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IV.

Während des Abendessens war der alte Herr nur für Musik und Fräulein Zbyltowska eingenommen. Er behandelte alle daher sehr kurz, sobald sie Fragen an ihn stellten, ausgenommen die Frau vom Hause, von der es allein abhing, ob das Konzert stattfinden werde oder nicht. Ganz schlecht kam Dolhonski davon, der Anstrengungen gemacht hatte, noch irgend etwas über das Testament zu erfahren. Sein mürrisches und apoplektisches Gesicht heiterte sich erst auf, nachdem Frau Krzycka erklärt hatte, sie habe gegen den Beschluß des Abends bei Musik ernsteren Inhalts nichts einzuwenden, daß sie vielmehr selbst Fräulein Marie spielen hören möchte, welches Vergnügen sie seit dem letzten Wohltätigkeitskonzert in Krynica nicht mehr gehabt hätte.

Gegen Ende des Abendessens fing der alte Herr an, wiederum ungehalten zu werden, es tat ihm leid, daß die Zeit durch Essen oder durch Unterhaltung, selbst wenn sie auch über Musik geführt werde, vergeudet würde; für das seichte Geschwätz Profaner hatte er schon längst kein Verständnis. Nur Gronski allein schenkte er einiges Interesse, der über Anfänge der Musik philosophierte und die Darwinsche Theorie bekämpfte, das Lied und die Musikbegleitung seien in einem sehr entfernten Lebensabschnitt aus Liebesempfindungen und dem Lockruf zwischen Mann und Weib entstanden.

Gronski war mit vielen anderen der Ansicht, die wildesten Völker hätten keine Liebeslieder, dafür aber Kriegsgeschrei und Trommelschlag. Die Theorie über die Lockrufe in Wäldern erschien den Herren poetischer, das aber vermindere, nach Gronskis Ansicht, keinesfalls die kulturelle Bedeutung der Musik, im Gegenteil, Musik und Tanz bringe erst in die wirren Volkshaufen eine gewisse Organisation. Die Papuas seien das beste Beispiel hierfür. Bei ihren rhythmischen Kriegstänzen, würden sie auch nach der wildesten Musik ausgeführt, zeigten sie schon eine gewisse Unterordnung und Fügung zu einem Gemeinwesen.

»Und das bedeutet«, bemerkte Dolhonski, »daß alle Nationen sich das Miauen eines Katers auf dem Zaune zum Vorbild genommen haben …«

»Das stimmt«, sagte der alte Herr ärgerlich, zu Gronski gewendet bat er, daß dieser in seiner Erzählung fortfahre, man könne noch vieles von ihm erfahren.

»Bitte, Herr Gronski«, sagte auch Fräulein Marie.

Weiter erzählte Herr Gronski, wie die Musik durch Jahrhunderte im Kriege im Interesse des Staates wie der Religion verwendet wurde und erst viel später habe sie sich auf eigenen Fittichen in die Höhe geschwungen, jetzt schwebe sie wie ein Adler über der gesamten Menschheit. Eine wunderbare Kunst! Sie werde jetzt mehr denn andere Künste durch Studium gepflegt, sie sei in gewisse Grenzen geschlagen und dennoch sei sie unbegrenzt, wodurch sie eine unfaßbare Gewalt über die menschliche Seele erreiche, obwohl ohne eigene Sprache, sei sie die idealste Kunst, die zu den größten Taten ansporne … Den polnischen Regimentern haben die preußischen Kapellen bei Gravelotte »Noch ist Polen nicht verloren« gespielt. Überall ist dieselbe Wirkung zu beobachten. Spielet den Franzosen die »Marseillaise«, den Deutschen die »Wacht am Rhein«, sofort fängt es an, in ihren Gliedern zu zucken. Selbst den phlegmatischen Engländern und Amerikanern treten Freudentränen in die Augen, hören sie erst ihr »Rule Britannia!« oder »Yankee-Doodle« … Eine wunderbare Kunst … Sie ist kosmopolitisch, zugleich national, allgemein und individuell …

»Eins haben Sie übersehen«, sagte jetzt Frau Otocka, »daß nämlich die Musik die reinste Kunst ist.«

»Man hat versucht, auch sie von der reinen Höhe herabzusetzen«, entgegnete Gronski, »doch man hat ihr den Rhythmus, die Harmonie nicht nehmen können, und daraus ist ein Antichrist der Musik entstanden.«

Der junge Krzycki langweilte sich bei dieser Unterhaltung offenbar, viel lieber hätte er sich mit dem hellblonden Fräulein Anney unterhalten, deshalb machte er den Vorschlag, die Unterhaltung abzubrechen, doch gab er auch noch seine Ansicht über Musik kund:

»Es ist alles ganz klar, daß nicht nur jede Nation, aber auch jeder Mensch seine Musik hat. Ich zum Beispiel bin jederzeit bereit, mir ein Konzert oder eine Oper anzuhören, doch muß ich zugeben, daß, wenn bei der Feldarbeit die Burschen und die Mädchen singen, daß es in den Heugabeln klingt, dies meine liebste Musik ist.«

»Du bist ein wahrer Slawe, du Nachkomme des Lech und des Piast, komm', laß dich umarmen!« mischte sich Dolhonski mit seiner schleppenden Rede ein.

Krzycki wurde rot, indem ihm der Gedanke kam, die junge Engländerin und seine vornehmen Cousinen könnten ihn für einen Bauern halten, doch diese blickten ihn mit einer gewissen Sympathie an, nur der alte Dzwonkowski bewegte seinen zahnlosen Unterkiefer, so daß dieser fast mit der Nasenspitze zusammenstieß, und seine Mienen deuteten nichts Gutes: »Vielen genügt auch, wenn es ihnen in den Ohren summt.« Doch fiel es ihm gleich wieder ein, daß es Frau Krzycka nicht lieb sein könne, wenn er ihren Sohn stichle, deshalb warf er ihr einen unruhigen Blick zu und schwieg.

Das Abendbrot war beendet. Die ganze Gesellschaft begab sich in den Salon, in dem es kühl war und nach Jasmin duftete, der von dem Abendwinde dahingetrieben worden war, bevor man die Fenster geschlossen hatte. Durch die Glastür blickte der große Vollmond, der sich eben über die Erlen am Teiche erhoben hatte, und stieg langsam den Himmel hinauf; sein Gesicht war noch von der Abendröte gefärbt, als hätte er sich darin gebadet. Frau Otocka setzte sich an das Pianino, neben ihr hatte der alte Dzwonkowski Platz genommen und blies fast ärgerlich in die Flöte; hinter beiden stand Fräulein Marie, die Geige an die Schulter gelehnt. Gronski betrachtete mit großen Augen ihr volles und dunkles Haar, ihre sanft geschwungenen Augenbrauen, ihre reine Stirn, ihr schmales Gesicht, ihre schlanke, fast noch kindliche Figur; fast schien es ihm, daß ihr Anblick schon die Musik ersetze und sie selbst für die verkörperte Musik und ein Symbol der Musik gelten könne. Krzycki hatte sich an die Engländerin herangemacht, aber auch er war jetzt von dem Bilde, das die junge Geigerin bot, ganz erfaßt, so daß er seinen Blick nicht davon abwenden konnte.

Nachdem er seine Studien beendet hatte, war er vor Jahren mit seiner Mutter in Italien gewesen; er besuchte dort verschiedene Gemäldesammlungen, und wenn ihm auch eine tiefere künstlerische Ausbildung in der Malerei fehlte, dachte er dennoch bei sich, daß dieses Mädchen mit dem friedlich strahlenden Gesicht, so über das Musikinstrument geneigt, einem Maler der alten Schule sehr wohl als Vorbild für eine heilige Cäcilia hätte dienen können – oder vielleicht für die engelgleichen Spieler auf den Bildern von Fra Angelico. Doch auch Frau Krzycka, deren Kinder, die Lehrerin und Fräulein Anney betrachteten sie wie ein wundertätiges Bild.

Nur der Hauslehrer Laskowicz war anderer Ansicht. Er hatte Medizin studiert; nachdem aber die Universität für einige Zeit geschlossen worden war, verdiente er sich als Hauslehrer die Mittel für das weitere Studium. Er war von einem unbeugsamen Hasse gegen alle »Satten« dieser Welt erfüllt, er besaß einen solchen Widerwillen gegen die besitzenden Klassen, wie vielleicht Pilatus gegen das Kredo. Seine Ansichten waren allen in Jastrzemb bekannt, doch man duldete ihn mit der ganzen Nachsicht und Nachgiebigkeit, zu der nur der polnische Adel fähig ist, und in dem Vertrauen auf den Grundsatz, daß auch »der größte Radikale essen müsse«, nicht zum wenigsten in der Hoffnung, daß der kleine Stanislaus noch viel zu klein sei, als daß sein Lehrer durch seinen »bösen Geist« auf ihn einwirken könnte.

Bei der Betrachtung des schönen Fräuleins schien es Laskowicz, daß diese Blume viel höher wachse, als daß die Hände des Proletariats danach reichen könnten, und dennoch sei sie durch die Bedrückung des Proletariats großgezogen. Das genügte ihm, um beide Schwestern zu verachten.

Das Konzert sollte indessen beginnen. Fräulein Zbyltowska strich noch mit dem Bogen über die Saiten, drehte an den Wirbeln, klimperte mit dem Daumen, machte der Schwester und dem alten Herrn Andeutungen, worauf eine Pause eintrat, die nur durch die Unterhaltung des unter dem Fenster versammelten Gesindes unterbrochen wurde; eine Dame, die Geige spielt, hatte man hier noch nicht gesehen.

Es ertönten die ersten Akkorde der Mondscheinsonate, die eine Vision hervorriefen:

Ein blasser Strahl dringt durch den Spalt und berührt die Stirn des Schläfers, als wollte er einen Gedanken erwecken, dann berührt er den Mund, als wollte er die Zunge lösen, dann trifft er die Brust, als wollte er das Herz erwecken. Doch der ermattete Körper schläft einen festen Schlaf, dagegen verläßt die Seele ihren begrenzten Raum, wie ein Schmetterling den Kokon und enteilt zu den Höhen.

Die Nacht ist hell und still. Im leichten Nebel rauschen die Bäume im Tale, auf den Waldwiesen tanzten ganze Reihen von Nymphen, Faun macht dazu auf der Hirtenflöte die Musik, ringsherum stehen Hirsche Kopf an Kopf mit ihren leuchtenden Augen, in den Gräsern und Sträuchern fliegen Johanniskäfer hin und her, es erscheint der Phosphorglanz anderer Leuchtkäfer, und die niedlichen Elfen sehen dem Treiben unter dem Laubdache zu. Auf den feuchten Waldflächen zeigten sich Irrlichter, die leicht hin und her hüpfen, geheimnisvoll, als suchten sie etwas vergebens. Der Mond steigt immer höher am Himmel hinauf, es fällt der Nebel.

Durch die weiten Felder zieht der silberne Streifen eines Flusses, von dem aus Fußpfade nach Städten und Schlössern führen. Durch die schmalen gotischen Fenster dringt in die stillen Säle der Schlösser der Mondesglanz, durch den die Geister der verstorbenen Ritter und Ritterfräulein huschen.

Zu Füßen der Schlösser schlummern die Städte. In dem ruhigen Lichte glänzen die Dächer und blitzen die Kreuze der Türme, überall steigt der Geruch von Blumen und Gräsern auf; doch leichter als der Blumenduft schwebt die geflügelte Seele höher und höher. Vorüber ziehen die menschlichen Behausungen, die Wälder, die Täler, die glitzernden Flächen der Teiche und die weißen Fäden der Flüsse. Das flache Land steigt allmählich an …

 

Hier sind Berge. Inmitten der schwarzen Felsen schläft die silberhelle Fläche des Sees. Durch die Schluchten zieht ein kühler Nebel. Grünlich schimmern die Eisgipfel der Berge. An den Berglehnen und felsigen Bergesflächen nächtigen die ermüdeten Wolken und die schlangenförmigen Nebel, und auf den Bergesgipfeln im ewigen Schnee ruht das Mondlicht. Auch der Wind hat sich gelegt. Weit und breit ist alles ruhig! Der Mond ist der einzige Wächter der Stille und die menschliche Seele das einzige lebende Wesen. Frei ist sie wie der Adler der Berge, abgesondert vom Körper, vergnügt in dem weiten Raume, in der Öde, in der Stille, in den Höhen – glücklich und traurig zugleich in einer überirdischen Trauer – aufgelöst in der Stille – kreist sie über den Schluchten, und dann will sie von neuem weiter, ganz hingegeben den Annehmlichkeiten des Fluges und Vorwärtsstrebens …

 

Die Berge verschwinden tief unten, aber jetzt hört man gewisse Stimmen von da unten, die empordringen, als riefen sie hinabzukommen. Das ist das Meer! – Nur das Meer schläft niemals, groß wie es ist, jagt es Welle um Welle gegen die Ufer wie eine unermeßliche Lebenskraft. Seine kräftigen Lungen blähen und ziehen sich zusammen in alle Ewigkeit und zeitweise stöhnen sie und klagen über Beschwernisse ohne Ende.

Die gewölbte Oberfläche des Meeres zittert im Mondesglanz und den silbernen Sternenstreifen, und auf den erhellten Flächen sieht man in der Ferne, gleichfalls schlaflos wie das Meer – ein Schiff mit vollen Segeln und blutrotem Licht in den Luken …

 

Du aber, o Seele, fliegst höher und höher. Schon ist die Erde irgendwo tief, tief unten, und du dringst durch leichte Federwolken, die sich in die Höhen verlaufen haben, in die Weite, die, mit dem Mondlicht übergossen, leer ist und kühl. Hier schwebst du auf eigenen Flügeln in lichteren Höhen! … Jetzt schimmern über dir die Kleinodien des Himmels, und du schwebst in höchsten Regionen selbstbefriedigt, aus der Materie herausgeschält – als wärst du hinter den Grenzen von Zeit und Raum, fast schon im Himmel …

 

Die Wölbung des Himmels wird immer schwärzer, der Mond hat die Größe der Weltkugel angenommen und leuchtet immer heller. – Man sieht schon deutlich seine weißen Felder, die von wilden, zerrissenen und steilen Bergen überragt werden, die abgestorbenen, frostigen und schwärzlichen Krater … So sieht der silberne, tote Schwärmer, der die Erde begleitet, aus, als wäre er durch ein Gottesurteil zu ewigem Lauf verdammt. Über ihm und rings um ihn ist ein unermeßlicher Raum, den keines Menschen Geist fassen kann! Neue Gestirne flimmern blutigrot bis grau wie entfernte Feuer. Man hört eine Sphärenmusik. Die Ewigkeit weht hier mit ihrem Odem und nimmt einen Charakter an, der jenseits alles Weltlichen ist …

 

Kehre um, du erregter Schwan, kehre um, du Seele, bevor dich ein geheimnisvolles Vorwärtstreiben, ein geheimnisvoller Strudel erfaßt und dich für ewig von der Erde losreißt …

 

Du kehrst wieder von den Höhen des Allseins, gebadet in den Wellen der Unendlichkeit, reiner und vollkommener. Schon hast du die Fittiche eingezogen … Siehe: Unter dir sind wieder in der Tiefe die Federwolken, die du jetzt begrüßen wirst wie etwas Liebes und Bekanntes. Unten ist die Erde. Man sieht schon die zum Monde emporstarrenden Bergeshöhen, an deren Füßen das Meer stöhnt. Noch tiefer sind die lieblichen Wälder weiter die hellen Städte mit ihren stillen Türmen und die Dächer der schlummernden Dörfer. Die Nacht wird blaß …

Auf den Weideplätzen haben die Hirten ihre Feuer entzündet und lassen ihre Pfeifen ertönen. Die Hähne krähen … Es tagt! Es tagt! …

 

Die Töne verhallten, es wurde still. Fräulein Marie stand mit dem gleich lieblichen Gesichtsausdruck neben dem Pianino, und doch als wäre sie aus dem Schlummer erwacht.

Der alte Herr Dzwonkowski saß eine kurze Weile mit geneigtem Kopf, wobei er den zahnlosen Unterkiefer bewegte, dann erhob er sich und küßte mit einem gewissen Feuer die Hand des Fräuleins. Darauf blickte er die Anwesenden an, als wollte er denjenigen herausfinden, der gegen diese Ehrenbezeugung etwas einzuwenden hätte, oder sie als überflüssig bezeichnen wolle. Doch hatte niemand etwas dagegen einzuwenden, es waren alle nämlich von der Musik so erfaßt, als hätte sie der wahre Genius in seine Fesseln geschlagen.

Im Schlafe kommt es oft vor, daß ein Mensch mit dem Fuße von der Erde abstößt, dann beschreibt er lange Zeit große Kreise in der Luft. Durch die Musik schienen die Körper alle an Gewicht leichter, weniger materiell, als wären sie von allem befreit, was sie an die Erde fesselt. Die Nerven werden empfindsamer und subtiler, die Seele zum Fluge geneigter, näher einer Grenze, hinter der die Ewigkeit ihren Anfang hat.

Es war dies ein ungekanntes Gefühl, nach dessen Vergehen sie alle wieder zum täglichen Leben zurückkehren sollten. Doch während der Gemütserhebung wurden in ihnen jene unbekannten Gefühle geweckt, die sie im gewöhnlichen Leben nie kennen gelernt hatten – und auch nicht wußten, daß sie solche kennen lernen konnten.

Dem Einfluß konnte, trotz aller Vorurteile, nicht einmal der unfertige Mediziner Laskowicz sich entziehen. Mit dem Augenblicke, da Fräulein Marie zum Spiel sich hinstellte, begann er von seinem finsteren Winkel im Salon aus ihr zuzuschauen und sie zu betrachten, wie ein Anatom. Er fühlte, daß in dieser Art Betrachtung etwas Rohes liege, doch das gerade verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung, zumal einem Menschen und Kritiker wie ihm und mit Rücksicht auf seine Anschauungen. Er redete sich ein, daß dieses Fräulein aus der sogenannten höheren Sphäre für ihn nur ein Gegenstand wäre, der so zu betrachten sei, wie man es mit einer Leiche in einem Seziersaal zu tun pflege. Als sie das Köpfchen zur Geige neigte, wiederholte er sich im Geiste die lateinischen Bezeichnungen aller Knochen, Sehnen und Adern, wenngleich er sich sagen mußte, daß es sich in diesem Falle um einen außergewöhnlich edlen Schädel handle.

Gleich bei Beginn des Konzertes belegte er die Muskulatur ihrer Hände mit lateinischen Namen, ebenso ihre Schultern, überhaupt ihre ganze Figur, die sich durch das leichte Sommerkleid deutlich abhob. Weil er aber nicht nur Student der Medizin und Sozialist, sondern auch ein junger Mann war, endeten seine anatomischen Betrachtungen mit dem für ihn selbst überraschenden Ergebnis, daß es sich hier um ein noch nicht entwickeltes, aber sehr hübsches und geistreiches Mädchen handle, das einer Frühlingsblume glich. Von diesem Augenblick an verzieh er ihr, daß sie zu jenen höheren Kreisen zähle, die durch »den Druck des Proletariats« lebten. Den Gedanken konnte er nicht los werden, daß, wenn durch irgendwelche unerwarteten Zwischenfälle und Umwälzungen so ein »geheiligtes Püppchen« sich auf Gnade und Ungnade in seiner Gewalt befinden würde, er darüber eine wilde Freude empfinden könnte.

Doch als ihm Beethoven die Hand auf sein Haupt legte, erwachte in ihm ein besserer Mensch, ein höheres Gefühl. Er sah, wie sich bei dem Fräulein während des Spieles die Augenbrauen bewegten, der Gesichtsausdruck sich änderte, und das ließ ihn vermuten, daß sie doch etwas fühle. So schmolz denn der Unmut über das Fräulein in ihm immer mehr zusammen, und halb erriet er, halb war er schon überzeugt, daß hier nicht allein die Hände, sondern auch die Seele spielte.

Er war nicht gebildet genug, um die Musik so zu empfinden, wie sie zum Beispiel Gronski empfand, deshalb hatte er das Gefühl, als sei die Musik mit dem Wetter verwandt, das man mit voller Brust atmen könne, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Liebe handle oder um Haß. Daher wunderte er sich zugleich, daß es Dinge gebe, die über den menschlichen Leidenschaften lägen. Schließlich kam er zu der Überzeugung, daß die Musik und das spielende Fräulein ein und dasselbe wären. Als nun der alte Herr Dzwonkowski nach beendetem Konzert dem Fräulein die Hand küßte, hatte er fast Lust dasselbe zu tun.

In diesem Augenblick sagte Wladislaw Krzycki zu Fräulein Anney:

»So lange Jastrzemb besteht, hat man hier solche Musik noch nicht gehört. Ich bin kein Musikkenner, doch muß ich gestehen, daß ich sehr gerührt bin. Obwohl ich oft in der Stadt bin, hatte ich noch nie das Vergnügen, eine Dame zu sehen, die Geige spielt. Und das ist so schön. Ich habe jetzt das Gefühl, als sollten überhaupt nur Damen Geige spielen.«

»So ein Gefühl hat man nur, wenn man das Fräulein Marie spielen sieht.«

»Sicher. Ich fange an, Herrn Gronski zu verstehen … Sie wissen doch, Fräulein, daß das seine ›Adoration‹ ist.«

»Die größte der Welt, auch die meinige und aller, auch die Ihrige wird es in kurzer Zeit sein.«

»Es ist wohl möglich, doch weiß ich noch nicht, ob die größte.«

Wieder trat eine Pause in der Unterhaltung ein. Krzycki befürchtete, Fräulein Anney könnte seine letzten Worte als ein vorzeitiges Kompliment auffassen, daher fügte er bald hinzu:

»Jedenfalls bin ich dem Fräulein für ihre Musik Dank schuldig, es ist gewiß eine ganz andere als die, welche wir im Frühjahr und im Sommer jeden Abend hören.«

»Was wäre denn das für Musik?«

»Von Sonnenuntergang bis Mondaufgang Froschorchester und dann Nachtigallen-Konzert, das ich aber nicht immer höre, denn nach des Tages Last habe ich einen sehr festen Schlaf. Die Froschkapelle hat schon angefangen zu musizieren. Auch das hat seinen Reiz. Wollen Sie diese Musik sich anhören, dann gehen wir auf die Veranda; der Abend ist so warm wie der Sommertag.«

Fräulein Anney erhob sich, und beide traten auf die Veranda, wo kurz vorher das Gesinde gestanden und dem Spiel von Fräulein Marie zugehört hatte – in der Nähe der Veranda schimmerten im Abenddunkel noch die weißlichen Jasminblüten. Vom Teiche her erklang das schläfrige Quaken der Frösche, das an einen Choral erinnerte.

Nachdem Fräulein Anney ein Weilchen zugehört hatte, sagte sie:

»Gewiß, auch darin liegt ein bestimmter Reiz, zumal in einer so herrlichen Nacht.«

»Ist es wohl in England auch so?«

»So still nicht. Es gibt da fast keinen Winkel, wohin nicht das Pfeifen der Lokomotive dringen würde oder wenigstens der Widerhall arbeitender Fabriken. Gerade diesen Ort liebe ich wegen seiner heiligen Ruhe und seiner Entfernung von der Stadt.«

»So sind Sie nicht zum erstenmal in einem polnischen Dorfe?«

»Ich war jetzt länger als einen Monat bei Frau Sophie Otocka.«

»Ich wünschte nur, auch unser Jastrzemb würde in Ihren Augen Gnade finden. Es ist zu schade, daß Sie gleich zu einem Begräbnis nach hier kamen. So etwas ist immer traurig; ich habe sogar Ihre Erregung gesehen.«

»Ich wurde an etwas erinnert«, entgegnete Fräulein Anney.

Sie wollte offenbar dem Gespräch eine andere Wendung geben, denn sie blickte in die Tiefen des Gartens und sagte:

»Wie das hier alles blüht und duftet.«

»Das ist Jasmin- und Fliedergeruch. Haben Sie wohl auf der Fahrt nach Jastrzemb am Waldessaume die vielen Fliedersträuche gesehen? Das ist alles meine Arbeit.«

»Erst in der Nähe der Brücke sind mir die vielen Fliederbüsche aufgefallen. Was ist das übrigens für ein altes Haus an der Brücke?«

»Das ist eine alte Mühle. Früher führte der Bach viel Wasser, nachdem aber der verstorbene Onkel Zarnowski das Wasser zum größten Teil nach den Fischteichen von Rzenslewo abgeleitet hat, mußte der Mühlenbetrieb eingestellt werden. Jetzt wird seit vielen Jahren das Heu dort eingelagert. Man sagt, daß dort Geister spuken, aber ich habe seinerzeit dieses Märchen selbst aufgebracht.«

»Aber warum denn?«

»Nun, das ist doch sehr einfach, damit die Leute dort nicht Heu stehlen, und dann war mir daran gelegen, daß mir niemand dahin kommt.«

»Was haben Sie sich da nur ausgedacht?«

»Ich sagte, daß an der Brücke geisterhafte Pferde sich tummeln, und dann wäre in der Mühle ein Lachen zu hören, und das entspricht auch der Wahrheit, denn Eulen nisten dort, sie sind es die lachen.«

»Sie hätten vielleicht sagen sollen, daß dort jemand weine.«

»Warum gerade das?«

»Damit der Eindruck größer sei.«

»Nun, ich weiß nicht. Ich glaube, das Lachen zur Nachtzeit, an einer verlassenen Stelle, macht wohl größeren Eindruck. Die Leute fürchten es mehr.«

»Und wie steht es mit der Neugier, schaut dort niemand nach?«

»Niemand läßt sich dort blicken. Jetzt ist es mir schließlich gleichgültig, wenn nur nicht Heu gestohlen wird, doch früher wollte ich für alle Fälle sicher gehen und vor neugierigen Blicken geschützt sein.«

Hierbei biß sich Krzycki in die Zunge, denn beim Mondeslicht merkte er, wie die Augenbrauen des Fräuleins sich leicht zusammenzogen. Er merkte sogleich, daß er durch die Wiederholung der Worte – es habe ihm daran gelegen, daß niemand in die Mühle blicke – sich gegen den gesellschaftlichen Takt vergangen habe, und was noch schlimmer war, er zeigte sich der jungen Engländerin als ein kleindenkender Provinzler, der öfter Verstecken spielen mußte. Um nun den schlechten Eindruck zu verwischen, fügte er schnell hinzu:

»Als ich noch Student war, verlegte ich mich auch aufs Dichten, deshalb suchte ich Zurückgezogenheit; doch jetzt ist das vorbei.«

»So etwas vergeht immer«, entgegnete Fräulein Anney und wandte sich der Salontür zu, doch nicht zu schnell, als wollte sie Krzycki zeigen, sie nehme seine Aufklärung als bare Münze an. Krzycki verweilte noch einige Augenblicke – auf sich selbst erzürnt und noch mehr auf das Fräulein, weil er ihr durch sein Benehmen nicht das geringste vorwerfen konnte.

»In jedem Falle«, sagte er zu sich selbst, »ist das eine verteufelt klar blickende Puritanerin …«

Mit einer gewissen Feinfühligkeit und Gereiztheit wiederholte er ihre Worte:

»So etwas vergeht immer.«

»Oder« – dachte er weiter – »wollte sie mir zu verstehen geben, aus einem Landwirt könne niemals ein Dichter werden? Mag sein, das weiß ich selbst zu gut, doch dulde ich nicht, daß mir das jemand vorhält.«

Unter dem Einfluß dieser Gedanken kehrte auch er in den Salon zurück, doch mit seinem guten Humor war es dahin. Seine Pflichten als Gastgeber riefen ihn zu seinen Cousinen, und mit Fräulein Anney sprach er am selben Abend nicht mehr.


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