Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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Noten und Erläuterungen.

  1. Was die Liebe gewesen ist bei den Alten und Neuen;
  2. Was sie heute sein könnte, unter unseren Verhältnissen, wenn man sie als das Mittel zur moralischen Reform ansieht, welche einzig die übrigen Reformen möglich macht;
  3. Endlich, was sie werden wird in einer Welt der Gerechtigkeit und des Lichts, wie sie doch einmal für uns kommt:

Das war der ganze Vorwurf dieses Buches. Ich gebe davon heute nur den zweiten Teil.

In den ersten und dritten fallen natürlich eine Menge religiöser, sozialer und politischer Fragen, auf die ich diesesmal nicht eingehen kann.

Der zweite Teil, der hier vorliegt, ist die Liebe an sich, beschränkt auf das scheinbar Individuelle, in ihrem Fortgange, der, so könnte man glauben, außer allem Zusammenhange ist. Aber auf dem moralischen Gebiete steht nichts so isoliert da.

Hier schafft sie die Häuslichkeit, und sie schafft dieselbe in dauerhafter Weise; denn sie macht daraus etwas Lebendiges, der Erweiterung und des Fortschritts Fähiges. Das Feuer verlischt, wenn es nicht frei brennen kann, der Baum stirbt ab, wenn er nicht wachsen darf.

Wird die Liebe in ihrer natürlichen Bewegung nicht gehemmt, bleibt sie frei von den leeren Aufregungen, die sie entnerven und unfruchtbar machen, so wird sie den Fortgang haben, den sie so oft schon hatte, wird sich glorreich entwickeln und die Nationen befruchten, wie schon mehrmals in der Geschichte.

*

Was mir vor allem leid thut in dem Augenblicke, wo ich dies so kurze und so unvollständige Buch beendige, ist, daß ich diesmal die Kapitel, welche man schicklich »Erziehung und Kultur oder moralische Disziplin« überschreiben könnte, nicht habe ausführen können. Ich habe hier nach meinem schwachen Vermögen die Anfänge einer neuen Kunst gegeben.

Einer neuen und wie notwendigen Kunst! Denn die Familie, welche heutzutage von der Religion und vom Staate so wenig unterstützt wird, muß alle Nahrung für ihr inneres Leben aus der Liebe saugen, muß beständig aus ihren unversieglichen Quellen schöpfen.

Wie soll man in den heiligen Momenten vor und nach der Hochzeit zu der Frau sprechen? Wie sie für immer fesseln in jenen gläubigen Stunden, wo sie auf alles so willig hört, alles so willig annimmt? Wie sie später, wenn ihr Herz, von Trübsinn und Langeweile bedrückt, hin und her schwankt, wieder fesseln? Das hätte eine längere Entwickelung verdient.

In den Kapiteln » Geistige Befruchtung und Zeitigung« hätte ich gern Beispiele der wahren Kultur der Liebe gegeben. Vorläufig habe ich einmal auf einen wichtigen Punkt hingedeutet, indem ich nachwies, wie wesentlich die Erziehung der Frau von der unseren durch die Notwendigkeit, auf den Rhythmus ihres Lebens und die eigentümliche Weise ihrer Zeiteinteilung Rücksicht zu nehmen, abweicht.

In den Kapiteln » Versuchung und Heilung des Herzens« hätte ich die oft sehr einfachen Mittel, wodurch man die Liebe auf andere Gedanken bringen und heilen kann, vervielfältigen mögen. Meistens ist der Geliebte in einem solchen Falle wirklich Nebensache; der Augenblick entscheidet alles; die liebende Frau hat ein Bedürfnis, zu lieben; sie ist nur halb verliebt, aber sie will Liebe – Liebe! Die Liebe für ein Kind, für eine Idee, für eine neue Gegend, für eine wichtige Angelegenheit würde hinreichen, sie zu beruhigen. Häufig auch geschieht es, daß eine Unerfahrene sich für ein ganz untergeordnetes Verdienst begeistert. Sie würde zur Vernunft zurückkommen im Augenblick, wo ihr das wahre Verdienst, die echte Überlegenheit zu Gesicht käme.

Auch hätte ich gern die wichtigen Kapitel entwickelt, wo ich zeigte, wie die Frau, nachdem sie den ganzen ihr gebührenden Einfluß erlangt hat, als liebevolle Gattin und zugleich halb als jugendliche Mutter des Gatten über das rechte Verhältnis zwischen dem Verbrauch und dem Ersatz seiner Kräfte wacht, oft den Aufruhr seiner Sinne stillt, den Funken des Prometheus in ihm entfacht, ihm jetzt Lust und jetzt wieder die Vollkraft, immer aber Glück schafft. (Buch V, Kap. II und III.)

Hier nun müßten die moralischen und physischen Wissenschaften im Verein die fruchtbarste der Künste schaffen, die Kunst, das Leben durch die Liebe zu verlängern.

Wir sind auf der Schwelle dieses wichtigen Gegenstandes stehen geblieben, obgleich wir sehr wohl wissen, daß die heuchlerische Decenz, mit der man den Schleier darüber gedeckt und womit man alles der Laune preisgegeben hat, nichts zu reinigen, nichts zu moralisieren vermag. Indem sie darauf verzichtete, die geheimen Beziehungen der Ehe aufzuklären, hat sie daraus eine dunkle Welt, wo die grobe Natur alles ist, und die man deshalb verachten zu können glaubte, gemacht. Man hat dann fälschlich behauptet, daß die Liebe entnervend wirke, während sie doch im Gegenteil eine unversiegliche Quelle der Kraft ist.

Vor einiger Zeit predigte ein glänzender, von den Studenten hoch verehrter Chirurg, nach den Lehren eines großen rauhen Meisters, seinen Schülern die Inferiorität der Frau, die Herrschaft des Mannes, die Eitelkeit der Liebe u. s. w. Er glaubte, sie emanzipieren zu können, wenn er ihnen die Lust verächtlich machte. Ein großer Physiolog, einer meiner Freunde, der auch zugegen war, sagte zu ihm: »Nehmen Sie sich in acht, die Theorien jenes Mannes unvorsichtig zu verbreiten. Jene jungen Leute werden nur zu leicht die äußerliche Roheit annehmen, nicht aber die sittliche Strenge, nicht die tiefe Zärtlichkeit, die jener für das Heiligtum seiner Häuslichkeit aufbewahrt. Sie werden den herben Sittenrichter, der, um recht zu treffen, übers Ziel hinausschießt, nicht begreifen. Darf ich zu Ihnen als Arzt sprechen? Jene Lehre der Frauenverachtung ist aufs äußerste gefährlich; sie wird nicht die Enthaltsamkeit, sondern umgekehrt die Flatterhaftigkeit, die direkt zur Entnervung führt, zur Folge haben«.

*

Um auf die Lücken dieses Buches zurückzukommen, so hätte ich gern die Frau in die Geheimnisse der moralischen Kultur, die sie mit sich selbst vornehmen kann, eingeweiht. Der Gatte, ihre Stütze, als sie noch jung war, kommt später, wenn der Strudel der Welt ihn ergriffen hat, des Abends zerschlagen und mit müdem Herzen nach Hause. An ihr ist es, in ihrem Herzen das Paradies zu schaffen, dessen belebende Quellen ewig zu seiner Erfrischung fließen. In ihrer Liebe, in den unschuldigen Stimmen der Natur, die Gott ihr verständlich macht, wird sie Nahrung für diese Quellen finden. »Eine Rose als Ratgeberin!« Wie gern hätte ich diese Rose recht oft, recht lange, recht ausführlich sprechen lassen! Sie hat der Frau unserer Tage soviel zu sagen! Und sie, mit ihrem seinen Ohre, mit ihrem zarten Herzen, kann sie so gut verstehen!

Natur, die große Lehrerin der Harmonie, wird ihr im Namen Gottes raten, fest an dem Stamme zu halten, der sie trägt, nur da blühen zu wollen. Was hülfe es ihr, wollte sie für, ach! so kurze Zeit in einem Strauße neben anderen Schwestern glänzen? Verachte ihn nicht, diesen Mann! Ist er gleich nicht der sinnende Weise einer goldenen Zeit, der schlanke Kämpfer, der Heros des Altertums, bedenke, liebe Tochter, daß er dafür nach der anderen Seite ein viel Mächtigerer ist! er ist der energische Arbeiter, er ist der starke Schöpfer einer wunderbaren Welt von Wissenschaft, Industrie und Reichtum, die erst gestern aus seiner glühenden Thätigkeit hervorging. Er hat alles verändert. Neben der Natur hat er noch eins mit seinem Genie und seiner Kraft geschaffen. Du sitzest da, du (wenn du zu den wohlhabenden Klassen gehörst), die schöne Lilie auf dem Felde, und schauest und genießest.

»Aber wie? mein Gatte ist Kaufmann, Industrieller, Arbeiter ...« So ist er ein Schöpfer von Reichtum ... »Ein Schriftsteller, Maler ...« So ist er ein Schöpfer von Werken der Kunst. Und wende dich, wohin du willst, jeder Beruf ist heutzutage Kunst.

Bei dieser allgemeinen Anstrengung häufen sich Ideen, Werke, Reichtümer auf fabelhafte Weise. Mag dieses oder jenes Mittel auch prosaisch sein ... sieh auf die Größe des Resultats. Dein Gatte, der moderne Mensch, hat nichts vorgefunden, hat alles selbst geschaffen. Wenn unsere Väter wiederkommen könnten, sie würden sich entsetzen, sie würden sich auf die Knie werfen vor ihren gewaltigen Söhnen. Schaue mit Achtung, mit Liebe und auch mit Mitleid auf ihn, den Märtyrer der Arbeit! Achte nicht kindisch auf den Staub, mit dem dein glorreicher Prometheus vielleicht sein Gewand besteckt hat. Blicke auf seine bleiche Stirn. In dem Strahlenglanze, der sie umgiebt, siehst du den Schweiß, ach, wie so oft! den Schweiß des Blutes tropfen.

Aber auch er hat eine heilige Pflicht. Er darf sich nicht von der Wut der Arbeit soweit hinreißen lassen, daß sie ihn verschlingt, daß er nur den engen Schienenweg seiner Bahn (sie sei, welche sie sei) sieht, daß er über den Einzelheiten erblindet. Es giebt nichts Kleines, das weiß ich wohl. Um Erfolg zu haben, ist die minutiöse Sorgfalt notwendig; ohne sie ist kein Resultat möglich. Aber der Arbeiter muß größer bleiben als sein Werk. Und auch nur dann kann das Werk selbst groß sein. Wenn er sich die hohe Idee desselben bewahrt, wird er die Macht über die Frau nicht verlieren. Sie ist dem treu und hold, der groß und stark ist. Und der bleibt groß, sein Beruf sei, welcher er wollender den Zusammenhang desselben mit der übrigen Welt nicht verliert.

Darüber hätte ich hier in diesem trauten Orte, wo die tiefe Stimme des Meeres melodisch meine Meditationen begleitete, gern noch mehr geschrieben. Aber da erinnert mich ein kleines Mädchen von sechs oder sieben Jahren, daß es nun genug sei. Man schöpfte am Strande Wasser zu Bädern. Das Kind, eines Fischers Tochter, stand dabei und schaute zu. »Woran denkst du, Kleine?« fragte ich sie. »Es ist doch seltsam mit dem Meere,« antwortete sie. »Wieviel sie auch herausschöpfen, es wird darum doch nicht weniger.«

Gerade derselbe Gedanke beschäftigte auch mich in dem Augenblicke. Aber ich meinte ein anderes Meer.

Ich schöpfte, was ich vermochte, in diesem unergründlichen, uferlosen Meere. Ich habe es so wenig erschöpft, daß es noch immer gleich unergründlich ist.

*

Note 1.

Überblick des Ganzen.

Wenn wir am Ende des Buches nicht seinen Anfang vergessen haben, müssen wir uns an eine Eigentümlichkeit der Liebe erinnern. In den verschiedenen Stadien der Ehe glaubte sie ihr Ziel erreicht, glaubte sie das Unendliche erschöpft zu haben.

Allerdings, aber die Seele war noch nicht, was sie sein konnte; so war ihre Unendlichkeit auch noch nicht die rechte.

Wenn die junge Frau von zwanzig Jahren mit solchem Feuer sagte: »Nimm mich ganz; ich gebe mich dir ganz zu eigen«, so war das keine Lüge; aber was gab sie? Noch wenig. Sie gab eben, was sie hatte. (Buch II.)

Wenn die Befruchtung ihr ganzes Wesen so tief veränderte, daß ihre Stimme, ihr Gang, soviel unwillkürliche Zeichen zu sagen schienen: »In mir ist alles er«, so war ohne Zweifel das Unendliche erreicht. – Erreicht? Ja, die physische, nicht die freie Unendlichkeit der Seele. (Buch III.)

Es fehlte noch etwas, wozu die Frau wahrhaft erst in ihrer zweiten Jugend imstande ist, wenn sie mit einem Aufschwunge des Herzens sich losreißt aus dem passiven Zustande, in welchem sie bis dahin fast stets verharrte, anfängt, selbstthätig zu handeln, sich zu ihm macht, nicht durch die blinde Notwendigkeit der Befruchtung, sondern durch den Willen, durch die Liebe. (Buch V.)

Ais zu dieser Zeit trennte die Gatten die Arbeit. Die Frau konnte des Gatten nur in bestimmten Stunden habhaft werden. Jetzt gehört ihr jede Stunde, Tag und Nacht. Er kann sich nicht mehr von ihr trennen. Sie ist sein junger, lieber Genoß, in dem er Ernst und Scherz, alles, was er will, findet, die sich für ihn verwandelt. Sie ist Viola, sie Rosalinde, ein lieber Freund am Morgen, Frau am Abend, ein Engel zu jeder Zeit.

Gehorsam, wie sie ist, Hat sie dennoch, wenn es sein muß, die Initiative. Und wenn der Mann in seinen Geschäften, seiner Gedankenarbeit schwankt und zaudert, wenn sein verstörter Geist sucht und sucht und nicht findet, dann ist sie da, und der böse Zauber schwindet, und er lächelt selbst über die nächtlichen Gespenster. Ein Kuß giebt ihm die verlorene Spannkraft wieder.

Haben wir hier nicht jenen absoluten Austausch des Wesens, den wir suchten, gefunden? Wenn die schwache Frau die Seele des Mannes so wohl begriffen, sich so ganz zu eigen gemacht hat, daß sie ihm dieselbe zur Not zurückgeben kann, und wenn sie dem männlichen Genius in Stunden der Schwäche das giebt, was sie selbst von Natur gar nicht besitzt, die Zeugungskraft – scheint dies nicht das Wunder der vollständigen Vereinigung zu sein?

Nein – es giebt noch eine tiefere Durchdringung, und das ist, wenn die Gatten sich in einem Liebesgedanken begegnen, einem und demselben Gedanken der allumfassenden Nächstenliebe, das, das ist der Triumph der Liebe!

Nächstenliebe! o welch ein herrliches Ding! Alles andere ist untergeordnet: Anmut, Geist, Verstand haben nur Wert durch sie. Selbst wenn sie allein ist, ist sie allmächtig. Es ist gar nicht selten, daß man eine Frau begehrt, weil sie gut ist, und aus keinem anderen Grunde. Tiefe Harmonie unseres Wesens! Das Herz will durch die physische Vereinigung die moralische Schönheit erreichen, von der es gerührt wurde.

*

Die Liebe ist Sache des Gehirns. Jeder Begierde lag eine Idee zu Grunde.

Oft freilich eine sehr verwirrte Idee, eine Idee, welche von einem Körperzustande (Wärme, Trunkenheit u. s. w.) unterstützt, angefeuert wurde, aber die nichtsdestoweniger vorausging.

Deshalb ist ein einfacher Wechsel der Umgebung, des Klimas, der Gewohnheiten oft genügend, um alles zu verwandeln. Einer, der sich mit seiner Frau in der Niederung langweilt, würde sie in den Alpen lieben. Rousseau sagt, daß ihn der Anblick des Pont du Gard tugendhaft machte. Ein anderer findet beim Anblick des lago maggiore, des Kolosseums, des Vesuvs seine Liebe wieder.

Wieviel lebhafter würde die Flamme der Liebe auflodern, wenn dem einen oder dem andern der Gatten ein Glück begegnete, das den Glücklichen auch zugleich schön macht! Zum Beispiel eine heroische That, ein Triumph der Überzeugung oder dergleichen. Ich glaube, wer eine schöne, kühne That vollbringt, ein Leben mit Gefahr seines eignen rettet, altert nimmer in den Augen seiner Gattin. Die Liebe gewinnt aus solchen Verhältnissen ungeheure Kräfte, einen Strom poetischen Lebens, den man niemals erwartet hätte.

*

Note 2.

Ist der Autor zu entschuldigen, wenn er noch an die Liebe glaubt?

Ich sagte, daß der Gegenstand dieses Buches sich mir mehrmals aufgedrängt habe, 1836 durch die Geschichte, 1844 durch meine Sympathien für die Jugend, deren Leben ein Selbstmord ist, 1849 durch das soziale Unglück. Ich fühlte, daß hier des Übels Grund und auch sein Heilmittel lag. Mein entmutigter Geist hielt mir die öffentlichen Sitten entgegen, und ich sprach zu mir: »Was kann es nützen?«

Indessen schienen meinem Ohre die fürchterlichen, unwiderleglichen offiziellen Zahlen, von denen ich Kenntnis erhielt, wie eine Totenglocke zu schallen und zu verkündigen, daß das Geschlecht selbst, die physische Basis dieses Volkes angegriffen sei. – Um nur einiges anzuführen: In den Jahren 1831–37 belief sich die Zahl der jungen Leute, die zum Militärdienst untauglich befunden wurden, Zwerge, Bucklige, Hinkende u. s. w., nur auf 460,000, in den folgenden sieben Jahren vermehrte sie sich um 31,000 u. s. w. Die Heiraten haben abgenommen, und in manchen Jahren auf eine erschreckende Weise: 1851 neun Tausend weniger als im vorhergehenden Jahre, 1852 sieben Tausend weniger als 1851 (also 16,000 weniger als 1850) u. s. w. – Die offiziellen statistischen Tabellen von 1856 weisen aus, daß die Einwohnerzahl sich vermindert hat oder auf derselben Höhe bleibt. – Die Witwer verheiraten sich noch wieder, nicht so die Witwen. – Dazu rechnet die ungeheure Zahl der Frauen, die sich selbst das Leben nehmen, vor Elend sterben u. s. w.

Ist Europa weniger krank als Frankreich? Ich kann es nicht finden.

Das Leben Europas war bis jetzt das Leben der Welt. Stirbt Europa, so stirbt der Erdball. Das von Irland und tausend wüsten Elementen überflutete Amerika wird durch seine barbarischen Elemente zur Eroberung der katholischen und barbarischen Welt getrieben, und läuft Gefahr, einzubüßen, was es noch Jugendliches hat und zur Erfrischung des Menschengeschlechts beitragen könnte.

Ich weiß, daß Europa beim Verfall des Römischen Reiches eine Art Verfinsterung durchgemacht hat. Aber die Weltlage war damals anders und in einem Punkte der heutigen entgegengesetzt. Dem politischen Sturze ging ein tiefes Sinken, eine ungeheure Entkräftung des Geistes voraus. Heute umgekehrt entwickelt sich die Macht des erfinderischen Genius seit den drei letzten Jahrhunderten, die das Werk von zehntausend Jahren gethan haben, in gewaltiger Progression.

Woher diese Wunder der Thatkraft, des Fleißes und der Erfindsamkeit?

Es sind die Blitze von dem gewaltigen Turme, an welchem alle Wissenschaften bauen. – Der Blinde nennt ihn Babel, weil er, mit der Nase auf einem Stein, nicht den Nachbarstein sieht, geschweige denn den Turm.

Unberechenbare Macht! nicht der Intelligenz bloß, auch des Lebens, auch der Thatkraft! Jede intellektuelle Wahrheit äußert ihre Wirkung auf dem praktischen Gebiete.

Wie kann dies Geschlecht bei so vollständigem Bewußtsein der Welt und seiner selbst sterben? Als das Römische Reich zusammenbrach, geschah es in Finsternis. Vor der Nacht des Todes hatte es die Nacht des Geistes schon bedeckt.

Wenn der moralische Sinn schwächer geworden ist, so ist dies nicht eine Folge der Abnahme der geistigen Kräfte. Das Gehirn selbst ist nicht angegriffen, aber sympathisch und mit der Enervation der niederen Organe enerviert. Wir haben noch eine gewaltige Kraft, aber sie ist auf erstaunliche Weise zerstreut und zerfahren.

Dies Buch will darauf hinaus:

Konzentriert eure Kraft oder sterbt. Die Konzentration der Lebenskraft aber ist vor allem bedingt durch die Festigkeit des häuslichen Herdes.

Wenn ihr euch selbst verachten und die Hände in den Schoß legen wollt, so ist alles aus. Wir sind verderbt, ja. Aber das verdorbene Wasser kann wieder trinkbar gemacht werden. Unsere heroischen Väter waren auch keine Heilige. Die Idee der Revolution traf sie jämmerlich im Schlamme watend. Da richtet sich ihr Blick gen Himmel, und von der ewigen Schönheit ergriffen, erkennen sie sich selbst nicht mehr. Die Flügel waren ihnen über Nacht gekommen.

Ist dieses Volk im ganzen jetzt weniger wert, als zur Zeit Meiner Jugend? Ich finde das Gegenteil. Ich habe von jener Zeit nur noch den Eindruck einer entsetzlichen Nüchternheit. Wer hatte damals Sinn für Natur? Wo hörte man Vogelgesang? sah man Blumen blühen? Jetzt hat jede Hütte einen Rosenstrauch vor der Thüre, jedes Dachstübchen oben im siebenten Stock eine Blume vor dem Fenster. Der Bahnwärter, der seine Station nicht verlassen darf, benutzt die Zeit zwischen den Zügen, sich einen Garten anzulegen.

In meinem sechzigjährigen Leben habe ich eine der deutlichsten Manifestationen des höheren Seelenlebens, den Kultus der Toten, die Sorgfalt für die Gräber, entstehen und wachsen sehen. Im Jahre 1810 war ich zwölf Jahre alt und meine Erinnerungen aus jener Zeit sind vollkommen klar. Ich erinnere mich, daß ein Kirchhof zu jener Zeit eine arabische Wüste war, wohin äußerst selten ein Besucher sich verirrte. Heute sind die Kirchhöfe Gärten voll von Blumen und Monumenten. Ohne Zweifel trägt das Wachsen des Reichtums viel dazu bei, aber auch das reicher gewordene Herz.

Der Tod ist der Bruder der Liebe. Diese beiden Religionen sind verwandt, unzerstörbar, ewig. Und wenn der Tod noch lebt, weshalb sollte dann die Liebe gestorben sein?

Ich glaubte im Winter 1856 nicht, daß das erkaltete Publikum auf Vogelgesang hören würde, auf ein ungeduldiges Rotkehlchen, das sich herausmachte, bevor noch der Schnee geschmolzen war. Aber es hörte doch darauf. Noch mehr zweifelte ich, ob sich das leise Summen eines Ameisenhaufens werde Gehör verschaffen können. Aber man vernahm es wohl, und mancher, sagen sie, fühlte sich gerührt. Wie konnte diese dunkle Welt unscheinbarer Insekten solchen Eindruck machen? Man erkannte, daß die allgegenwärtige Liebe auch diese dunkle Welt erhellt.

So ließ ich denn die Hoffnung nicht sinken, trotz alledem. Und das Übermaß selbst des Übels hat mir Mut gemacht. Müssen soviel Thorheiten, soviel tolle Ausgaben nicht aufhören, und wäre es auch nur aus Erschöpfung? Auch die Langeweile macht sich bemerkbar. Gewinnen die beiden Gatten durch die Scheidung? Madame erprobt nur zu sehr die durch George Sand konstatierte Wahrheit: »daß der Liebhaber gerade so langweilig ist, wie der Ehemann«. Auf der anderen Seite amüsiert sich der Gatte auch nicht besonders. Freudenmädchen giebt es nicht mehr, nur noch Töchter des Jammers.

Und dann, wenn die vornehme Welt sich nicht bessern sollte, so giebt es dreißig Millionen Franzosen, hundert oder zweihundert Millionen Europäer, die durchaus nicht zu dieser Welt gehören, nichts von der Börse wissen, nichts von gewissen Bällen, nichts von der Maitressenwirtschaft. Wenn noch zweihundert Millionen Menschen für die Liebe bleiben, so ist das ein hinreichend großes Publikum.

Die Liebe kann nicht sterben. Sie will alles reformieren; unter anderen auch dich, junger Mann. Du möchtest dich gern herausreißen: aber du wagst es nicht bei dem schwindelköpfigen Laufe des heutigen Lebens. Welches auch seine Form sei, du wirst darin einige unumstößliche Thatsachen finden. Du bedarfst in diesem sturmbewegten Meere eines treuen Genossen. Du wirst ihn nicht finden, wie du ihn brauchst; aber dies Buch soll dir eine Anweisung sein, wie du ihn dir schaffen kannst. Die Mutter kann nicht zum voraus wissen, welches die Rolle ihrer verheirateten Tochter im Leben sein wird, und kann sie demzufolge nicht darauf vorbereiten. Heutzutage ist alles persönlich. Die Ehe variiert ins Unendliche nach dem Charakter u. s. w. des Gatten. In einzelnen Ständen ist die Frau Mitarbeiterin. In anderen, wie in den Künsten assistiert und inspiriert sie, assoziiert sie sich dem Gedanken. Bei den dornenvollsten endlich, in den Klassen der Männer der That, der Geschäftsmänner, ist sie die natürliche und einzig mögliche Vertraute, die moralische Stütze, der Trost. Wenn du sie nicht vernachlässigst, wenn du sie auf der Höhe der Situation erhältst, wenn du eine vollständige Vereinigung ermöglichst, wirst du mit Bewunderung sehen, wieviel Kraft ein Wesen entwickeln kann, das man in gewissen Ständen für vollkommen unnütz ansieht. In einer Welt, in welcher alles schwankt, bedarf man eines festen Punktes, auf den man sich stützen kann. Dieser Punkt aber ist der häusliche Herd. Der Herd ist kein Stein, wie die Leute sagen, sondern ein Herz, und zwar das Herz einer Frau.

Ende.


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