Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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V. Die Fliege und die Spinne.

Wenn ich den sonderbaren Eifer der Frauen sehe, mit dem sie gegen andere Frauen Krieg führen, die äußerste Befriedigung, welche intime Freundinnen darin finden, eine Freundin ins Verderben zu stürzen, so möchte ich leicht für die Ehe, die dieses Buch schildert, besorgt sein. Aber eines beruhigt mich. Ungeachtet der veränderten Lage, welche das Band hätte lockern können, teilen sie sich alles mit, vertrauen sie einander alles an, ihre Thaten und ihre Gedanken. Das gemeinschaftliche Mahl und Bett geben selbst dem Beschäftigtsten schickliche Gelegenheiten und Stunden. Geschäfte und Ideen, er teilt ihr alles mit, und sie ist ihm dankbar für seine Bemühung, ihr selbst solche Dinge begreiflich zu machen, die eigentlich außer ihrer Sphäre liegen. Sie rechnet ihm diese Anstrengung, sein Leben mit ihr vollkommen zu teilen, sehr hoch an. Sie sieht darin seine ausdauernde Liebe, die so viele Hindernisse überwindet; sie sieht darin seine zärtliche Rücksicht für die Gattin, die Mutter. Dadurch fühlt sie sich in ihren eigenen Augen erhoben und geehrt. Eine so starke und so ernste Liebe macht die ihrige nicht minder tief und unabhängig von den ganz äußerlichen Einflüssen der Laune und Stimmung, erinnert sie daran, ebenfalls gewissenhaft alles zu sagen. Sie nimmt es ernst mit dem Versprechen, das sie (Ende des dritten Buches) ablegte, ihm alle Gefühle und Bewegungen ihres Herzens anzuvertrauen. Manchmal wird es ihr nicht leicht, ihr Wort zu halten. Jung und innerlich noch immer Jungfrau, kostet es ein wenig Mühe, diese oder jene flüchtige Idee, diesen Traum, diese Illusion der Natur, von der auch die Verständigste heimgesucht wird, zu gestehen. Aber sie hat es einmal versprochen. Ein richtiger Instinkt sagt ihr, daß im vollen Lichte unter den Augen ihres Gatten zu leben ihr bester Schutz ist. Sie hat eine geheime Ahnung von den Schlingen, die sie umgeben. Sie maßt sich nicht an, alles zu wissen. Bis jetzt durch ihr Kind von der Welt getrennt, ist es das Sicherste für sie, keinen Schritt in diese Welt zu thun, ohne sich dabei auf die Erfahrung dessen zu stützen, der dieselbe nie verlassen hat, stets auf dem Kampfplatze der Geschäfte und Interessen geblieben ist. Fast alle Frauen fallen durch ihren Stolz. Sie scheuen sich, anzuerkennen, daß der Mann, welcher gezwungen ist, so viele komplizierte Angelegenheiten zu entwickeln, der stets im vollen Kampfe lebt, unendlich viel positiver ist als sie. Man muß es wohl in den Geschäften sein, wenn man sich jeden Tag ins Verderben und seine Familie ins Elend stürzen kann, täuscht man sich nur um eine Linie oder um eines Haares Breite.

Die Frauen sind sehr fein, sagt man. Aber mit Ausnahme derer, welche viel unter die Leute gekommen sind, haben sie diese Feinheit nur in Sachen des Gefühls, durchaus nicht in den Angelegenheiten des Lebens. Sie leben in der That auf das Geratewohl. In den gefährlichsten Augenblicken überlassen sie dem Zufalle sehr viel. Und wenn sie jemand um Rat fragen, so sind es meistens solche Personen, vor denen sie sich hüten sollten.

Die Besseren fängt man gerade durch ihren Gatten am häufigsten. Sie sind eitel für ihn, ehrgeizig für ihn, und gerade von der Seite weiß man ihnen beizukommen. Ist er mächtig, einflußreich, so sieht sich die Frau, sie mag wollen oder nicht, von einem Hofe umgeben. Sie findet an diesem Glänze, der ein Widerschein ihres Gatten ist, Gefallen. Sie sieht (nicht einmal, sondern zehnmal) angesehene, geachtete, oft fromme Damen, die sie in Wohlthätigkeitsvereinen u. s. w. oft getroffen hat, bei sich erscheinen, um ihnen ihren Sohn zuzuführen, einen jungen interessanten Mann, der schon imstande ist, ihrem Gatten zu dienen, seinen Ansichten huldigt, ganz in seine Fußstapfen tritt. Er hat bis jetzt in der Einsamkeit seinen Studien obgelegen. Es fehlt ihm noch der rechte Schliff. Aber er ist so sanft, so lenkbar! Er brauchte nur in die Gesellschaft eingeführt, ein wenig angeleitet, belehrt zu werden, und seine Bildung wäre vollendet.

Ist die Sache einmal glücklich soweit gelangt, so spielt das Stück vortrefflich weiter. Man spricht nur von dem jungen Manne. Es scheint, als ob die Rollen verteilt wären. Eine Verwandte, die sich am Vormittage melden ließ, bringt zufällig die Rede auf ihn. Sie hat ihn gesehen, sie findet ihn allerliebst. Und am Abend sagt eine Freundin so leichthin: »Ich bin ganz verliebt in den Menschen«. Die Kammerfrau, die noch kühner ist, wird bald das Eis brechen und, während sie ihrer Gebieterin das Haar macht, ihr zu sagen wagen, daß der junge Herr vor Liebe stirbt. Vormals bestach man Lisetten und bezahlte ihre Worte; heute hat man das nicht mehr nötig. Sie weiß sehr gut, daß, wenn die Dame einmal in die Intrigue verwickelt ist, sich einmal bloßgegeben, ein Geheimnis sich hat entlocken lassen, sie die Herrin ihrer Herrin sein wird, das Haus in Kontribution setzen und nach Belieben schalten und plündern kann.

Und wie viel schneller geht man noch, wenn der Mann, anstatt beschützen zu können, selber eines Beschützers bedarf! wenn er ein Unterbeamter ist, der Beförderung wünscht, ein Industrieller von geringen Mitteln, der nicht vorwärts kann, wenn ihm nicht ein Kapitalist unter die Arme greift. In diesem Falle ist die Verführung kühn, unverschämt. Sie scheut vor nichts zurück, geht mutig darauf los, auf die Gefahr hin, die junge Frau zu beleidigen. Die gute Freundin, die Vertraute, eine Frau, die schon Erfahrung hat, und der sie in aller Unschuld diesen oder jenen kleinen Herzenskummer beichtete, wird ihr sagen, daß sie sich allerdings nicht wundere, wenn sie, die so schlecht verheiratet sei, sich langweile, daß der Mann wirklich traurig beschränkt, in der That sehr beschränkt sei, daß er sie für immer in der Dunkelheit lassen werde. Sie spricht soviel davon, daß die kleine Frau mit ihrem guten Herzen, mit der Anhänglichkeit, die sie doch im Grunde für ihren Mann bewahrte, auf das Empfindlichste verletzt ist. Sie widerspricht, sie gerät in Hitze, und die Ungeschickte muß andere Segel aufziehen. Man muß dem armen Manne, der, wie jeder anerkennen wird, sehr fleißig ist, zu Hilfe kommen. Es müßte sich jemand seiner annehmen, der Energie, Kraft und Kredit hätte, der ihn nur erst von der Erde aufhöbe; hernach würde er schon von selber stiegen können. Eine erste Hilfe thue ja so viel!

Die Methode, zwei Leute ineinander verliebt zu machen, die im Leben nicht daran gedacht hätten, ist uralt und deshalb nicht weniger sicher. Es genügt, jedem der Beteiligten zu sagen, daß der andere in ihn verliebt sei. Wenn nun der Beschützer und die Dame durch einen glücklichen Zufall, an dem es niemals fehlt, in Berührung gebracht sind, so handeln beide, wie man es wollte; die junge Frau verfehlt selten, durch eine unbedeutende Koquetterie, die sie für unschuldig hält und im Interesse ihres Gatten sich erlauben zu können glaubt, das über sie Gesagte zu rechtfertigen.

Aber man weiß, daß sie liebt, weiß, daß sie nicht weiter gehen würde, daß man ihr nicht einmal mit Sicherheit ein Geständnis machen dürfte. Man würde Gefahr laufen, alles zu verderben und sie entschlüpfen zu sehen. Handeln ist sicherer, als sprechen. Frechheit, ein halber Gewaltstreich bringen oft die Sache zum Austrag.

*

Man wird sagen, das ist nicht möglich. Man glaubt, daß dergleichen Schändlichkeiten nur in den niedrigsten Klassen begangen werden, und täuscht sich darin sehr. Die Sache kommt nur zu häufig vor. Aber die Damen von gutem Tone sind in solchen Fällen bedeutend diskreter. Sie behalten die traurige Geschichte für sich und verbeißen ihren Schmerz und ihre Thränen.

Manchmal, lange nachher, kommt die Sache, so oder so, an den Tag. Viele Fälle der Art sind auf sehr glaubwürdigen Wegen zu meiner Kenntnis gelangt. Ich trage kein Verlangen, die schmählichen Einzelheiten vor das Publikum zu bringen. Jedesmal ist es die Geschichte von der Spinne, welche die Fliege in ihr Netz zieht und umgarnt.

Ein wesentlicher Punkt in diesen Fällen ist der, daß das arme Geschöpf keineswegs den Verrat beabsichtigte, daß von eigentlichem Willen wenig oder gar keine Rede war, daß man im Gegenteil durch die That (die gezwungene, halb gezwungene That) den Willen korrumpierte.

Ein anderer Punkt, der bemerkt zu werden verdient, ist, daß die Freundin, welche ihre Freundin verriet, die Umstände ihres Lebens in Beziehung auf Gesundheit, Temperament u.s.w. kannte, und daß diese Kenntnis es ihr leicht machte, zu ermessen, was man wagen durfte, sie die Situationen, die Augenblicke finden ließ, wo die Frau stets schwächer, stets für irgend welche Erregungen, für Überraschung, zum mindesten für Schrecken, empfänglicher ist als sonst.

Und der dritte Punkt, daß die Sache desto leichter ist, je unwahrscheinlicher, unvorhergesehener, je traurig absurder sie ist. Man wird sagen: der Unwille wird dann um so größer sein. Allerdings, aber die Überraschung ist stärker, zerschmetternder, entnervender. Der Wille, der gar nicht vorbereitet ist, kommt auch nicht in Frage.

*

Sie weint, will alles sagen, und thut nichts. Die Freundin zeigt ihr die Gefahr einer so fürchterlichen Entdeckung, und das bei einer Sache, die doch nun einmal nicht rückgängig gemacht werden kann. Wie groß wird die Wut, der Zorn des Gatten sein! Wird er sie für gezwungen, wird er sie für treulos halten? Er wird von jenem Manne Genugthuung fordern, der viel gewandter, viel geübter in den Waffen ist, und der ihn, um die Sache wieder gut zu machen, totschießen wird. »Meine Liebe, um deines Mannes willen, bitte ich dich, sage nichts. Wer weiß? Es kann sein Tod sein, und stürbe er auch nur vor Gram. Deine Kinder sind ruiniert, eure Existenz ist in Gefahr ... Dieser Mann hat soviel Macht, zu schaden! Er ist sehr böswillig, wenn er haßt und man ihn zum äußersten treibt. Aber es läßt sich nicht leugnen, für die, welche er liebt, ist er sehr eifrig. Er wird wieder gut machen wollen, dich beschwichtigen wollen ... Er wird alles für deine Familie, für die Zukunft deiner Kinder thun.«

Und wahrhaftig, am nächsten Tage kommt man, der jungen Dame zu verkünden, daß der Glückliche über sein Glück in Verzweiflung ist, daß er sich töten wird, falls man ihm nicht vergiebt. Denn nur ihr Herz wollte er erobern. Schon hat er für den Gatten gewirkt. Er brennt vor Begierde, ihm zu dienen. Niemals sah man soviel guten Willen. »Liebes Kind, was geschehen ist, ist geschehen. Ach, wir Frauen, wir müssen ja so vieles dulden und verschweigen! Ich weiß auch davon zu reden ... Aber was hilft's, in diesem irdischen Jammerthale muß man Duldung, Demut und – Vergebung lernen, liebes Kind. Man darf sich so gehässigen Gefühlen nicht hingeben, gegen seinen Feind nicht unversöhnlich sein. Und wahrhaftig, der arme Mann ist in einem entsetzlichen Zustande. Er ist wie wahnsinnig – du würdest Mitleid mit ihm haben.«

Solche Beredsamkeit führt ein Rendezvous herbei, das diesmal freiwillig ist. Mit dem Interesse für die Familie hat die Verführung angefangen. Es folgt jetzt eine leidenschaftliche Scene, eine gut gespielte Komödie von Schmerz und Verzweiflung. Große Versprechungen, ewige Ergebenheit für den Gatten. Das Ganze so pathetisch, daß selbst die Freundin Thränen der Rührung vergießt. Die Rührung steckt an. Die junge Frau ist nicht unerbittlich ... Wie weit geht die Verzeihung?

Indessen zieht sich die Angelegenheit in die Länge; von den großen Versprechungen ist noch keine erfüllt. Sie stirbt vor Kummer und Reue. Man speist sie mit irgend welcher Entschuldigung ab. Endlich, da es mit den Entschuldigungen nicht mehr geht, benutzt die Freundin ihre Ungeduld. »Aber, Liebe, ich würde schreiben ... Ja, wahrhaftig, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich würde ihn an sein Wort erinnern, ich würde ihn erröten machen, ich würde ihm sagen, daß nach dem, was er gethan hat, nach allem, was Sie ihm vergeben haben, nach soviel neuen Beweisen Ihrer Güte, sein Vergessen schändlich ist.« Dies oder etwas der Art, schwarz auf weiß von der Unvorsichtigen nach dem Diktat der Freundin niedergeschrieben, liefert sie für immer. Der gute Freund und die vortreffliche Freundin halten sie jetzt sicher. Sie hat einen Herrn. An dem und dem Tage, zu der und der Stunde, an dem und dem Orte wünscht man sie zu sprechen, und sie kommt. Die Furcht, die sie vor dem Skandal hat, und eine gewisse magnetische Gewalt, wie die, welche den Vogel zur Schlange zieht, lassen sie erscheinen – wenn auch in Thränen. So findet man sie noch viel schöner. Man lacht. Was die Versprechungen betrifft, so denkt man eben nicht sehr daran.

Und wenn er genug von der Sache hat, ist sie dann wenigstens frei? Durchaus nicht. Die Freundin hat den Brief; sie lockt mit neuen unwahrscheinlichen, albernen Versprechungen. Gleichviel. Verkauft und wieder verkauft, muß sie weiter und weiter, am Ende sich auch gar einen andern Beschützer gefallen lassen, der, behauptet man, mehr für sie thun wird und oft auch nichts thut.

Eine entsetzliche Sklaverei, die so lange dauert, als sie jung und schön ist, die sie tiefer und tiefer verstrickt, sie erniedrigt und verderbt. Ach, warum hat sie nicht den Mut, lieber alles zu wagen, sich ihrem Gatten in die Arme zu werfen, ihm alles zu sagen! Wie heftig auch der erste Zornesausbruch wäre, sie würde sicherlich bei ihm mehr Mitleid finden.

Aber dieses Leben voller Schande hat das Wenige von Kraft und Entschiedenheit, das sie ursprünglich besaß, gebrochen. Sie beugt sich unter das Joch und kann es von Tag zu Tag weniger abschütteln. Wenn einmal ihre Tyrannin, die so schon nicht eben allzu zart ist, sie durch ein bitteres, ironisches Wort noch tiefer verletzt und aufstachelt, wenn sie sich für einen Moment emporrafft und sagt: »Ich will alles gestehen«, – so antwortet jene: »Aber, meine Liebe, man wird lachen. Man wird dir nicht glauben, und wenn man dir glaubt, wird man erst recht lachen«. – »Es giebt eine Gerechtigkeit, Madame.« – »Irrtum, liebes Kind! Die Geschworenen wollen in solchen Dingen Beweise, klarer als die Sonne. Mehr als einer wird den Schuldigen beneiden. So denkt man nun einmal in Frankreich. Man geht stets von der Ansicht aus, daß die, welche am meisten widersteht, doch, und wäre es auch nur für einen Augenblick, ihre Zustimmung gab. Was willst du? So hat man stets gedacht und darum hat man auch stets gelacht.«

Leider ist das nur zu wahr. Die, welche dies lesen, welche die heutigen Sitten beobachten und den Eifer sehen, mit dem so viele Frauen die Schande suchen, werden, glaube ich, sagen: »Es bedarf so vieler Umstände gar nicht«. Sie wissen nicht oder wollen nicht wissen, was dennoch wahr ist, aber nicht so auf der Oberfläche liegt; wollen nicht wissen, daß sehr viele Frauen den ersten Schritt aus ihrer Pflicht nur gegen ihren Willen thun; daß sie, ohne ihr Wissen, geschickt in die unbekannte Gefahr verlockt und getrieben wurden; daß man sie mit einem Worte überraschte, ihnen Gewalt anthat. Ich verstehe darunter so eine halbe Gewalt, die eben hinreicht, die Schwache, die zu weit gegangen ist, die sich gefangen sieht, und nun den Kopf verliert, zu beherrschen. Von dem Momente an glaubt sie, daß alles unwiederbringlich verloren ist, und sie wird fallen und wieder fallen.

»Sie hat eingewilligt,« wird man sagen. »Man kann beweisen, daß sie ihm durch diese oder jene Leichtfertigkeit, Koquetterie, durch ein unvorsichtiges Augenspiel entgegengekommen ist.« – Es wäre sehr hart, darauf hin zu richten. War das eine ernstgemeinte Aufmunterung, eine Verpflichtung zur Schande? Gefallen wollen sie immer, das weiß man. Sie begehen den Fehler, zu glauben, daß die Männer großmütig sind, daß der, von dem sie etwas nicht Unbilliges, und noch dazu für ihre Familie, erbitten, sich durch einen Blick belohnt glauben wird. Ist es denn in der That so gar nichts, eine Frau zu verpflichten, ihr jene zärtliche Empfindung abzunötigen, welche die Unschuldigste gern der Dankbarkeit zugesteht? Wenn das Unglück will, daß ihr Fehltritt Folgen hat, so urteilt man nur um so härter: es ist doch klar, daß sie eingewilligt hat. Altes Vorurteil, dessen Falschheit jetzt bewiesen ist. Die Natur hat gar nichts mit der Einwilligung zu thun. Die Epoche entscheidet darüber. In vierzehn Tagen auf achtundzwanzig sind die Folgen beinahe gewiß; der vollständigste Widerspruch des Willens, der Schmerz, die Verzweiflung sind wirkungslos.

*

Es thut nur leid, daß ich den Cervantes, dessen gesunden Sinn ich sonst überall so bewundernswert finde, um eines tadeln muß. Er hat in der Probe, welche sein König Sancho der Dirne, als Klägerin, abverlangt, dem gemeinen Vorurteil geschmeichelt und das Lachen der Thoren zu erregen gesucht. Die Kraft, welche sie vor dem Tribunal bei der Verteidigung einer Börse mit Geld am hellen Tage und in einer Umgebung, wo sie nichts zu fürchten brauchte, entwickelt, beweist durchaus nicht, daß sie in der Nacht, überrascht und erschreckt, ihre Ehre ebensogut hätte verteidigen können.

Ein altes schwäbisches Gesetz, das nach der anderen Seite freilich zu weit geht, hat sehr gut begriffen, daß die Überraschung in einem solchen Falle alles ist und das Verbrechen schon ganz und gar in der Kühnheit des Angriffs, darin liegt, daß man Hand an ein furchtsames Wesen legte, welches schon zum voraus durch das Übermaß der Aufregung besiegt war. Es verdammt den zum Tode, der Hand an eine Jungfrau gelegt und sie zerzaust hat ( discapilata).

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Diejenigen, welche im materialistischen Sinne zu beweisen glauben, daß die Frau sich verteidigen könne, sprechen von ihr wie von einer kalten, trägen, unerregbaren Sache, wie von einem Stein, einem Stücke Holz. Aber jeder Physiolog, jeder Arzt und wer immer dieses arme, nervöse Wesen, das ein Hauch schaudern macht, das die Natur schwach wollte und jeden Monat durch den Schmerz entwaffnet, kennt, wird sagen: die Natur will auch, daß sie stets beschützt werde, daß sie einhergehe als eine Heilige, Unverletzliche, daß alle ihre Partei ergreifen und ihre Klagen mit Ernst anhören. Uns kommt es zu, sie zu verteidigen, denn sie selbst vermag es nicht.

Lassen wir den Scholastikern die alberne Ansicht, welche eine genaue Linie, einen vollkommenen Gegensatz, einen Abgrund zwischen Einwilligen und Nichteinwilligen aufsteckt. In einer so aus dem Einstufst des Körpers und der Seele gemischten, aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzten Angelegenheit giebt es unzählige Nuancen und wer weiß wie viele Zwischenzustände, wo man, ohne einzuwilligen, nachgiebt.

Ich habe mein Leben lang die Rechte des Geistes gegen den widerlichen Materialismus unserer Zeit verteidigt. Hier indessen gilt es, Worte der Gerechtigkeit und des gefunden Menschenverstandes (nicht des Materialismus) zu sprechen und zu behaupten, daß der Körper allerdings mitwirkt, daß in unseren: Falle zwei Handlungen sich kreuzen, wechselweise in den Vordergrund treten, in einer außerordentlichen, unberechenbaren Schnelligkeit durcheinander schwirren.

Man kann nicht von unserer Willenskraft wie von einem eisernen Riegel sprechen, der sich einfach vorschieben oder wegziehen ließe. So liegt die Sache nicht. Sie ist ein gut Teil komplicierter. Viel gerechter wäre es, diese Kraft mit einem Dinge zu vergleichen, das eines mehr und weniger fähig ist, etwa mit einem in wer weiß wie viele Grade teilbaren Thermometer. Um die wahre Moralität einer Handlung und den Grad der Schuld bemessen zu können, muß man untersuchen, welches der Grad des Willens und welches der Grad der Notwendigkeit, die sich fast immer hineindrängt, dabei war. Ohne diese aufmerksame Schätzung kann der beste Richter irren, zu schwach oder zu streng sein. Eine, die er freispricht, hat gewollt und provociert, eine andere, die er verurteilt, hat Gewalt erlitten, hat nicht zugestimmt, nicht einmal mit dem dreißigsten Teile des Willens.

»Und die übrigen neunundzwanzig Teile, welche die Handlung entschieden haben, wie rechnest du die?« – Rechnet zwanzig davon auf die Überraschung, auf die Furcht, sich in einer starken und zur Not grausamen Hand zu wissen (denn wovor scheut diese Wut zurück?). Dann, wenn der Widerstand dauert, rechnet acht oder neun Grade auf eine Brutalität, mit der es die wilde Ungeduld nicht eben genau nimmt, auf irgend einen heftigen Schmerz, der paralisiert. Dazu kommt die Aufregung, denn die Ärmste ist nicht von Stein. Wenn nun auf diesen Schmerz plötzlich eine nicht schmerzliche Empfindung folgt, so ist das für sie, was für den Verurteilen die Gnade auf dem Schaffott ist. Und darauf beschränkt sich nun dieses unglückliche dreißigstel unfreiwilliger Willigkeit, diese behauptete Zustimmung. Ist der Schuldige darum weniger schuldig? Er ist es nur um so mehr; gerade dies, weit entfernt, sein Verbrechen zu mildern, macht es entsetzlich. Es hat die Seele geschändet.

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Ein weiser Beamter sagte, daß die Gerichtshöfe in allen Frauensachen und in noch manchen anderen, zur genauen Bestimmung, wie weit der Wille und wie weit die Notwendigkeit gehe, des permanenten Beistandes einer ärztlichen Jury bedürften. Es genüge keineswegs, hier und da einmal für einen materiellen Umstand einen Sachverständigen herbeizurufen. Man müßte stets die sehr dunkle Hauptfrage, den Grund des Willens, in das klarste Licht setzen.

Hier bedarf es des Beistandes der physiologischen Wissenschaften. Wenn die Ärzte ausgemacht haben, wieviel das Physische, Materielle, Notwendige damit zu thun hatte, mag der Richter sein Gewissenswerk, den Tadel, die Züchtigung der Seele, die Heilmethode der Strafe und Besserung beginnen.

Im Mittelalter, wo alle Wissenschaft theologisch war, trug die Magistratsperson Sorge, den geistlichen, das heißt gelehrten Richter an seiner Seite zu haben, der ihn mit seinem besseren Wissen unterstützen könnte.

Heute, daran zweifeln wir nicht, werden unsere Richter mehr und mehr das Verlangen tragen, sich durch die Wissenschaft erleuchten zu lassen, die ihnen wenigstens die Hälfte der Angelegenheit klar machen kann. Ich verstehe darunter den Beistand des Arztes, des Physiologen, der, ohne sich einen zu großen Einfluß anmaßen zu wollen, dennoch von dem größten Nutzen sein und dem Richter den Faden an die Hand geben wird, an welchem dieser in das Labyrinth des Willens einzudringen vermag.

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