Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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III. Sie verfeinert den Geist und giebt uns die Begeisterung wieder.

Die Wilden fürchten die Liebe: »Sie macht unsere Sehnen schlaff«, sagen sie. Freilich, wenn man nüchtern auf eine Jagd von hundert Meilen über Schneegefilde aufbrechen muß, wie es ihnen manchmal begegnet, oder selber von einem feindlichen Stamme wie ein Wild gehetzt wird, so thut man sehr wohl, seine Kraft zusammen zu halten.

Anders in unseren civilisierten Zuständen. Wenn die Liebe die brutale Kraft und die sinnliche Phantasie, welche unter dem Einflusse des Blutes das Gehirn mit ihren wüsten Bildern füllt, schwächt, so begünstigt sie dafür die höheren Fähigkeiten. Der Umgang mit einer reinen, geliebten Frau, deren Herz dem Herzen begegnet, verleiht uns etwas von ihrem keuschen Geiste, von ihrer sanften Heiterkeit, begünstigt die harmonische Stimmung der Seele. Der Aufruhr des Blutes und seine Begleiterin, jene sinnliche, barbarische Einbildungskraft, werden gebändigt, und die phantastischen Wolken, mit denen sie den Geist verdüstern, zerstreut, so daß wir die Wahrheit in ihrem klaren Lichte erkennen. Beobachtung, Analyse, Logik, diese Dreiheit der schaffenden Geisteskräfte, haben ihre vollständige Freiheit und Wirksamkeit.

Alles, was eine Folge hat, alles, wozu man nur durch lange Gedankenreihen, durch Auflösung vieler zusammenhängender Probleme, durch stetiges Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten gelangt, will einen vollständig harmonischen Seelenzustand, und der ist unmöglich, wenn der Sturm des Blutes uns aus der genau vorgezeichneten Bahn schleudert. Die fieberhaften Spiegelungen, die er vor unsern getrübten Blicken erstehen läßt, erzeugen eine hirnverbrannte Poesie oder eine traurige Subtilität, bringen uns rechts und links vom Wege ab und verrücken uns in jedem Augenblick das sichere Ziel der Wahrheit. Nichts ist trübseliger, als der ungesunde, rein negative Zustand vollständiger Enthaltsamkeit, ein Zustand wahrhafter Ohnmacht, denn die Kraft annulliert und verzehrt sich selbst.

Ohne Zweifel ist die Begier und die männliche Kraft der große Hebel, die Wucht des Stoffes zu bewältigen. Aber damit diese Kraft fruchtbar sei, muß ihre Rauheit, ihre Herbheit sich mit der Zartheit und Milde der weiblichen Fähigkeiten paaren. Reizendes Wunder der Natur! Der erfinderische Kopf, welcher heute auf seinem Wege zum Resultat aufgehalten wurde, an eines jener Probleme kam, die sich durchaus nicht lösen lassen wollen, der alles versucht, die Sache von allen Seiten betrachtet, und sie zuletzt voller Verzweiflung hat fallen lassen, setzt sich traurig des Abends an das flackernde Feuer zu seiner Gattin. Sie sieht wohl, wie verstimmt er ist: »Aber was hast du? Ich will, ich kann dich nicht so sehen. Laß die Sache einmal ruhen! vergiß, was dich quält, sei glücklich!« Und grade dieser Augenblick glücklicher Vergessenheit verändert alles. Sein Blick wird wieder klar, seine Kraft neu; frischer Mut zur Ausführung belebt ihn. Er ist ein anderer Mann geworden. Wodurch? Durch den magnetischen Einfluß der Frau, ihre natürliche Grazie, ihre liebenswürdige Leichtigkeit, die sie allein mitteilt, was in ihre Nähe kommt. Jetzt lächelt er über das Hindernis, das so leicht zu beseitigen ist, und das ihm gestern unüberwindlich schien.

*

Während eines Aufenthalts in Montpellier sah ich mit Rührung ein unscheinbares, bekleckstes Blatt, auf dem, unter manchen wirren Strichen und Linien, oben am Rande folgende Verse des alten Dichters von Pugets Hand standen:

Casta placent superis. Casta cum mente venito,
Et manibus puris sumito fontis aquam.

Es überkam mich ein Gefühl, als ob ich in eine große Kirche, in ein römisches Grab, in das Amphitheater von Arles träte. Augenscheinlich weiht hier dieser Mann, der die schwere Mission hatte, der kranken Seele seines Jahrhunderts einen Ausdruck zu geben, bevor er an sein Tagewerk geht, seinem Gotte, seiner Kunst das Opfer seiner freiwilligen Enthaltsamkeit. Er fühlt, daß er verantwortlich ist, und er will stark und würdig sein.

Jedes seiner Werke ist ein Seufzer. Brütet er über seinem gefangenen Milon? über seinen zerschmetterten, schmerzensreichen Giganten von Toulon? träumte er seine kleine Andromeda, die der Schmerz noch im Augenblicke der Befreiung ohnmächtig macht? Ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, daß er in jenem Momente sich sammelte und konzentrierte und von der reinen Liebe Kraft erflehte für die Ausführung seiner unsterblichen Werke, die stets die Herzen mit Liebe und Mitleid erfüllen werden.

Die menschliche Kunst hat keinen Fortgang und keine Macht, als dadurch, daß sie der göttlichen nachahmt. Was that diese und thut sie noch jeden Augenblick? Aus dem großen Strome des Lebens schafft die Liebe die Generationen, den ganzen aufsteigenden Fortschritt der Gattungen. Und aus einem Tropfen dieses Stromes schuf sie und schafft sie die Welt der Poesie, den Fortschritt der Idee.

Um welchen Preis ist diese Konzentration der Lebenskräfte durch die Enthaltsamkeit fruchtbar für die Werke des Gedankens? Einzig dann, wenn sie frei ist. Dann und nur dann ist ein Opfer wirklich ein Opfer. Die Freiheit allein ist verdienstvoll, die Freiheit allein fruchtbar.

Die von Mauern bewachte, die gezwungen keusche Liebe ist tot. Sie wendet sich gegen sich selbst. Ihre Flamme gereicht ihr nur zur Qual und kann nimmer mächtig auflodern. Das Mittelalter, die goldene Zeit des Cölibats, hat Großes nur durch verheiratete Männer geschaffen. Dante war verheiratet und Abälard. Die Maurer, welche die dieser Gesellschaft entsprechende Kunstform fanden und ausführten, lebten in Familien um ihre Kirchen, und die Geheimnisse der Arbeit, mit der sie im Laufe von Jahrhunderten diese großartigen Werke schufen, vererbten sich von Vater auf Sohn.

Die Ehe allein verschafft uns durch die reine Liebe die Harmonie der Seele und durch die freiwillige Enthaltsamkeit die Begeisterung, und nur durch beständige Harmonie und momentane Begeisterung können Werke des Genies geschaffen werden.

Aber die Schönheit und Wirksamkeit dieses Opfers besteht in seiner Freiheit; es muß hervorgegangen sein aus der Verständigung, der vollständigen Einigkeit der Liebenden.

In diesem Falle ist die Frau sehr uneigennützig. Sie will, daß der Mann stark und produktiv sei. Die individuelle Liebe opfert sich der großen Liebe und nimmt so teil an ihrer Größe.

Die beiden Seelen sind hier eins, die dankbare Nachkommenschaft darf sie nicht trennen. Puget war verheiratet, und man fühlt es seinen lebensvollen Werken an, was sie ihm kosteten; man ahnt darin das reine, liebevolle Herz einer Frau, welche wollte, daß seine Kunst seine Liebe sei, daß er in den Marmor jene Liebe, jene Überfülle des Lebensgeistes hauchte, den er sonst ihr gegeben hätte. Sie war nicht neidisch auf die kleine Andromeda, sie opferte sich ihrer Rivalin. Als der große Künstler, heiliger Begeisterung voll, sich erhob und jene Zeilen schrieb, die man oben gelesen hat, glaubte ich die Stimme seiner reinen Gattin zu hören: Bester, denke an die Kleine; liebe sie, denn sie ist mein Kind.

*

Wohl hatte er recht, zu schreiben: »Die Keuschheit ist den Göttern wohlgefällig«. Sie hilft uns, Gott ähnlich werden und schaffen, wie er.

Aber die Keuschheit ist nicht die Vereinsamung des Troglodyten. Sie wird durch den Kontakt mit einer keuschen Frau vermehrt. Ihr Lächeln verscheucht die trüben, wüsten Träume, die unsre Seele während der Nacht geängstigt und beschämt hatten. Wir flüchten an ihren Busen, wie ein geängstigtes Kind in die Arme der Mutter, und erheben uns mit neuem Mut zu neuem Leben.

Die keusche Frau, in welcher der Mann sein eigentliches Heiligtum findet, die ihm im Herzen verbunden ist, die denkt und will, wie er, birgt in sich ein wunderbares Geheimnis geistiger Befruchtung, das man bisher noch nicht recht gewürdigt hat. Was man von jenem Sohne der Erde erzählt, der, um neue Kraft zu gewinnen, nur die Mutter Erde zu berühren brauchte, verwirklicht sie buchstäblich. Sie ist wahrhaft die zärtliche, gute, heilige Natur, die durch die bloße Berührung, durch die Kraft der Liebe die Flut geistigen Lebens erweckt. Beschäftigt dich ein großer Gedanke – teile ihr denselben mit am Abend oder in der Nacht. Glücklich über dein Vertrauen, glücklich über ihre Hoffnung, dich noch größer zu sehen, zittert ihr Herz vor Freude, umarmt sie dich innig ... Habe Ehrfurcht vor dem heiligen Augenblick. Dein Herz ist reich und voll; bewahre es so. Erhebe dich in all der königlichen Würde, die der in sich fühlt, der sich geliebt weiß; in dem stolzen, herrlichen Bewußtsein, deine Liebe ganz mit dir fortzutragen. Wer seinen Gott berührt hat, ist glücklich und stark für den ganzen Tag.

Opferfreudigkeit, Paradieseslust! zwei Gewalten, und beide in dir ... Das sind Augenblicke, wo der Mann spricht: »Heute bin ich mächtig, und kann ich, was ich will«.

So lassen sich die Reuß und die Rhone, jene pfeilschnellen Ströme, nicht aufhalten in ihrem Lauf von den schönen Seen, die sie durchfließen. Sie vergrößern so nur ihre Kraft. Beim Austritt ist ihnen alles möglich. In ihrem köstlichen Blau tragen sie den Widerschein dieser erhabenen Landschaften und des hohen Himmels, der sich in ihren Wassern spiegelte.

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