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VI.

Es war fünf Uhr nachmittags. Die Damen nahmen auf der Veranda zu Jastrzemb den Tee ein, als die jungen Herren aus der Stadt zurückkehrten. Beim Anblick der Zurückkehrenden erhob sich Fräulein Anney, da sie als Fremde bei Erörterung von Familienangelegenheiten nicht zugegen sein wollte, und begab sich unter irgend einem Vorwande nach ihrem Zimmer.

Frau Krzycka begrüßte die Herren mit etwas erkünstelter Ruhe, denn im Grunde genommen hatte sie nicht einen Augenblick aufgehört, an das Testament zu denken. Sie war durchaus nicht gieriger nach Geld als andere Sterbliche, es war ihr vielmehr daran gelegen, daß nach ihrem Tode, bei der nächsten Vermögens- und Nachlaßteilung Wladislaw genügend Mittel besitzen solle, die jüngeren Geschwister auszuzahlen, und er sich dennoch in Jastrzemb sehr wohl halten könnte. Ein Vermächtnis des Zarnowski würde dann eine Nachlaßregulierung sehr erleichtern. Dennoch lebte im Innersten der edlen Seele von Frau Krzycka die Überzeugung, nämlich, daß die Vorsehung bis zu einem gewissen Grade gegen die Familie Krzycki mehr Pflichten bezüglich der Teilung haben müßte, als gegen jede andere Person. Wenn nun schließlich die ganze Besitzung von Rzenslewo den Krzyckis zufallen sollte, würde sie sich dem Willen der Vorsehung mit ganzer Seele beugen. Sie schmeichelte sich, wie alle menschlichen Geschöpfe, daß Fortuna ihr hold sein werde.

Aus den Mienen der Herren Wladislaw und Gronski konnte sie sofort herauslesen, daß sie nähere Einzelheiten brachten. Dolhonski verließ als erster den Wagen und begann sofort seinen Bericht.

»Ich muß allen Fragen vorgreifen«, sagte er mit kalter Ironie, in einem sehr langsamen Tone, »und erkläre, daß alles gut ausgefallen ist, denn jetzt werden die Barteks und Michels von Rzenslewo nach Karlsbad reisen können.«

Frau Krzycka erblaßte und fragte, zu Gronski gewendet:

»Nun, meine Herren, was für Neuigkeiten bringen Sie?«

»Das Testament ist in seinen Einzelheiten wunderlich«, entgegnete Gronski, »doch gut gemeint. Rzenslewo ist für eine bäuerliche Landwirtschaftsschule, die Prozente vom Kapital aber dazu bestimmt, die Zöglinge nach Beendigung des Kursus zur weiteren Ausbildung auf Bauernwirtschaften in Böhmen zu entsenden.«

»Oder, wie ich schon sagte, nach Karlsbad, Marienbad, Teplitz und andere ähnliche Orte«, ergänzte noch Dolhonski.

Es wurde still. Fräulein Marie, gerade mit dem Eingießen von Tee beschäftigt, sah die Herren fragend an, als wollte sie erraten, ob das ein Lob oder ein Tadel sein sollte und ob es allen Anwesenden lieb oder unlieb war; Frau Otocka blickte freudigen Auges auf Gronski, und Frau Krzycka stützte sich mit beiden Händen, sichtlich verwundert, auf ihren Stock, den sie wegen des Reißens mit sich führen mußte, worauf sie mit fast klangloser Stimme fragte:

»Also für öffentliche Zwecke?«

»So ist es«, entgegnete Gronski. »Mit der Organisation der Schule und der Verteilung der Gelder für den Aufenthalt in Böhmen soll sich die Direktion der Kredit-Gesellschaft des hiesigen Gouvernements befassen, zum Kurator der Schule ist Wladek ernannt.«

»Schade, daß ich nicht zum Kurator gewählt worden bin« sagte Dolhonski, »ich hätte sie sofort errichtet.«

»Noch weitere und gar wunderliche Bestimmungen enthält das Testament,« fuhr Gronski fort. »Der Verstorbene verschreibt kleinere Summen seinem Hausgesinde und zehntausend Rubel einer gewissen Skibianca, der Tochter des Hofeschmiedes von Rzenslewo, der schon vor längerer Zeit nach Amerika ausgewandert ist.«

»Der Skibianca?« wiederholte Frau Krzycka.

Dolhonski biß sich in den Bart, lachte laut und brummte vor sich hin, daß der Adel sich stets durch große Liebe zum Volke ausgezeichnet habe, Gronski aber blickte ihn scharf an und las von einem Zettel, den er aus seiner Tasche gezogen:

»Der diesbezügliche Teil des Testaments lautet: ›Weil die Eltern der Johanna Skiba oder Skibianca während meines Kuraufenthaltes im Auslande ausgewandert sind und ich keine Möglichkeit mehr hatte, ihren Aufenthalt zu erforschen, verpflichte ich meinen Verwandten Wladislaw Krzycki, meine letztwillige Bestimmung in allen in den Vereinigten Staaten und in Parana erscheinenden polnischen Blättern bekannt zu machen. Sollte die Erbin sich innerhalb zweier Jahre nicht melden, fällt die ganze Summe nebst Zinsen an Wladislaw Krzycki.‹«

»Ich habe bereits erklärt, daß ich nicht daran denke, dieses Amt zu übernehmen«, erklärte der junge Mann mit Entrüstung.

Aller Augen blickten auf ihn, während er wiederholte:

»Ich denke gar nicht daran, ich denke nicht daran.«

»Und warum denn nicht?« fragte nach einer Weile die Mutter.

»Weil ich das nicht übernehmen kann. Soll sich nun zum Beispiel die Erbin nach zwei Jahren melden – was dann? Ich nehme das Geld und die Erbin werfe ich vor die Tür, nicht wahr? Nein! – das mache ich nicht! Außerdem gibt es noch andere Beweggründe, über die ich nicht reden will …

Denn nur durch diese »anderen Beweggründe« wurde dies bedeutende Legat erklärlich, das eine einfache Dorfmaid bedachte, darum verstummte Frau Krzycka und sagte erst nach einer Weile:

»Mein Wladek, niemand wird dich zwingen oder bereden wollen …«

Aber Dolhonski fragte:

»Sage mir, ist das eine märchenhafte Selbstlosigkeit oder eine schlechte Laune, weil du keine größere Erbschaft bekommen hast?«

»Urteile nicht nach dir«, erwiderte Krzycki, »und ich werde dir etwas sagen, das du mir gewiß nicht glauben wirst, nämlich daß wenn dies Vermögen für eine solche Sache, wie eine bäuerliche Ackerbauschule verwendet wird, es mich freut und ich den Erblasser um so mehr verehre; ich gebe dir mein Wort, daß ich aufrichtig spreche.«

»Bravo!« rief Frau Otocka. »Es ist ein Vergnügen, so etwas zu hören.«

Und Frau Krzycka betrachtete stolz zunächst den Sohn, dann Frau Otocka, und trotzdem Enttäuschung ihr Herz erfüllte, sagte sie:

»Mag es auch eine Schule sein, wenn nur auch unsere Jastrzember Bauern berechtigt wären, ihre Söhne dorthin zu senden.«

»Das unterliegt keinem Zweifel«, erklärte Gronski, »Schüler wird es soviel geben, als nur Platz finden können, sie dürfen auch von auswärts sein, doch den Vorzug werden die Rzenslewoer haben.«

»Und was halten diese vom Legat?«

»Über zehn waren ihrer bei der Testamentseröffnung, weil sie ganz einfach erwartet haben, Herrschaftsgrund geschenkt zu bekommen. Jemand redete ihnen ein, daß der Verstorbene alles zum Verteilen hinterlassen habe; also gingen sie sehr unzufrieden fort. Wir hörten, wie sie sagten, daß es nicht das richtige Testament sei und daß sie keine Schule brauchen.«

»Ich bin ganz ihrer Ansicht«, erwiderte Dolhonski, und nun erklärte er wider seine sonstige Gewohnheit im Ernst: »Jetzt herrscht ja eine Epidemie der Schulgründungen, und niemand fragt, wer den Unterricht erteilen soll, was und wie dort unterrichtet und zugleich, was mit den Schulen am Ende geschehen wird. Ich bin ein Paradiesvogel, der selbst nichts tut und auf alles, wenn nicht von oben so doch von der Seite schaut – und vielleicht deshalb Dinge erblickt, die anderen entgehen. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob wir wie jene Kinder wären, die z. B. in Ostende Festungen aus Sand bauen. Jeden Tag errichten sie solche am Strande und jeden Tag werden sie von den Wellen fortgespült, so daß keine Spur von ihnen bleibt.«

»Gewissermaßen hast du recht«, sagte Gronski, »nur mit dem Unterschiede, daß die Kinder freudig bauen und wir – nicht«.

Dann sann er eine Weile nach und fügte hinzu:

»Aber nach den Gesetzen der Natur wachsen die Kinder, und nachdem sie erwachsen sind, errichten sie Dämme nicht mehr aus Sand, sondern aus Stein, an denen die Wellen zerschellen.«

»Mögen sie so bald wie möglich zerschellen«, rief Krzycki.

Doch Dolhonski wollte nicht kapitulieren.

»Erlaube«, sagte er, »daß, so lange wir nicht erwachsen sind und nicht anfangen, aus Stein zu bauen, ich ein Pessimist bleibe.«

Und Gronski schaute sinnend ins Weite des Gartens, wie ein Mensch, der über etwas nachdenkt, und erwiderte dann:

»Pessimismus … Pessimismus … Immer hört man jetzt dies … Derweilen, wenn es was Dümmeres als Optimismus gibt, der oft als Dummheit gilt – so ist es der Pessimismus, der als Verstand gelten will!«

Dolhonski lächelte etwas gallig und sich an die Damen wendend, sagte er, indem er auf Gronski wies:

»Verübeln Sie ihm das nicht. Es passiert ihm oft, daß er aus Zerstreutheit Impertinenzen spricht … Er ist ein guter, sogar intelligenter Mensch, der jedoch die unausstehliche Angewohnheit hat, jedes Ding nach allen Seiten zu wenden, es zu betrachten, über dasselbe nachzudenken und Selbstgespräche darüber zu halten.«

Aber Fräulein Marie wurde ganz aufgebracht in Verteidigung ihres Freundes, und, die Teekanne schwenkend, die sie in der Hand hielt, fing sie an, mit großem Eifer zu sprechen:

»Das ist ja eben gut, das ist klug, jeder sollte so vorgehen.«

Dolhonski spielte einen sehr Erschrockenen, senkte den Kopf und sagte:

»Ich retiriere demütig und strecke die Waffen.«

Gronski küßte ihr lächelnd die Hand, sie schämte sich aber sehr ihrer Erregung und puterrot begann sie zu fragen:

»Nicht wahr, habe ich nicht recht?«

Aber Dolhonski war schon ganz wieder bei Besinnung.

»Das beweist gar nichts.«

»Wieso?«

»Weil Gronski einst folgende Sentenz zum besten gab: ›Nie soll man die Ansicht eines Weibes befolgen, insbesondere dann nicht, wenn es zufälligerweise recht hat‹.«

»Ich?« erwiderte Gronski, »laß mich in Ruhe! Nie habe ich etwas Ähnliches gesagt; glauben Sie ihm nicht.«

»Ich glaube nur Ihnen«, erwiderte Marie.

Doch das heitere Gespräch unterbrach Frau Krzycka mit der Bemerkung, daß es schon Zeit zur Maiandacht sei.

Im Jastrzember Herrschaftshause gab es ein ausschließlich dazu bestimmtes Zimmer, die Kapelle genannt. An der Hauptwand, den Fenstern gegenüber, erhob sich etwas Altarähnliches, und darin ein Bild der Czenstochauer Mutter Gottes. Die Wände, der Altar, das Bild und selbst die Kerzen waren mit grünen Girlanden geschmückt, und die an den Ecken der Mensa stehenden Flieder- und Jasmin-Buketts erfüllten das ganze Gemach mit Wohlgeruch. Zuweilen, wenn der Rzenslewoer Pfarrer gefahren kam, hielt er die Andacht, in seiner Abwesenheit tat es die Hausfrau. Alle Hausgenossen, mit Ausnahme Laskowicz, versammelten sich den ganzen Mai hindurch um die Dämmerstunde in der Kapelle.

Jetzt gingen hinter den Damen auch die Herren, und auf dem Wege begann Krzycki, Gronski auszufragen:

»Ist Fräulein Anney eine Katholikin?«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht. Allein es scheint so«, erwiderte Gronski. »Aber schau! Da kommt sie ja herein, also muß sie doch Katholikin sein. Der Zuname klingt irländisch.«

In der Kapelle brannten schon die Kerzen, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war und tief, goldig und rot durch die Fenster hineinschaute und Strahlen auf die weiße Altardecke und die Frauenköpfe warf.

Gleich beim Altare kniete die Hausfrau, in der zweiten Reihe die fremden Damen, und hinter diesen die weibliche Dienerschaft und der alte asthmatische Lakai. Die Herren standen an der Wand zwischen beiden Fenstern. Die üblichen Gebete, Gesänge und Litaneien begannen.

Gronski fiel die liebliche Melodie auf. Es lag in ihr etwas Frühlingshaftes und Abendliches zugleich. Den Eindruck des Frühlings machten die Blumen und den des Abends der rote Schein, der durchs Fenster kam, und die weichen, weiblichen Stimmen, welche gemeinsam die Worte der Litanei wiederholten, erinnerten an das letzte, vor dem Sonnenuntergang ganz verstummende Vogelgezwitscher … »Genesung der Kranken«, »Zuflucht der Sündigen«, »Trösterin der Bekümmerten, bete für uns«, wiederholte Frau Krzycka, und jene weichen, weiblichen Stimmen antworteten ihr: »Bete für uns.«

Und so betete dies Landhaus am Maiabende.

Gronski, der ein Skeptiker, aber kein Atheist war, empfand zuerst, als ein Mensch von hoher, ethischer Kultur, die ästhetische Seite dieses kindlichen »Gute Nacht-Grußes«, den Frauen der sanften Gottheit darbrachten. Dann, wie wenn er zeigen wolle, daß Dolhonski recht hatte, als er von seiner Gewohnheit erzählte, jedes Ding von allen Seiten zu betrachten und über jede Erscheinung nachzugrübeln, begann er über religiöse Probleme nachzudenken. Es kam ihm in den Sinn, daß diese der Gottheit dargebrachte Verehrung ein rein ideales Element sei, das erst der Mensch erreichen konnte. Er erinnerte sich, daß, so oft er in der Kirche war und betende Menschen sah, ihm dieser nicht auszufüllende Abgrund auffiel, der die Menschenwelt von der Tierwelt trennt.

»Eigentliche religiöse Begriffe«, dachte Gronski weiter, »bringt erst ein höherer und vollkommenerer Organismus hervor, und daraus folgt, daß, wenn zehnmal intelligentere Wesen als der Mensch existieren würden, sie zehnmal religiöser wären. Ja, aber auf ihre Weise«, wiederholte Gronski; »und vielleicht auf einer von der unserigen sehr abweichenden.«

Und nun nahmen Gronskis Gedanken eine mehr persönliche Richtung an. Er betrachtete das betende Fräulein Marie, und im ersten Augenblicke war es wie eine Linderung für ihn, denn eine rein ästhetische Bemerkung kam ihm in den Sinn, daß ein solches Mädchen einem Carpaccio bei seinem Gitarrespieler oder einem Botticelli hätte vorschweben müssen. Aber gleich nachher dachte er, daß auch solch eine Blüte dahinwelken muß – und nichts auf der Welt schmerzlos welkt oder stirbt. Und plötzlich beschlich ihn Furcht vor der Zukunft, die stets in ihrem Reisesacke Trübsal und Unheil verborgen hält, er erinnerte sich zwar an seine Sentenz über Pessimismus, die er vor einer Weile ausgesprochen hatte, allein er fand darin keinen Trost, denn er verstand, daß ein aus Gedankenarbeit entstehender Pessimismus etwas anderes ist als ein Lebenspessimismus, auf Grund dessen solch ein Dolhonski sich erlauben konnte, in seinen vom Kartenspiele freien Momenten über alles die Achseln zu zucken. Aber er stellte sich die Frage, ob auch dieser mühsam hervorgebrachte Pessimismus sich irgendwie begründen ließe, und da sah er plötzlich den anderen, Dolhonski ganz unähnlichen Freund vor sich, der auch ein großer Skeptiker war – den Doktor Porembski. Er war Gronskis Schulkollege und behandelte in den letzten Jahren seine Nerven, daher kannte er ihn ausgezeichnet. Einmal nun, da er seine Reflexionen und Klagen über das Unvermögen, eine Antwort auf die wichtigen Lebensfragen zu finden, anhörte, sagte er ihm: »Das ist eine Zerstreuung, welche Zeit und Mittel erfordert. Wenn du dein tägliches Brot verdienen müßtest, wie ich, würdest du dir und anderen nicht den Kopf verdrehen. Das alles erinnert an den Hund, der dem eigenen Schwanz nachjagt. Und ich erkläre dir, betrachte, was dich umgibt, nicht aber den eigenen Nabel. Und willst du gesund sein, so … › carpe diem‹!"

Gronski war damals der Ansicht, daß dieses Wort zu brutal und dieser Rat mehr ärztlich als philosophisch sei, aber als er sich jetzt daran erinnerte, sagte er sich: »Wirklich, dieser Weg, den ich immer schon aus böser Gewohnheit betrete, führt nirgends hin, und wer weiß, ob diese Frauen, die jetzt so gläubig beten, nicht um vieles klüger sind als ich, ganz davon zu schweigen, daß sie viel ruhiger und glücklicher sind.«

Unterdessen fing Frau Krzycka zu beten an: »Unter deine Fittiche flüchten wir, heilige Mutter Gottes«, und weibliche Stimmen antworteten ihr gleich: »Unser Flehen verschmähe nicht und vor allem Bösen bewahre uns stets.«

Gronski fühlte eine mächtige Sehnsucht nach einer solch süßen, schützenden Gottheit, die unser Flehen nicht verschmäht und uns vor Bösem bewahrt. Unglücklicherweise hatte er sich aber schon zu weit von alledem entfernt – er konnte nur dieselbe Sehnsucht, doch nicht denselben Glauben wie diese Frauen haben.

Gronski vergegenwärtigte sich die Reihe seiner Bekannten und bemerkte, daß unter ihnen nur sehr wenige innig und tief Gläubige waren, dagegen sah er solche, die an gar nichts glaubten, solche, welche glauben wollten, aber nicht konnten, solche, die nicht glaubten, aber behaupteten daß der Glaube aus sozialen Gründen nötig sei, und dann auch solche, die einfach mit etwas anderem beschäftigt waren. Zu dieser letzteren Kategorie gehörten Menschen, welche die Gewohnheit beibehielten, jeden Sonntag in die Messe zu gehen, so wie sie die Gewohnheit hatten, jeden Morgen zu frühstücken, abends den Frack anzulegen oder Handschuhe zu tragen. Es war ihnen schon zum Lebensbedürfnis geworden, und damit war alles erledigt. Hier betrachtete Gronski unwillkürlich Krzycki, denn der junge Mensch kam ihm wie ein Vogel aus einem ebensolchen Neste vor.

So war es in der Tat. Und dennoch war Krzycki weder ein beschränkter noch ein gedankenloser Mensch. An der Universität philosophierte er ein wenig, gleich den anderen, aber dann trieb ihn der Lebens- und Arbeitsstrom in andere Bahnen. Es existierten zwar Dinge, die ihn außer Jastrzemb und die täglichen damit zusammenhängenden Angelegenheiten ungemein interessierten: es interessierte ihn innig das Vaterland und dessen Zukunft, alle Ereignisse, welche diese Zukunft beeinflussen konnten, endlich die Weiber und die Liebe, aber über seinen Glauben sann er nicht mehr nach, als über den Tod, über den er gar nicht nachdachte, als ob er überzeugt wäre, daß dies gar nicht nötig sei, weil beides seinerzeit an uns schon denken würde. Und nun, während der Anwesenheit der Gäste in Jastrzemb, war er um so mehr meilenweit von solchen Fragen entfernt. Früher, als er noch mit der Mutter jeden Sonntag zum Hochamte nach Rzenslewo fuhr, hegte er im Grunde der Seele die poetische Hoffnung, daß eines Sonntags hinter der Kirchentür das Gerassel einer Karosse ertönen, eine junge, wunderschöne Prinzessin von weit her, aus der Gegend des Baltischen Meeres oder Kijews, ankommen und in der Kirche erscheinen würde – er wird sie nach Jastrzemb einladen, sich in sie verlieben und sie ehelichen.

Doch plötzlich gingen diese Jugendträume beinahe in Erfüllung, denn nach Jastrzemb kam nicht eine, sondern es kamen drei Prinzessinnen, über die er so viel nachsinnen konnte, als er nur wollte, und die jetzt vor dem Hausaltare im Gebet versunken knieten.

Er betrachtete abwechselnd Frau Otocka und die einem Tanagrafigürchen ähnliche Gestalt des Fräulein Marie, und wiederholte sich selbst: »Die Mutter will mir eine von ihnen zur Frau geben.«

Dieser Idee war er nicht abgeneigt, aber er dachte über Frau Otocka: »Diese ist ein Buch, das schon jemand gelesen hat, und jene ein Spitzbub, ein violinspielender Spitzbub dazu.«

Krzycki war in jenem Alter, in dem Frauen unter zwanzig Jahren noch nicht mitzählen. Nach einer Weile richtete er seinen Blick wie unwillkürlich auf Fräulein Anney, unwillkürlich, weil sie das am meisten glänzende Objekt im Zimmer war, denn die untergehende Sonne durchleuchtete mit solchem Schimmer ihr Haar, daß der ganze Kopf in Flammen zu stehen schien. Fräulein Anney erhob von Zeit zu Zeit die Hände, schützte auf diese Weise ihr Antlitz und dämpfte diesen Glanz; aber da die Sonnenstrahlen immer kühler wurden, unterließ sie es bald. Manchmal wurde ihre kniende Gestalt seinen Blicken durch ein junges, brünettes Mädchen entzogen, das Krzycki nicht kannte, in welchem er aber die Kammerjungfer einer jener Damen vermutete. Gegen Ende der Andacht beugte sich das Mädchen so vor, daß Krzycki durch nichts mehr an dem Anblicke des hellen Haares und der jungen, starken Schultern verhindert wurde.

Das wäre die größte Versuchung! – sagte er sich – aber die Mutter wäre dagegen, weil sie eine Ausländerin ist.

Doch plötzlich, gleichsam als Gewissensbisse, kamen ihm die traurigen Augen und schmächtigen Arme des Fräulein Stabrowska in den Sinn. Ach, wenn Rzenslewo und das Vermögen ihm zugefallen wären! Aber der Onkel verschrieb Rzenslewo für Schulen und das Kapital für Bauernlümmel zu Reisen nach Karlsbad – wie Dolhonski zu sagen pflegte – und einige Tausende der Hanka Skibianka. Bei diesem Gedanken runzelte Krzycki die Stirn und strich mit der Hand darüber.

»Ganz unnötigerweise habe ich mich in Gegenwart meiner Mutter und dieser Damen ereifert«, sprach er zu sich selbst, »ich muß aber Gronski diese Angelegenheit erklären.«

In der Tat wandte er sich nach der Andacht an ihn.

»Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Ja!« erwiderte Gronski. »Wann willst du es tun?«

»Nicht heute, denn vorher muß ich in Rzenslewo sein, um die Leute über etwas auszufragen, dann die Wirtschaft und die Gäste … Am besten morgen abend oder übermorgen. Wir nehmen Gewehre und gehen in den Wald. Dort ist jetzt Schnepfenzug. Dolhonski ist kein Jäger, also werden wir ihn bei den Damen zurücklassen.«


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