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IV.

Fräulein Anneys Brief zeichnete sich durch ungemeine Schlichtheit aus. Zunächst sprach sie davon, daß in dem Augenblicke, als Krzycki um ihre Hand bat, sie ihm ihren ersten Namen enthüllen mußte; in weiterer Folge erzählte sie genau aber ebenfalls schlicht ihre eigenen Lebensschicksale und diejenigen ihrer Familie seit dem Fortzug von Rzenslewo. Diese traurigen Begebenheiten teilte sie mit folgenden Worten mit: »Mein Vater stammte aus Galizien und hatte in Amerika Verwandte, von denen er hörte, sie hätten Vermögen erworben. Sobald er dies erfahren hatte, beschloß er, ebenfalls nach Amerika auszuwandern, um jenseits des Ozeans sein Glück zu versuchen. – Wir verließen also Rzenslewo, während Sie in Warschau weilten. Ich konnte schon schreiben, da ich es im Herrschaftshause erlernt hatte. Ich hätte Sie daher von unserer Abreise in Kenntnis gesetzt, wenn mir Ihre Adresse bekannt gewesen wäre. Ohne Abschied von jemand zu nehmen, fuhren wir über Hamburg fort, aber dort stellte es sich heraus – was ja bäuerlichen Emigranten oft passiert – daß der Agent uns betrogen und das Geld gestohlen hatte. Er schiffte uns auf einem Dampfer ein, der nicht nach Amerika, sondern nach England fuhr. Auf Londoner Pflaster hingeworfen, verfielen wir bald in Not und Elend. Zur Fahrt nach Amerika besaßen wir keine Mittel mehr. Meine Mutter starb im Krankenhaus an Typhus, und auch mein Vater verfiel aus Verzweiflung und Heimweh in eine schwere Krankheit. In dieser trostlosen Lage fand uns Herr Anney, einer der besten und edelsten Menschen der Welt, ein Beschützer und Freund der Polen. Er gab uns Arbeit, doch die war verspätet, wenigstens für den Vater, der bald darauf starb.

Ich blieb in der Fabrik und arbeitete dort bis zum Eintritt eines Ereignisses, das meine Lage vollständig änderte. Anneys hatten eine einzige Tochter, die sie über alles liebten und mit um so größerer Sorgfalt umgaben, als ein Brustleiden sie bedrohte. Es geschah nun, daß bei einem Besuche der Fabrik Fräulein Anney von dem Triebrade einer Maschine fast erfaßt worden wäre. Ich eilte ihr zu Hilfe, indem ich dabei mein eigenes Leben aufs Spiel setzte – und von dieser Zeit an hatte die Dankbarkeit der Anneys für mich keine Grenzen mehr. Sie nahmen mich aus der Fabrik zu sich, und auf diese Weise wurde ich die Gefährtin und später die herzlichste Freundin ihrer Tochter. Ein polnischer Emigrant aus den 60er Jahren, ein hochgebildeter Mann, unterrichtete uns beide, und außerdem unterwies er mich im Polnischen. Ich trachtete, soviel ich nur konnte, aus diesen Lektionen Nutzen zu ziehen, und schon nach zwei Jahren vermochte ich mich ein wenig dem geistigen Niveau meiner Freundin und ihrer Umgebung zu nähern. Doch Agnes – dies war Fräulein Anneys Name – fing zu kränkeln an. Da verkaufte Herr Anney die Fabrik, und wir siedelten alle, unser Lehrer ebenfalls, nach Italien über. Dort verbrachten wir fast drei Jahre beim Suchen eines geeigneten Klimas für unsere teure Kranke. Alle Sorgfalt war jedoch vergebens, und Gott berief seinen Engel zu sich. Nach Agnes' Tode nahmen mich Anneys in Anbetracht, daß ich aus ganzer Seele ihrer Tochter zugetan war, an Kindesstatt an und gaben mir nicht nur den Zunamen, sondern auch, um ihre Verzweiflung, ihren Gram und ihr Leid zu täuschen – den Rufnamen der Verstorbenen. Allein der Gram ließ sich nicht täuschen, und obgleich ich aus ganzem Herzen trachtete, ihnen ein Trost im Leben zu sein, folgten sie beide im Laufe von zwei Jahren ihrem teuersten Lieb in die Ewigkeit nach.

Damit ist meine Geschichte zu Ende. Es kamen nun Begebenheiten, die mich Ihnen abermals näher brachten, ich will versuchen, mein Vorgehen Ihnen gegenüber zu rechtfertigen. – Ich habe ein Recht auf den Namen, den ich jetzt trage, und seitdem ich Rzenslewo verlassen, war mein Leben rein. Das Gewissen wirft mir nur einen neuen Fehler vor, nämlich, ich habe Anneys nicht gestanden, daß ich ihrer Fürsorge nicht würdig war. Ich besaß aber nicht Kraft genug, um das zu gestehen. Ich liebte meine Agnes zu sehr, und fürchtete, man würde uns trennen. Später wollte ich ihren Schmerz nicht durch neuen Kummer vergrößern. Ich hatte auch keine Kraft dazu. Zuweilen denke ich auch, daß, wenn sie jetzt vom Himmel auf mich herunterschauen und alles sehen – sie es mir vergeben, daß ich das Geheimnis vor ihnen bewahrt habe. Sonst, ich wiederhole es noch einmal und beschwöre es, war mein Leben rein. – In meinem Gedächtnis finde ich nur Särge und Grabhügel, und aus meiner Rzenslewoer Zeit blieb mir nur die Erinnerung an Sie. Ich konnte weder mein Glück noch meine Sünde vergessen. Wenn ich noch zu Lebzeiten meiner Adoptivschwester in ihre reinen Augen blickte, kämpfte ich mit meinem Kummer und weinte zugleich vor Sehnsucht. Später, als ich auf der Welt allein blieb, hatte ich nichts, mein Herz daran zu hängen, und ich sehnte mich noch mehr. Nach dem Tode meiner Pflegeeltern lernte ich in Brüssel Frau Otocka kennen, mit der ich mich befreundete, und da erfuhr ich zufällig gesprächsweise, sie sei mit Ihnen verwandt. Nun erzählte ich ihr mein ganzes Leben, ohne etwas zu verheimlichen, und sie wandte sich nicht von mir ab, sondern gewann mich noch mehr lieb. Durch ihre Güte ermutigt, gestand ich ihr auch meine Sehnsucht nach den Erinnerungen an Rzenslewo. Vielleicht ist es unrecht von mir, daß ich auch meine unwiderstehliche Lust zu erkennen gab, noch einmal Jastrzemb, Rzenslewo – und warum nicht die volle Wahrheit sagen – auch Sie wiederzusehen … Da sagte mir Sophie: ›Ich verstehe dich, fahre mit mir nach Jastrzemb als Fräulein Anney, unter deinem früheren Namen kannst du es nicht. Niemand wird dich dort erkennen, und du kannst mit deinem Herzen abrechnen. Vielleicht verwischt dann die Wirklichkeit den Regenbogen der Erinnerungen. Wenn du dich für immer beruhigt haben wirst, um so besser für dich: – wenn Wladislaw sich in dich verliebt, um so schlimmer für ihn; wenn aber das verschollene Echo in eurem Herzen erwacht – dann ist es Bestimmung.‹ So riet mir Sophie und deswegen fand auch ich mich in Jastrzemb ein, als Ihre Mutter sie und Marie eingeladen hatte. Ich will jedoch nicht besser scheinen, als ich bin. Ich gestehe, daß, als ich dorthin fuhr, ich immer Sophies Worte im Sinne hatte: ›Wenn er sich in dich verliebt, um so schlimmer für ihn‹ – und ich wünschte, daß es so kommen möge. Ich war überzeugt, daß Sie mich nicht ganz vergessen hätten, und dachte, es sei eine gerechte Strafe für Sie, daß Sie sich jetzt in mich verliebten, ohne aber meine Gegenliebe zu finden. Zugleich wäre es aber auch ein Triumph für mich gewesen, zwar keine Rache, wie sie in Romanen vorzukommen pflegt, aber doch eine große Genugtuung für meine Eigenliebe. Es kam aber anders, denn ich hatte es vergessen, in Erwägung zu ziehen, daß ich selbst auch ein Herz in der Brust habe, nicht aus einem fremden Buche, sondern aus einem polnischen Dorfe – einfach und schlicht. Sobald ich Jastrzemb, Rzenslewo und Sie erblickt hatte, wollte ich nur weinen und immer wieder weinen, wie ich ja auch beim Begräbnisse des Herrn Zarnowski meine Tränen nicht zurückhalten konnte, und es fand sich in mir jene Hanka wieder, die vor Jahren sich mit der ersten kindlichen Liebe Ihnen ergab und dann mit solcher Inbrunst niemand mehr geliebt hat. Sie wissen, was weiter geschehen. Wenn Sie nicht zu mir zurückkehren, verüble ich es Ihnen nicht, aber auch Sie dürfen mir nicht grollen. Auch ich ging nur am Glück vorbei …«

Die Unterschrift lautete »Hanka«.

Krzycki flimmerte es vor den Augen, als er diesen Brief las. Er wiederholte oft die Unterschrift des Briefes: »Hanka, Hanka«. – Schließlich sprang er vom Sessel auf und durchmaß mit langen Schritten mehrmals das Zimmer.

Seine Gedanken ballten sich zusammen wie Wolken am Himmel, um eben so schnell wieder zu entfliehen wie eine scheugewordene Herde Steppenpferde. Den Brief las er wieder und wieder, und unter dem Eindruck dieser Lektüre zogen vor seinen Augen die Bilder der Vergangenheit so ausdrucksvoll vorüber, als wenn alle diese Ereignisse erst gestern stattgefunden hätten. Er gedachte der lichten, mondhellen Nächte, in denen er sich in die Mühle schlich – und dieses heuduftenden Landmädchens, das auf die Frage, ob sie ihn liebe, als Antwort »freilich« lispelte und ihm die noch halb kindlichen Ärmchen um den Hals warf und ihn mit solcher Kraft an die Brust preßte, wie nur je eine Liebe sich zu einem solch offenherzigen Geständnis aufschwingen konnte. Er erinnerte sich, wie er sie damals liebte und wie er sich nach ihrer Abreise nach ihr erkundigte, allerdings nur vorsichtig, weil Furcht ihm die Lippen verschloß. Dann entschwand das Mädchen seinem Gedächtnis, und sogar die leisen Vorwürfe, die er sich machte, verwischten sich schließlich. Ihm ging es ja gut im Leben, während das Schicksal Hanka hart angepackt hatte und wie ein welkes Blatt auf hartem Erdboden dahinwehte; sie hatte wohl gar oft Hunger gelitten und seiner doch nicht vergessen, auch damals nicht, als gute Menschen sich ihrer angenommen hatten; sie hatte nie aufgehört, sich nach ihm zu sehnen. Krzycki war zwar kein großer Menschenkenner, aber dennoch empfand er, daß das, was für ihn ein gewöhnliches Liebesabenteuer, ein banaler Sinnesrausch gewesen war, für sie zum neuen Leben, zur Hingabe ihrer ganzen Seele wurde, ihrer Seele, die viel zu rein und edel war, um imstande zu sein, auf neuen Wegen neues Glück zu suchen. Und jetzt begriff er es, warum dieses begehrenswerte, einem holden Traume gleichende jetzige Fräulein Anney, das Wohlstand umgab und von jedermann bewundert wurde, ihm schrieb, daß sie kein Herz aus einem Buche, sondern aus einem polnischen Dorfe habe – einfach und schlicht. Er begriff nun auch, weshalb sie den Brief »Hanka« unterzeichnet hatte.

Plötzlich verschwand auch sein Argwohn gänzlich, und ihre Worte: »Mein Leben war seit meiner Abreise aus Rzenslewo rein« – rührten ihn so tief, daß er sich Vorwürfe machte, auch nur einen Augenblick anderer Meinung über sie gewesen zu sein. Er erschien sich selbst so klein, so elend und dieser edlen und hehren Seele so unwürdig! Doch seinen Sinn und sein Herz bewegten in letzter Zeit so viel Gedanken und Eindrücke, daß er nicht sicher war, ob dieses Gefühl der eigenen Schuld und der eigenen Minderwertigkeit auch wohl dauernd sein würde. Allein immer größere Weichheit bemächtigte sich seiner, und der Unterschied zwischen Hanka und Fräulein Anney, der ihm zuerst so peinlich war, verwischte sich immer mehr. Jetzt war es umgekehrt: bei dem Gedanken, daß jenes einfache Mädchen und dieses entzückende heutige Fräulein ein und dieselbe Person seien, durchzuckte ihn ein Wonneschauer. Die Erinnerung, daß er sie einst besessen, erregte in ihm eine Art Hunger und eine neue Leidenschaft, und der Gedanke an ihre Reize brachte sein junges Blut in noch heftigere Wallung.

Er trachtete jedoch, diese Gefühle in sich zu unterdrücken, um über die Angelegenheit ernst und mit dem vollen Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit nachzudenken.

Vor allem legte er sich die Frage vor, was wohl ein Ehrenmann in einem solchen Falle zu tun habe. Er hatte ein Mädchen, fast noch ein Kind, das ihm innigst zugetan war, verführt und ihm bitteres Unrecht zugefügt; nach einigen Jahren begegnet ihm dasselbe Mädchen, aber unter anderem Namen und in glänzenden äußeren Verhältnissen, worauf er sich sterblich in sie verliebt.

Krzycki fand auf diese Frage nur eine Antwort, nämlich, selbst wenn er sich nicht in sie verliebt hätte, ihre Liebe zu ihm aber andauerte, er dann alle Konsequenzen aus seinen früheren Handlungen ziehen müsse; selbst wenn sie ein einfältiges Bauernkind geblieben wäre und nie imstande sein würde, ihn zu verstehen, oder wenn sie sogar den Weg der Ehrbarkeit verlassen hätte, wäre dies kein ausreichender Grund für ihn, seine Hände in Unschuld zu waschen und sich zurückzuziehen; geschweige denn jetzt, wo dieses Mädchen die geistige und gesellschaftliche Kluft, die sie früher voneinander trennte, ausgeglichen hatte und dabei ihre eigene Seele veredelte – ein solches Mädchen konnte, durfte er nicht aufgeben!

»Ja, es ist so! Ich müßte mir selbst ins Gesicht speien«, sagte Krzycki, ohne dabei zu bedenken, daß in der Praxis diese Tätigkeit etwas schwer auszuführen sei – »wenn ich länger zögerte. Nur eins ist hier vonnöten, und dies eine tue ich sogleich.«

Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, seufzte er tief auf, wie ein Mensch, dem ein großer Stein vom Herzen gefallen ist; und in dem Maße, wie er sich früher in den eigenen Augen klein vorkam, fühlte er sich jetzt groß. Er fragte sich jedoch nicht, was er wohl getan haben würde, wenn Fräulein Anney nicht solche wunderbaren, wie durch einen blauen Nebel blickende Augen gehabt hätte, wenn nicht ein Antlitz, dessen Farbe an die weißen Rosenblättchen erinnerte, ihr eigen gewesen wäre, und wenn nicht all die lockenden Reize seine Augen immerfort auf sie gelenkt hätten. Viele seiner Bekannten, so sagte sich Wladislaw, würden sich nicht zu einem solchen Entschlüsse aufgeschwungen haben, kurzum, er war mit sich vollkommen zufrieden. Daß ihm dieser Entschluß deshalb nicht schwer gefallen war, weil all sein Sinnen und sein Herz sich zu Fräulein Anney hingezogen fühlten, betrachtete er nicht als eine Beeinträchtigung des Wertes seiner Tat, sondern als einen ihm besonders günstigen Glücksfall.

Einen Kampf mit seiner Mutter sah er jedoch voraus und auch mit der sogenannten öffentlichen Meinung, die sich nicht um Grundsätze, sondern um Klatschereien kümmert und in erster Linie Nahrung für ihre einfältige Boshaftigkeit sucht. Er hoffte aber, die Mutter zu versöhnen, und den Böswilligen, die aus geringfügigster Ursache ironisch zu lächeln pflegen, stellten schon im voraus seine zusammengepreßten Zähne und aufgeblähten Nüstern nichts Gutes in Aussicht.

Diese mutmaßlichen ritterlichen Auftritte gehörten jedoch der Zukunft an, und mittlerweile trieb ihn sein hitziges Naturell zur sofortigen Tat. Er beschloß daher, sofort zur Mutter zu gehen, um sich endgültig mit ihr auseinanderzusetzen; als er jedoch auf die Uhr blickte, überzeugte er sich, daß es beinahe drei Uhr nachts war; deshalb war sein sofortiges Handeln heute nicht mehr möglich. Da er jedoch nicht das geringste Schlafbedürfnis empfand und unbedingt etwas tun wollte, setzte er sich an den Schreibtisch, um Briefe zu schreiben.

Vor allem steckte er Fräulein Anneys Brief in ein Kuvert, weil er ihn seiner Mutter vor der entscheidenden Aussprache senden wollte; dann schickte er sich an, dem Fräulein Anney einen Brief zu schreiben; bald aber unterließ er es wieder, weil er sich an sein gegebenes Wort erinnerte, eine Woche lang zu schweigen. Dagegen richtete er nach kurzer Überlegung einige Worte an Frau Otocka, in denen er sie um Erlaubnis bat, ihr morgen einen Besuch abstatten zu dürfen.

Endlich, als die Morgendämmerung bereits eingetreten war und mit dem Lampenlichte sich zu vermischen begann, dachte er ans Ausruhen; er konnte aber nicht einschlafen, obgleich er eine ungeheure Müdigkeit empfand, und er sprach im Geiste mit der Mutter und mit Fräulein Anney bis zum Sonnenaufgang. Er schlief erst fester ein, als im Hotel das morgendliche Treiben bereits begann, und erwachte erst am späten Vormittag. Nachdem er sich angekleidet hatte, läutete er nach dem Diener, und befahl ihm, Fräulein Anneys Brief zur Mutter zu bringen, allein im letzten Augenblicke besann er sich anders und beschloß, ihn selbst hinüberzutragen. In den Zimmern jedoch, welche Frau Krzycka bewohnte, traf er nur die jüngeren Geschwister in Gesellschaft der französischen Gouvernante, die erklärte, daß »Madame« schon in der Frühe zur Kirche gegangen wäre.

Frau Krzycka hatte sich tatsächlich in die Kirche und zur Beichte begeben, weil sie in dem Leid, das über sie hereingebrochen war, Rat und Trost brauchte. Und dieses Leid war ein wirkliches und tiefes. Sie lebte in einer Zeit, in der Aberglaube und verschiedene alte Vorurteile sich verwischten und immer mehr verschwanden, um neuen, demokratischen Ideen Platz zu machen. Und da sie mehrfach gehört hatte, daß die Welle dieser neuen Ideen dem Lande Nutzen und Erlösung bringen würde, hatte sie sich stillschweigend damit abgefunden, obwohl ihre Gewohnheiten und ihre früheren Anschauungen denselben entgegengesetzt waren. Das wurde ihr um so leichter, als sie nie daran gedacht hatte, jemals mit diesen Bestrebungen näher in Berührung zu kommen. Es war für sie etwa das gleiche, als ob in Jastrzemb einige unbenutzte Zimmer neu möbliert worden wären, die neumodischen Möbel mochten dort stehen, wenn nur in den übrigen Zimmern die alten ererbten Lehnstühle, in denen man so bequem sitzen konnte, auch stehen blieben! Und nun sollte sie plötzlich in die neuhergerichteten Zimmer übersiedeln! So stand sie nun vor der Tatsache, daß ihr Sohn sich in eine Rzenslewoer Bauernmagd verliebte und sie heiraten sollte.

Im ersten Augenblick geriet in ihr alles in Aufruhr; die alten Instinkte und Gewohnheiten schrien laut auf. Jenes passive und stillschweigende Einverständnis mit den neuen Ideen stürzte ein wie ein Kartenhaus, und der ganze Gang der Ereignisse erschien der entrüsteten adligen Gutsbesitzerin wie eine abscheuliche Intrige, deren Spielzeug und Opfer ihr Sohn und mit ihm das ganze Geschlecht der Krzycki sein sollte. Ihr Erstaunen darüber, daß die Hauptmitwisserin und vielleicht gar die Urheberin dieses Planes eine Dame sein konnte, die Frau Krzycka als Verkörperung aller Frauentugenden erachtete und mit der sie ihren Sohn sogar verehelichen wollte, steigerte sich schließlich zu einem gewaltigen Zorn. Vergebens erklärte ihr Frau Otocka, daß dieser Sohn der Verführer eines unschuldigen Kindes gewesen sei, Fräulein Anney hingegen sei ein Engel, den sie nicht in böser Absicht nach Jastrzemb gebracht habe; und schließlich tat sie ja nur, was jede andere Frau, die das Unrecht und die Sehnsucht mitfühlt, an ihrer Stelle auch getan haben würde.

»Wenn es der heißeste Wunsch des Fräulein Anney war, noch einmal im Leben die Stätte zu sehen, wo ihr Schicksal sich entschieden – und den Mann, den sie nicht vergessen konnte und der diese Lage verschuldet hatte – mußte dieser Wunsch erfüllt werden, und jeder, der nur ein wenig Herz besitzt, müßte das eigentlich begreifen.«

»Und sagen Sie, Tante«, sprach sie weiter, »ob ich ihr Geheimnis verraten durfte, und ob ich sie nicht dadurch in eine unmögliche Situation gebracht hätte?«

Die sonst so stille und sanfte Frau Otocka ließ sich durch die Verteidigung ihrer Freundin so weit hinreißen, daß sie Frau Krzycka unumwunden erklärte, auch wenn Wladek sich in Fräulein Anney verliebt hätte, ohne Gegenliebe zu finden, so wäre das nur eine gerechte Strafe für ihn gewesen; im übrigen habe »Aninka« seine Werbung noch gar nicht angenommen, sondern ihm eine Woche Bedenkzeit gegeben, er könne sich also immer noch zurückziehen, aber in dem Falle würde er nicht bloß Fräulein Anneys Achtung verlieren.

Diese Erörterungen waren aber nur dazu angetan, Frau Krzyckas Ärger noch zu vergrößern, und schließlich erklärte sie, es möge sein wie es wolle, aber sie und ihr Sohn wären einer Hinterlist zum Opfer gefallen. Hierauf verließ sie Frau Otocka und siedelte ins Hotel über, nachdem sie beim Weggehen noch geäußert hatte, ihr Fuß solle die Schwelle dieses Hauses nie wieder überschreiten.

Allein die Bitterkeit und der Zorn, die ihr Herz erfüllten, wandten sich nicht allein gegen Frau Otocka. Der Sohn hatte nicht minder tief ihr Herz verwundet und eine lange Reihe schmerzlicher, mit dem Andenken ihres verstorbenen Mannes verknüpfter Erinnerungen wachgerufen. Dieser Mann nämlich, den sie in den ersten Jahren ihrer Ehe wegen seiner zahlreichen guten Eigenschaften und wegen seiner ungewöhnlichen Schönheit vergötterte, verursachte ihr jedoch nicht wenig Kummer durch seinen unmoralischen Lebenswandel hinsichtlich seines Verhältnisses zu den Frauen im allgemeinen und den Einwohnerinnen von Jastrzemb und Umgebung im besonderen. Es war auch kein Geheimnis für Frau Krzycka, daß im Laufe der Jahre aus dem herrschaftlichen Stalle manche Kuh herausgeführt war als Geschenk oder richtiger als Entschädigung für verschiedene Kasies und Marysies, und daß in Jastrzemb ein reichliches Häuflein Halbbrüder und -Schwestern ihrer Kinder zu finden war. Ungezählte Tränen vergoß sie aus diesem Grunde, fast bis zum letzten Lebensjahre ihres Mannes. Darunter litt nicht nur ihre Eigenliebe, sondern auch zugleich ihre weibliche Würde als Gattin und Mutter. Aber sie verzieh alles, doch, da sie sehr religiös war, lebte sie nach dem Tode ihres Mannes in ständiger Angst bei dem Gedanken an das Gottesgericht, vor dem der Selige erscheinen mußte. Seit Jahren flehte sie durch Tränen, Fasten, Almosengeben und Gebet um Verzeihung für ihn. Vor allem jedoch beschloß sie, den Sohn so zu erziehen, daß er nie in die väterlichen Fehler verfallen könnte. Sie behütete ihn seit seinen Knabenjahren wie ihren Augapfel und suchte alle bösen Einflüsse von ihm fernzuhalten. Nachdem sie Wladek in die Schulen geschickt hatte, übergab sie die Aufsicht über ihn einem verwandten Geistlichen und Gronski, von dessen Moralität sie vollkommen und mit Recht überzeugt war. Und nun – da der Sohn schon erwachsen war und nach Beendigung der Schulen die Universität besucht und dann die Wirtschaft in Jastrzemb übernommen hatte, hegte sie die sonderbare Überzeugung, die man bei ehrlichen, frommen und mit der weltlichen Verderbnis nicht vertrauten Frauen so oft antrifft, daß Wladek noch rein wie eine Lilie sei. Und plötzlich fielen ihr die Schuppen von den Augen. Der Sohn trat in die Fußtapfen des Vaters. Bei diesem Gedanken bemächtigte sich ihrer die Verzweiflung.

In ihrer Seele flammte zwar ein heißer Protest gegen die Verbindung ihres Sohnes mit einer Bauernmagd auf, da sie aber ein sehr empfindsames Gewissen hatte, fühlte sie nach dem Gespräche mit Frau Otocka, daß Wladislaw doch dem Fräulein Anney gegenüber gewisse Verpflichtungen habe. Es kam ihr der Einfall, Wladislaw möge auf Grund einer vorher getroffenen Abmachung mit Fräulein Anney sich derselben erklären, von ihr aber eine Absage erhalten.

»Aber weiß ich denn« – dachte sie bei sich – »wie viele solcher Hankas noch in Jastrzemb sich befinden?«

Und ein Grauen ergriff sie bei dem Gedanken, daß unter diesen Hankas Wladislaws Halbschwestern sein könnten, denn es schien ihr, daß das Verbrechen des Vaters in verhängnisvoller Weise ein noch größeres des Sohnes nach sich ziehen müsse – und daß hinter beiden die ewige Verdammnis lauere.

»Ach, Wladek, Wladek!« jammerte sie ratlos und empfand außer Furcht und Schmerz eine solch tiefe Enttäuschung und blutige Herzenswunde, daß, obgleich sie die Notwendigkeit einsah, Wladislaw schleunigst herbeizurufen, um zu erfahren, wie er die Nachricht, Fräulein Anney sei Hanka Skibianka, aufgenommen habe, und was er zu tun beabsichtige, konnte sie sich dennoch nicht so weit überwinden, ihn jetzt gleich zu sehen. Sie schloß sich daher in ihr Zimmer ein und nahm sich vor, ihn, wenn er käme, nicht vorzulassen. Am nächsten Morgen ging sie in die Kirche und zur Beichte und nachher besuchte sie ihren Verwandten, den Prälaten denselben, in dessen Obhut Wladek sich früher befunden hatte, um ihn um Rat zu fragen.

Frau Krzycka war inzwischen ruhiger geworden. Der greise Prälat empfing sie freundlich und erkundigte sich sehr genau nach Fräulein Anney, nach ihrem Aufenthalt in Jastrzemb nach den Ereignissen, die dem Attentat auf Wladislaw folgten und nach Einzelheiten aus Hankas Leben, die Frau Krzycka von Frau Otocka erfahren hatte, schließlich nahm er Kenntnis von Frau Krzyckas Befürchtungen, worauf er im Zimmer auf und ab ging.

Nach langem Schweigen ließ er sich also vernehmen:

»Was die Sünden anbelangt, die Wladislaw außer diesem ersten Verschulden in Jastrzemb begehen konnte, so sind es immer nur Vermutungen und Befürchtungen, und da wir keine unumstößlichen Beweise besitzen, brauchen wir sie überhaupt nicht in Rechnung zu ziehen. Es bleibt also nur die einstige Hanka, das jetzige Fräulein Anney, übrig. Mit dieser einzigen Angelegenheit haben wir uns zu befassen, und da möchte ich wissen, welche Meinung du darüber als Mutter hast.«

Frau Krzycka entgegnete, sie wisse ganz gut, daß alle Menschen vor Gott gleich seien, aber hier komme es auf das Glück des Sohnes an. »Solche Ehen sind gewöhnlich nicht glücklich. Möglich, daß dazu die Böswilligkeit der Welt beiträgt, möglich auch, daß die Gattin nur von seiten boshafter und eitler Personen Demütigungen zu erleiden hat, aber der Gatte fühlt es auch – dadurch entsteht Gereiztheit – und das gegenseitige Verhältnis leidet darunter, auch ohne böse Absicht beider Eheleute. Mein Sohn ist ehrgeizig und empfindlich wie selten jemand – und selbst, wenn er die Frau sehr liebt, wird er leiden, sobald irgend jemand ihr auch nur den Schatten von Geringschätzung entgegenbringt. Wer in der Welt lebt, muß mit allem, sogar mit der Dummheit und mit der Bosheit rechnen von anderen Verhältnissen, die so oft das eheliche Zusammenleben stören, gar nicht zu reden.«

Der greise Prälat hörte genau zu, indem er seiner Gewohnheit gemäß sein Taschentuch abwechselnd entfaltete und zusammenlegte, und sagte endlich:

»Mit der Dummheit und der Bosheit rechnen, heißt nur, sich vor ihnen in Sicherheit bringen, nicht aber denselben nachgeben.«

Hierauf schaute der Prälat Frau Krzycka durchdringend an und fragte:

»Erlaube, daß ich dir eine Frage stelle: Warum muß denn dein Sohn unbedingt glücklich sein?«

Frau Krzycka sah ihn verwundert an:

»Ich bin ja doch die Mutter …«

»Jawohl, aber es gibt Dinge, die wichtiger sind als das Glück, besonders das irdische … nicht wahr?«

»Ganz richtig«, erwiderte sie leise. .

»Das, was du von den weltlichen Rücksichten sagtest, kann ja mehr oder weniger richtig sein, aber es gibt vielleicht tatsächlich Gründe, die es bewirken, daß in solchen Ehen das Glück schwerer zu erringen ist, als in anderen, aber vor allem muß man sich fragen, was im Leben größer und was geringer, was wichtiger und was minder wichtig ist, und dann hat man der Stimme des Gewissens zu folgen.«

»Wie soll ich also vorgehen?«

Der greise Prälat blickte auf das an der Wand hangende Kruzifix und erwiderte leise, aber mit Nachdruck:

»Wie eine Christin.«

Momentanes Schweigen trat ein.

»Ich begnüge mich mit diesem Rat«, erwiderte Frau Krzycka, »und ich danke!«


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