

»Sophie … Plato?« fragte Frau Krzycka.

»Das glaube ich, und bin dessen sogar sicher, denn sonst möchte sie nicht so platonisch sein …«

»Sie versteht ja kein Griechisch.«

»Aber Gronski, und der kann es ihr erklären.«

Frau Krzycka blickte erstaunt auf Swidwicki und brach das Gespräch ab. Da sie ihn erst heute kennen gelernt, hatte sie keine Ahnung, daß dieser Mensch, um witzig zu erscheinen oder um ein jämmerliches Wortspiel zu konstruieren, fähig sei, stets und ständig rücksichtslos zu reden; sie konnte nicht verstehen, weshalb er ihr dies sagte. Seine Worte erhellten einem Strahle gleich verschiedene, ihrer Aufmerksamkeit bisher entgangene Dinge, und sie fand darin einen neuen Beweis, daß ihre geheimen Herzenswünsche immer inhaltlose Träume bleiben würden; sie seufzte zum drittenmal.

»Ach! so steht es also?« dachte sie.

Swidwicki aber lachte:

»Ja, so! so! – Die Cousine ist sehr platonisch veranlagt.«

Und sein Lachen war bitter und sogar gehässig, daß Frau Krzycki ihn wieder verwundert ansah.

Mittlerweile führte Marie Fräulein Anney ins andere Zimmer. Ihre kleinen Ohren wurden immer röter und die Augen erglänzten in einer ganz kindlichen Neugier – folglich legte sie das Näschen an Fräulein Anneys Wange und flüsterte:

»Sage! hat er sich dir vorhin erklärt? Hat er sich erklärt? Sage!«

Und Fräulein Anney umarmte, küßte sie herzlich und flüsterte ihr ins Öhrchen:

»Beinahe.«

»Siehst du … beim Pianino! Ich erriet es gleich! Ho! ho! Ich kenne mich in solchen Dingen sehr gut aus! – Aber wieso beinahe? Wie das: beinahe?«

»Weil ich weiß, daß er mich liebt.«

»Wladek? – hat er dir das gesagt?«

»Er brauchte es gar nicht zu sagen.«

»Ich verstehe! Ich verstehe ausgezeichnet!«

Fräulein Anney lächelte unter Tränen und, nachdem sie zum zweitenmal die kleine Geigerin umarmt hatte, sagte sie:

»Kehren wir in den Salon zurück.«

»Kehren wir zurück«, erwiderte Marie.

Und beim Gehen begann sie wieder mit freudestrahlendem Blick:

»Ihr habt mit Sophie gedacht, daß ich nichts merke – und ich – oho! …«

Im Salon fand indessen ein politisches Gespräch statt. Der schlanke weißmähnige Herr, ein Schulkollege und Freund des seligen Otocki, war Redakteur eines großen Warschauer Blattes.

»Sie glauben«, sagte er, »dies sei ein neuer Stand der Dinge, der von nun an dauernd sein würde: das ist aber nur gewissermaßen ein hysterischer Anfall, nach welchem eine Reaktion sicher eintreten wird. Ich lebe schon lange auf der Welt und habe mehrfach solche Erscheinungen beobachtet … Jawohl, dies ist eine böse und törichte Revolution.«

Wenn Swidwicki von einem Brausekopf gehört hätte, die Revolution sei eine kluge und heilsame Sache, würde er gewiß die Ansicht des greisen Redakteurs geteilt haben; da er aber die Journalisten überhaupt gering schätzte und der Redakteur in gewissen Kreisen als politische Autorität galt, begann er sogleich zu zanken:

»Nur die bodenlose Naivität der Konservativen«, sagte er, »ist imstande, von der Revolution Vernunft und Güte zu verlangen. Es ist dasselbe, als wenn man z. B. von einer Feuersbrunst Sanftmut und Klugheit verlangen würde. Jede Revolution ist das Kind der Leidenschaft, des Unverstandes und des Zornes – und nicht der Güte. Ihre Aufgabe besteht darin, diese alten Formen der Dummheit und des Bösen zu sprengen und in die neuen Formen mit Gewalt Leben zu pressen.«

»Und wie stellen Sie sich diese neuen Formen bei uns vor?«

»Gleichfalls dumm und schlecht, natürlich! Aber doch neu. Auf einer solchen Umwandlung beruht doch unsere und der ganzen Menschheit Geschichte.«

»Eine wahre Philosophie der Verzweiflung.«

»Oder eine lächerliche.«

»Oder der Selbstsucht.«

»Ja, denn meine Parteilichkeit beginnt und endigt bei mir.«

Gronski wurde ungeduldig; der alte Literat nahm seine Brille ab, und, indem er sie putzte, erwiderte er gleichgültig:

»Gestatten Sie, Ihre Parteilichkeit mag ja ganz interessant sein, doch ich wollte etwas anderes sagen.«

»Also weniger Interessantes.«

Doch der alte Herr wandte sich an Gronski:

»Unsere Sozialisten wollen die Wohnung umbauen, ohne daran zu denken, daß wir dicht zusammen nur ein paar Stuben bewohnen. In den anderen Räumen befinden sich Fremde, die das Umbauen nicht zugeben werden. Oder sie gestatten wohl das Abreißen, aber nicht das Wiederaufbauen.«

»Dann sprengen Sie schon besser das ganze Gebäude mit Dynamit in die Luft!« warf Swidwicki ein.

Ohne diesen Zwischenruf zu beachten, entgegnete Gronski: »Es wundert mich sehr, daß die Konservativen, statt die Revolutionäre zu bekämpfen, sich gegen die polnischen Patrioten wenden, die doch allein die Macht besitzen der Revolution entgegenzutreten. Das macht aber wohl der Bureaukratie Freude.«

Der Redakteur suchte seine Teetasse, trank ein wenig und entgegnete dann:

»Die Sache hat ihren Grund teils in ihrer größeren Kurzsichtigkeit, teils in ihrer größeren Vernunft.«

»Aber hören Sie!« rief Swidwicki dazwischen ob dieser paradoxen Antwort.

Der Herr aus Zalesie, der den Worten des Redakteurs gelauscht hatte, fragte:

»Wieso denn, mein lieber Herr? Das verstehe ich nicht.«

»Es ist aber so«, erwiderte der Redakteur, »ihre größere Kurzsichtigkeit bezieht sich auf ihren engeren Horizont, der sie verhindert, in die Zukunft zu schauen, in die fernen Zeiten, die eine große Bedeutung haben werden – natürlich, wenn die Vaterlandsliebe nicht vorher erloschen ist. Man muß die zukünftige Geschichte ahnen können, aber diese Fähigkeit geht ihnen ab. Wenn es sich aber um Zustände in der Gegenwart handelt, dann sind die Konservativen wohl vernünftiger und schlauer, da sie die Dinge nüchterner ansehen und weniger Fehler machen. Ich kann ganz unparteiisch sprechen, da ich keiner Partei angehöre.«

»Ich spreche ihnen jede Existenzberechtigung ab, jetzt und für die Zukunft«, entschied Swidwicki. »Es wird durch die Geschichte bestätigt, daß das, was vor hundert oder fünfzig Jahren als sozialer Wahnsinn galt, heute Trumpf ist. Und so wird es stets bleiben.«

»Wohl möglich«, meinte Gronski, »aber wenn die hitzigen, radikalen Gefühle sich sofort in große Taten umwandelten, so würden Verbrechen begangen und es entständen Fehler, die der Zukunft schadeten; und das ist meistens der Fall.«

»Vermutlich schrecken die Konservativen davor zurück«, antwortete der Redakteur, »vor diesem glühenden, oft sinnlosen Patriotismus. Früher hatten sie Angst, daß die Bauern, die den ›Polen‹ lasen, zu den Sensen greifen könnten, heute schrecken sie vor jedem Wort, das ein Hitzkopf vom künftigen polnischen Staat fallen läßt.«

»Polnischer Staat!« sagte Swidwicki ironisch. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen von einem verrückten russischen Beamten, der an Größenwahn litt. Er bildete sich nämlich ein, er sei der Größte im Himmel und auf Erden. Und was meinen Sie wohl, für wen er sich hielt?«

»Nun, für den Herrgott selbst?«

»Höher.«

»Ich gestehe, da verläßt mich meine Einbildungskraft«, sagte Gronski.

»Also wisse! Der Mann hatte einen noch höheren Rang ausgeklügelt, er hielt sich für den Präsidenten der ›Heiligen Dreifaltigkeit‹. Ist das nicht viel höher?«

»Gewiß, aber wozu diese Geschichte?«

»Um zu beweisen, daß es für ein krankes Hirn keine Unmöglichkeiten gibt; und nur ein solches Hirn kann über einen polnischen Staat nachgrübeln.«

Gronski schwieg eine Weile und sagte:

»Zwanzig Millionen Menschen ist doch schon ein Material – und lasse es dir sagen, daß die ›Präsidentschaft der Heiligen Dreifaltigkeit‹ eine größere Unwahrscheinlichkeit ist. Was weißt du von der Zukunft, und wer mag dieselbe erraten? Du kannst höchstens sagen, daß in den heutigen Verhältnissen der Gedanke, etwas Ähnliches durch die Revolution zu schaffen, ein Fehler und sogar ein Verbrechen sein würde. Aber unsere Nation wird nur dann übergeschluckt, wenn sie sich eben überschlucken läßt. Und wenn nicht? Wenn sie durch große, edle Arbeit Bildung erlangt und soziale Disziplin, Wohlstand, Rüstigkeit, Gesundheit und ruhige, innere Macht? Was dann? Und wer könnte heute sagen, wie sich in Zukunft die politischen und sozialen Zustände gestalten werden? Wer kann verbürgen daß die heutigen Regierungssysteme sich von Grund aus nicht ändern und als so töricht und verbrecherisch erklärt werden wie heute z. B. die Tortur? Wer kann erraten, welche Ströme in dem großen Meere, das die Menschheit darstellt, entstehen werden? Ein Mensch, der z. B. zu Ciceros Zeiten gesagt hätte, die soziale Ordnung könnte ohne Sklaverei bestehen, wäre als verrückt verschrien worden, und trotzdem gibt es heute keine Sklaven mehr. Auch in den politischen Verhältnissen kann so etwas eintreten. Die heutigen Verhältnisse der Übermacht können in freiwillige und freie Vereinigungen umgewandelt werden. Ich weiß nicht, ob es so kommen wird, du aber kannst auch nicht das Gegenteil behaupten. Und angesichts dessen sehe ich die Notwendigkeit einer ruhigen, ernsten Arbeit ein, nicht aber die Notwendigkeit, sich von Idealen gänzlich loszusagen und ich erkläre dir sogar, ein Pole, der im Grunde seines Herzens dies große Ideal nicht hegt, ist ein Renegat, und ich begreife nicht, warum er nicht allem entsagt.«

»Schreibe das in Versen, und zwar in lateinischen auf«, erwiderte Swidwicki ungeduldig, »denn auf diese Weise würdest du weniger Leuten den Kopf verdrehen.«

»Dann würden vielleicht die heutigen Gegner uns selbst sagen: richtet euch nach eurem Gutdünken ein. Jetzt scheint es nur Phantasie zu sein, aber die Zukunft trägt in ihrem Schoß Überraschungen, von denen nicht nur kurzsichtige Politiker, sondern auch weitblickende Philosophen sich nichts träumen lassen.«

Darauf, wohl weil er dieses Gesprächs überdrüssig war, fügte er hinzu:

»Lassen wir das. Ich hänge das Hörrohr auf und breche die Unterredung ab. – Heute muß man sich nicht mit der Politik befassen, denn solche Dinge langweilen.«

Nach diesen Worten wandte er sich an die neben Fräulein Anney stehende Marie, welch letztere, den Kopf schüttelnd, mit großem Eifer rief:

»Im Gegenteil! Ich bin ganz Herrn Gronskis Ansicht.«

Und sie errötete bis über die Ohren, denn alle lachten. Swidwicki aber erwiderte:

»Ah, wenn es so ist, dann ist ja alles schon erledigt.«

Krzycki lächelte auch über Maries Verlegenheit, obgleich er im Grunde genommen nicht genau wußte, um was es sich handelte, denn seine ganze Seele konzentrierte sich in den verliebten Augen, mit denen er Fräulein Anney betrachtete. Sie stand zwischen zwei Sesseln, ruhig, lächelnd, und blendend in ihrem weißen Kleide, taufrisch wie ein Sommermorgen – und nur nach dem letzten Gespräch noch rosiger als gewöhnlich; er aber verschlang sie förmlich mit seinen liebestrunkenen Blicken. Das Herz und die Sinne rasten in ihm. Er schaute auf ihr strahlendes Antlitz, auf die entblößten wie aus weißem Marmor gemeißelten Arme, auf die gewölbte, starke Brust, auf die geschmeidigen Linien ihrer schlanken Gestalt, auf die Konturen der unter dem leichten Kleide sich abzeichnenden Knie – und eine Begierde bemächtigte sich seiner, die mit den Gefühlen der Anbetung für dieses kristallreine Mädchen in krassem Widerspruch standen. Der Puls schlug ihm stärker, die Stirnadern schwollen. Bei dem Gedanken, daß sie seine Frau werden und er in den Besitz all dieser Schätze gelangen würde, flammte sein Blut lichterloh auf und zugleich ergriff ihn eine solche Schwäche, daß er zeitweise befürchtete, sich von dem Sessel nicht erheben zu können. Gleichzeitig stritt er mit sich selbst und war entrüstet über »dies Tier«, das er in sich nicht bezähmen konnte, er belegte sich selbst mit den ärgsten, Schimpfworten, weil er sie – »diesen Engel« – nicht so liebte, wie er sollte, mit derjenigen Liebe, die nur kniet und verehrt. Deshalb kniete er in Gedanken vor der Angebeteten nieder, umfaßte ihre Füße und flehte um Verzeihung; wenn er sich jedoch vorstellte, daß seine Lippen ihre Füße berührten, packte ihn die Begierde wieder. Und in diesem Zwiespalt fühlte er sich ihrer unwert, nicht nur als »Tier«, auch zugleich als ein unreifer und täppischer Fant, allen Verstandes, aller Ruhe und Sichbeherrschens bar, wodurch ein echter Mann sich auszeichnet. Große Verwunderung ergriff ihn darüber, daß alles dies so viel Wonne verursachen, gleichzeitig aber auch so martern könnte.

Glücklicherweise wurden seine weiteren Qualen durch das Musizieren unterbrochen, das jede Abendgesellschaft bei Frau Otocka zu beschließen pflegte. Bochener setzte sich ans Klavier, der eifrige Notar Dzwonkowski probte die Flöte, und Fräulein Marie stand daneben mit der Geige – und wenn die Anwesenden an ihren Anblick nicht gewöhnt gewesen wären, hätten sie über die Veränderung, die mit ihr vorging, gestaunt. Das wunderschöne, aber kindliche Gesichtchen des anmutigen und immer neugierigen Mädchens wurde augenblicklich ernst und sehr ruhig. Ihre Augen nahmen einen sinnenden und traurigen Ausdruck an. Auf dem roten Hintergründe des Saales sah ihre schmale, weiße Gestalt wie eine wohlstilisierte Glasmalerei auf einem Kirchenfenster aus. Etwas wie ein Heiligenschein umgab sie.

Das Terzett begann. Die sanften Töne beruhigten Krzyckis erregtes Gemüt. Seine Sinne besänftigten sich langsam und die Begierde erlosch. In seinem Herzen wurde es still … Seine Liebe verwandelte sich in einen großen, geflügelten Engel, der die Angebetete in seine Arme schloß wie ein schlummerndes Kind und mit ihr in das unermeßliche All, vor die aus dem Schimmer der Abendröte und dem Glanze der Sterne errichteten Altäre entschwebte.

Es war spät, als Gronski, Swidwicki und Wladislaw von Frau Otocka sich verabschiedeten. In den Straßen begegneten sie nur wenigen Passanten, dafür aber desto mehr Polizei- und Militärpatrouillen, von denen sie angehalten und um ihre Pässe befragt wurden.

Swidwicki spielte diesmal nicht die Rolle eines Betrunkenen, denn er war bei schlechter Laune, weil er bei Frau Otocka sich mit nur zwei Gläschen Wein hatte begnügen müssen. Deshalb zeigte er den Polizisten nicht nur seinen Paß, sondern auch seinen Frack und die weiße Krawatte, und fragte ärgerlich, ob Sozialisten und Banditen sich auch auf diese Weise kleideten. – Sie gingen weiter.

»Daß die einen wie die anderen der Teufel hole!« rief er erbost, mit dem Stocke auf das Pflaster schlagend. »Zum Überfluß ist alles gesperrt, nicht nur die Restaurants, sogar auch die Apotheken, wo man im Notfalle »Vin de Coca« oder Spiritus bekommen könnte. Die Apotheker streiken! So etwas lebt nicht! Die Ärzte sollten auch noch streiken, und dann würden natürlich auch die Totengräber den Betrieb einstellen. Hole sie allesamt der Geier! Zu Hause habe ich nicht eine Flasche, werde deshalb die ganze Nacht kein Auge schließen können, und morgen bin ich wie gerädert.«

»Komm' zu uns«, sagte Gronski. »Es wird sich vielleicht eine Flasche und auch schwarzer Kaffee finden.«

»Du wirst nicht nur mir, sondern auch meinem ›Genossen ‹ das Leben retten, besonders wenn sich zwei Bouteillen vorfinden würden.«

»Wir werden nachschauen. Aber von welchem ›Genossen‹ sprichst du?«

»Ja, richtig, ihr wißt ja noch nichts davon. Ich werde es euch beim Gläschen erzählen.«

Bis zu Gronskis Wohnung war es nicht weit, deshalb saßen die drei bald am Tische, auf dem sich eine Flasche edler Chambertin und die Maschine mit dem wonnig duftenden schwarzen Kaffee befand.

»Diese Damen«, sagte er, »sind wahre Engel und deshalb ist man auch bei ihnen wie im Paradiese, wo das Glück hauptsächlich in Betrachtung des ewigen Lichtes und im Anhören der Engelchöre besteht.«

Hier wandte er sich an Krzycki:

»Ich bemerkte, daß Ihnen und Gronski dies genügt – aber für mich ist es absolut zu wenig.«

»Wetze nur deine Zunge nicht an diesen Damen«, erwiderte Gronski, »oder ich lasse die Flasche sogleich fortnehmen.« Swidwicki ergriff dieselbe mit beiden Händen.

»Ich verehre sie alle drei!« rief er mit drolligem Eifer.

»Von welchem ›Genossen‹ sprachst du denn vorhin?«

Swidwicki nahm einen kräftigen Schluck und indem er die Augen schloß, schien er den Wert des Weines abzuschätzen.

»Ich beherberge seit heute früh einen Galgenstrick«, sagte er, »auf den die Polizei fahndet; und wenn sie ihn bei mir findet, werden wir beide gehängt.«

»Und du hältst ihn trotzdem bei dir verborgen?«

»Ich habe ihn bei mir aufgenommen, weil ihn jemand zu mir brachte, dem ich nichts abschlagen konnte.«

»Ich wette – eine Weibsperson!«

»Selbstverständlich! und ich kann noch zufügen, eine hübsche und eine von denen, die einen entsprechenden elektrischen Strom in mir erwecken. Aber den Namen kann ich nicht nennen, weil sie mich um Diskretion bat.«

»Ich frage nicht«, erwiderte Gronski, »und was den elektrischen Strom anbelangt, bezweifle ich ihn nicht, denn sonst würdest du dich gewiß nicht der Gefahr aussetzen.«

Darauf erwiderte Swidwicki:

»Ihr wißt ja, daß ich nichts auf der Welt fürchte, und das gewährt mir in diesem Sklavenlande jene unerhörte Freiheit wie kein anderer sie besitzt.«

Nach diesen Worten leerte er sein Glas und rief:

»Es lebe die Freiheit – aber nur meine eigene!«

»Dies alles zeigt, daß du ein ziemlich gutes Herz hast.«

»Gar keine Spur! Ich tat dies vorerst in Erwartung einer Belohnung, über die ich übrigens in so tugendhafter Gesellschaft nicht weiter sprechen will – höchstens nach einer zweiten Flasche – und dann auch deshalb, um jemand zu haben, dem ich auf dem Kopfe herumtanzen kann. Ich versichere euch, daß mein Galgenstrick nicht auf Rosen gebettet sein wird, und wer weiß, ob er nach einer Woche nicht den Galgen meiner Gastfreundschaft vorziehen wird.«

»Möglich. Aber mittlerweile …«

»Mittlerweile kaufte ich ihm ein Haarwasser, um seinen schwarzen Schopf in einen blonden zu verwandeln. ›Are te biondegiante‹ – wie zu Tizians Zeiten. Ich empfinde auch eine stille Freude bei dem Gedanken, daß die Polizei sich auf den Kopf stellen mag, um ihn zu finden und ihn doch nicht finden wird.«

»Und wenn sie ihn dennoch findet?«

»Ich zweifle. Erinnerst du dich, daß ich eine Zeitlang einen jungen, weit aus Bessarabien gebürtigen Lakaien hatte? Vor zwei Monaten etwa hat er mich bestohlen und ist fortgelaufen. Er schrieb mir dann aus Newyork und schlug mir etwas vor, was ich euch jedoch nicht wiederholen will. Ein prächtiger Typus! Ganz modern. Also er bat mich vor der Flucht um seinen Paß, und zwar aus dem Grunde, weil man jetzt jeden Augenblick nach dem Passe gefragt würde. Ich legte denselben damals jedoch in ein Buch und konnte ihn nicht wieder finden – jetzt entdeckte ich ihn zufällig vor zwei oder drei Tagen, so daß mein neuer Galgenstrick nicht nur blondes Haar, sondern auch einen Paß haben wird.«

»Wird er dich nicht gleich seinem Vorgänger bestehlen?«

»Ich sagte ihm, daß er dies tun solle, aber er fühlte sich sehr beleidigt. Es scheint, daß er von früh bis abends sich gekränkt fühlt – und wenn er mich schließlich doch bestiehlt, wird er es nur aus Beleidigung tun, daß ich so etwas voraussetzen konnte. Der kleine Schelm, der ihn mir auf den Hals hetzte, versicherte auch, daß er ehrlich sei, nannte mir aber nicht einmal seinen Namen. Ein durchtriebenes Mädchen! … Denn sie meinte so: ›Wenn man ihn findet, werden Sie sich damit entschuldigen können, daß Sie nicht wußten, wer er sei!‹ Und sie hat recht – obwohl sie, wenn es sich um einen kleinen Dankbarkeitsbeweis handelt, wie eine Katze kratzt. Ich setze mich ihretwegen der Gefahr des Gehängtwerdens aus, und als ich sie ein bißchen … dies … wollte … hätte ich beinahe eine Ohrfeige bekommen.«

Gronski zog die Brauen zusammen, schaute Swidwicki scharf an und sagte hierauf:

»Pauline, das Dienstmädchen des Fräulein Anney, fragte mich heute morgen nach deiner Wohnung. Sage mir, was hat das zu bedeuten?«

Swidwicki nahm sein Glas und trank.

»Sie war auch da – ja – sie war. Frau Otocka schickte mir durch sie eine Einladung.«

»Frau Otocka hätte dir durch Pauline eine Einladung geschickt? Das mache einem anderen weis.«

»Was willst du denn eigentlich?« fragte Swidwicki, den Unbefangenen spielend, während ihm der Schalk im Nacken saß, »sie wollte die Einladung durch einen Dienstmann besorgen lassen, aber die streiken seit gestern. Jetzt streiken alle. Die Mädchen auch – mit Ausnahme der ›Genossinnen‹, besonders der älteren und häßlicheren unter ihnen. Denn wenn diese streiken, tun sie es ›sans le vouloir‹ …«

Diese Antwort schien Gronski ausreichend zu sein, denn tatsächlich waren seit gestern abend keine Dienstmänner auf den Straßen zu sehen, übrigens schnitt Swidwicki nunmehr ein anderes Thema an.

»Ich habe ihn nicht deshalb aufgenommen«, sagte er, »um einen Narren zu retten, sondern weil ich mich langweile und es mir so beliebte. Ein weiser Italiener sagte einmal, daß die Gottheit, die alles in der Welt im Zaume hält, ›la paura‹, die Furcht, heißt. Und der Mann hat recht. Wenn die Menschen nicht fürchteten, könnte nichts bestehen, keine einzige soziale Daseinsform! Auf dieser Furchtleiter gibt es verschiedene Sprossen, und die höchste ist die Todesfurcht. Der Tod? – das ist die wahre Gottheit! … Reges rego, leges lego, judices judico!« … Und ich gestehe, daß ich, der sein Leben lang mit dem Hinunterwerfen verschiedener Gottheiten von ihrem Piedestal zu tun hatte, mir die größte Mühe gab mit dieser Gottheit fertig zu werden – und das führte ich so gut aus, daß ich aus ihr meinen Hund machte.«

»Was hast du gemacht?«

»Einen Hund, dem ich, so oft es mir gefällt, gegen den Strich über die Haare fahre, wie zum Beispiel jetzt, wo ich dieses revolutionäre Bübchen zu mir nahm. – Aber das ist noch nichts! Unter welchem Entsetzen leben die Menschen jetzt: Das Beil, der Galgen, die Kugel, der Krebs, die Schwindsucht, der Typhus, die Tabes – monate- und jahrelang dauernde Qualen – warum? Infolge der Todesfurcht. Ich aber spotte ihrer. Mich hängt kein Henker, der Krebs wird mich nicht fressen, die Schwindsucht nicht dahinraffen, die Qual nicht zum Verräter machen, weil ich dieser Gottheit, vor der alle zittern, im gegebenen Falle wie einem Spürhunde ›Kusch!‹ zurufen werde! …"

Hierauf lachte er auf und fuhr fort:

»Und dieses mein wütendes Bübchen versteckte sich dennoch – vor dem Tode. Sage mir, wie wäre es dann, wenn sie sich wirklich vor dem Tode nicht fürchteten?«

»Dann wären sie nicht sie selbst«, entgegnete Gronski, »sie wollen ja das Leben und nicht den Tod.«

Swidwicki hatte die Wahrheit gesagt, als er beteuerte, den Namen des Revolutionärs, dem er ein Asyl gewährte, nicht zu kennen, denn Pauline hatte es ihm tatsächlich verheimlicht, da sie es so mit Laskowicz vereinbart hatte.

Als der junge Student erfuhr, daß Swidwicki, zu dem ihn das Mädchen führte, ein Bekannter Gronskis und der Frau Otocka sei, betrübte ihn dies im ersten Augenblick ungemein. Er erinnerte sich an die Briefe, die er an Fräulein Marie geschrieben und an das gehässige Verhältnis zu Krzycki, auf den unlängst seine Partei ein Attentat verübt hatte. Persönlich war er zwar an dem Überfall nicht beteiligt gewesen, und die Idee war auch nicht von ihm ausgegangen. Jedenfalls hatte aber das Komitee auf Grund seiner Rapporte, die Krzycki als das Haupthindernis für die Propaganda bezeichneten, das Todesurteil gefällt, er dagegen nichts unternommen, das Unheil abzuwehren. Im Grunde der Seele frohlockte er sogar, daß dieser gehaßte Mensch und zugleich sein mutmaßlicher Rivale aus dem Wege geräumt würde. Eine Zeitlang empfand er durch dies »Händewaschen in Unschuld« ein gewisses inneres Mißbehagen, aber bei der Nachricht, daß der Überfall mißlungen sei, fühlte er eine gelinde Enttäuschung.

Und nun suchte er Unterkunft bei einem Menschen, der mit Frau Otocka verwandt war, und von den Briefen an Marie und dem ganzen Verhältnisse zu Krzycki Kenntnis erhalten konnte. Es war dies wirklich ein fatales Zusammentreffen, das die besten Absichten Paulines zu vereiteln drohten. Alles dieses in Erwägung ziehend, bat Laskowicz das Mädchen, seinen Namen nicht zu nennen, und als Grund dafür anzugeben, daß im Falle einer Entdeckung durch die Polizei Swidwicki weniger verantwortlich wäre.

Pauline gab ihm ganz recht, bemerkte jedoch nach einer Weile, daß, wenn Herr Gronski je Swidwicki besuchen würde, dann alles verraten sei.

»Ja«, erwiderte der Student, »aber ich benötige dieses Asyl nur für einige Tage; dann suche ich mir ein anderes, oder vielleicht schickt mich meine Partei ins Ausland.«

»Welche Partei?« fragte das Mädchen.

»Jene, die Freiheit und Brot für alle verlangt und nicht gestatten will, daß jemand sich mit seinem Stande oder Gelde über das Fräulein erhebe.«

»Das verstehe ich nicht. Aber wie ist das eigentlich? Ich würde also kein Dienstmädchen mehr sein und keine Gebieterin haben?«

»Ja.«

Pauline war es sogleich klar, daß sie in diesem Falle dem »jungen Herrn« näher wäre, da sie jedoch keine Zeit hatte, darüber länger nachzudenken, wiederholte sie:

»Ich verstehe nicht. Später werde ich fragen, und jetzt lassen Sie uns weitergehen.«

Und sie gingen schweigend weiter, bis sie vor Swidwickis Tür anlangten. Auf das Läuten öffnete er ihnen selbst. Mit Verwunderung, aber auch mit einem eigentümlichen Lächeln bemerkte er auf dem dämmerigen Vorplatz Paulinchen, und dann, als er Laskowicz erblickte, fragte er:

»Und wozu ist denn der da? – wer ist es?«

»Können wir eintreten, und kann ich mit Ihnen unter vier Augen sprechen?« fragte das Mädchen.

»Bitte, je mehr unter vier Augen, desto angenehmer für mich«, war Swidwickis Antwort.

Und sie traten ein. Der Student blieb im Vorzimmer; während Swidwicki Pauline in das nächste Zimmer führte und die Tür hinter sich zuschloß. Laskowicz betrachtete die Stube, die sich in großer Unordnung befand; Bücher und Bilder lagen wild umher und an den Wänden standen eine Menge weiß und blau etikettierter Flaschen. Unter dem Fenster auf dem runden Tisch lag ein Haufen Zeitungen, und daneben stand eine Flasche mit der Aufschrift » Vin de Coca-Mariani« – ferner einige Aschenbecher mit Zigarren- und Zigarettenresten. Die Möbel in der Stube waren schwer und zeugten von großem Wert, jetzt aber waren sie schmutzig. Unter den an den Wänden hängenden Bildern befand sich ein Porträt der Frau Otocka, sie in jungen Jahren darstellend. Aus einer Ecke schimmerte die bekannte Statue der neapolitanischen Psyche mit beschädigter Hirnschale hervor.

Der Student stellte den Blumentopf mit den italienischen Lilien auf den Tisch und begann zu horchen. Es handelte sich ja um sein Leben, denn wenn man ihm ein Obdach verweigerte, wurde er unfehlbar arretiert. Durch die verschlossene Tür hörte er von Zeit zu Zeit Swidwickis Lachen, und aus den abgebrochenen Sätzen, die er vernahm, tönte die Stimme des Mädchens manchmal bittend, zuweilen zornig und entrüstet.

Das dauerte eine geraume Zeit. Endlich öffnete sich die Tür, und zuerst kam Pauline, sichtbar aufgeregt und mit geröteten Wangen, und hinter ihr Swidwicki, der sagte:

»Gut! Wenn das reizende Paulinchen es wünscht, so werde ich niemand sagen, wer mir diesen ›feinen Herrn‹ hergeführt hat, und ich werde ihn in rosa Watte wickeln, aber nur unter der Bedingung, daß Paulinchen mir wenigstens ein bißchen dankbar ist.«

»Ich bin ja dankbar«, erwiderte das Mädchen gereizt.

»Hier sind Beweise«, sagte Swidwicki, ihr den zerkratzten Handrücken zeigend. »Eine Katze würde nicht besser kratzen können. – Aber wenn ich Paulinchen nur anschauen darf, bin ich auch damit zufrieden. Das nächste Mal finden sich wohl auch Süßigkeiten …«

»Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen – aber recht bald und häufig!«

Das Mädchen nahm den Blumentopf und ging hinaus. Da steckte Swidwicki die Hände in die Taschen und starrte Laskowicz so an, als ob er nicht einen Menschen, sondern nur sonderbares Tier vor sich hätte. Laskowicz schaute ihn auch an, und diese kurze Spanne Zeit genügte zu der Erkenntnis gegenseitigen Mißfallens.

Endlich brach Swidwicki das Schweigen:

»Und Sie, verehrter Herr, welcher Partei gehören Sie eigentlich an? – den Sozialisten, Anarchisten oder Banditen? Bitte, genieren Sie sich nicht! Ich frage nicht nach Ihrem Namen, aber wir müssen ja auf irgend welche Weise miteinander bekannt werden.«

»Ich gehöre der polnischen Sozialistenpartei an«, erwiderte mit gewissem Stolze der Student.

»Ah, also zu der dümmsten! Ausgezeichnet! Das ist gerade so, wie wenn jemand sagen würde: zur atheistisch-katholischen oder national-kosmopolitischen. Es ist mir ein Vergnügen, Sie zu begrüßen.«

Laskowicz war von Natur nichts weniger als demütig, und dabei begriff er im Nu, daß er es hier mit einem Menschen zu tun hatte, bei dem er es mit Fügsamkeit nicht weit bringen werde, deshalb schaute er Swidwicki gerade in die Augen und erwiderte beinahe mit Verachtung:

»Wenn Sie orthodox und Pole sein können, kann ich auch Sozialist und Pole sein.«

Aber Swidwicki lachte auf:

»Nein, Herr Chef«, sagte er. »Der Katholizismus ist wohl nur ein Geruch. Man kann eine Katze sein und einen stärkeren oder schwächeren Geruchssinn besitzen, aber Hund und Katze in einer Person kann man doch nicht sein.«

»Ich bin gar kein Chef, nur Agent dritten Ranges«, erwiderte Laskowicz. »Sie gaben mir zwar Obdach, nehmen sich selbst aber das Recht, mich zu verspotten.«

»Vollständig, vollständig! Doch dafür werde ich gar keine Dankbarkeit verlangen. Wir können übrigens das Gesprächsthema wechseln. Nehmen Sie Platz, Sie Herr Agent dritten Ranges. Wie steht's? Was macht Seine Majestät der König.«

»Welcher König?«

»Der dem du dienst und der heute die meisten Hofleute hat; der am wenigsten von allen die Wahrheit verträgt und am leichtesten Schmeicheleien verschluckt; – der im Winter nach Schnaps und im Sommer nach saurem Schweiß riecht; der voller Geschwüre und Läuse, dieser räudige, stinkende und gnädig oder ungnädig uns regierende König: – Pöbel!«

Wenn Laskowicz die ungeheuerlichsten Schmähungen gegen alle Heiligtümer, die die Menschheit verehrt, vernommen hätte, wäre er nicht so erschüttert, wie durch diese Äußerungen Swidwickis. Es war für ihn ein Faustschlag ins Gesicht. Es wurde ihm finster vor den Augen, die Kinnladen schlossen sich krampfhaft zusammen, seine Hände zitterten heftig. Im ersten Augenblick empfand er eine unbezähmbare Lust, Swidwicki mit der Browningpistole, die er bei sich trug, eine Kugel durch den Kopf zu jagen, dann die Tür zuzuschlagen und zu gehen, wohin ihn die Füße tragen würden oder sich den Revolverlauf ans Ohr zu legen und den eigenen Kopf zu zerschmettern. Aber seine Kräfte versagten; die ganze Nacht hatte er in der Druckerei gearbeitet, dann war er über Dächer und durch Straßen geflohen wie ein wildes Tier; er war ermattet und durch die schrecklichen Eindrücke des heutigen Morgens völlig erschöpft; er begann zu wanken, erblaßte wie eine Leiche und würde zur Erde gefallen sein, wenn in der Nähe nicht ein Sessel gewesen wäre, auf den er schwer wie ein Toter niederglitt.

»Was ist das! Was zum Teufel fehlt Ihnen?« – rief Swidwicki.

Er eilte ihm zu Hilfe, goß aus einer Flasche den Rest Kognak und flößte ihn denselben ein; dann hob er ihn auf und führte ihn ins andere Zimmer, wo er ihn fast mit Gewalt in sein eigenes Bett legte.

»Was zum Teufel!« – wiederholte er, – »wie fühlen Sie sich!«

»Besser!« – erwiderte Laskowicz.

Swidwicki blickte auf seine Taschenuhr.

»In zehn Minuten muß die Frau kommen, die mich bedient. Ich werde Ihnen Essen holen lassen. Mittlerweile liegen Sie ruhig!«

Laskowicz befolgte diesen Rat, weil er nicht anders konnte. Als er so dalag, dachte er stirnrunzelnd eine Weile nach und sagte dann: »Der König, nach dem Sie sich erkundigen … ist hungrig!«

»Ah! hol' ihn der Teufel!« entgegnete Swidwicki. »Die Bourgeois werden ihn mästen und dafür wird er ihnen bei Gelegenheit die Gurgel abschneiden. Aber grämen Sie sich nicht zu sehr über das, was ich da sage, denn eben solche, und sogar noch derbere Sachen sage ich allen Parteien, allen! – Verstehen Sie? …«

Das Läuten der Türglocke unterbrach hier das weitere Gespräch. Laskowicz erbebte.

»Das ist meine Aufwärterin, ich erkenne sie an dem Läuten«, sagte Swidwicki. »Heute früher wie gewöhnlich. Auch gut. Ich lasse gleich das Essen holen.«

Richtig stand nach einer Viertelstunde das Essen auf dem Tisch. Der bald gestärkte Laskowicz hatte sich vollständig erholt und dachte nicht mehr an das Verlassen des neuen Asyls. Swidwicki öffnete und durchsuchte verschiedene Schiebladen und endlich, nachdem er einen Paß gefunden hatte, reichte er diesen Laskowicz und sagte:

»Bis Sie, geehrter Herr, Diktator von ganz Polen werden, heißen Sie Zarancza, sind aus Bessarabien gebürtig und dienen bei mir seit einem Jahre. Wenn man Sie erwischt und mit Ihnen auch mich, wiederholen Sie nur immer ein Wort: Polenta, Polenta!«

Auf diese Weise wurde Laskowicz bei Swidwicki eingeführt.


 << zurück weiter >>