Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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Erstes Buch

Schaffung des geliebten Wesens

I. Von der Frau

Das Objekt der Liebe, die Frau, ist ein sehr eigentümliches Wesen, das viel mehr vom Manne verschieden ist, als es auf den ersten Blick scheint; ja, mehr als verschieden – entgegengesetzt, aber liebenswürdig entgegengesetzt, in einem süßen, harmonischen Widerstreite, der dem Leben seinen Reiz giebt.

An und für sich bietet sie einen anderen Gegensatz dar, einen Kampf grundverschiedener Eigenschaften. Begünstigt durch ihre Schönheit, ihre Poesie, ihre lebhafte Intuition, ihre Sehergabe, wird sie nichtsdestoweniger von der Natur in der Sklaverei ihrer Schwäche und Hinfälligkeit gehalten. Jeden Monat nimmt sie einen Ausschwung, die arme Sibylle, und jeden Monat warnt sie die Natur durch den Schmerz und schlägt sie durch eine peinliche Krisis in die Fesseln der Liebe.

Nichts thut sie, wie wir es thun. Sie denkt, sie spricht, sie handelt anders. Ihre Neigungen sind nicht unsere Neigungen. Ihr Blut fließt nicht, wie das unsere; auf Augenblicke stürzt es wie ein Gewitterschauer. Sie atmet nicht wie wir. In Voraussicht der Schwangerschaft und des späteren Aufsteigens der unteren Organe hat die Natur gewollt, daß ihr Atmen hauptsächlich ein Brustatmen sei. Aus dieser Notwendigkeit entspringt die größte Schönheit der Frau, das sanfte Wogen ihres Busens, das alle ihre Empfindungen mit stummer Beredsamkeit ausdrückt.

Sie ißt nicht wie wir, weder eben so viel, noch dieselben Gerichte. Weshalb? Vor allem deshalb, weil sie nicht verdaut wie wir. Ihre Verdauung ist alle Augenblicke durch einen Umstand gestört: sie liebt mit allen ihren Eingeweiden. Die tiefe Schale der Liebe (die man das Becken nennt) ist ein Meer wechselnder Erregungen, welche die Regelmäßigkeit der nutritiven Funktionen stören.

Diese inneren Verschiedenheiten offenbaren sich nach außen durch eine noch auffallendere. Die Frau hat eine Sprache für sich.

Die Insekten und Fische sind stumm. Der Vogel singt; er möchte artikulieren. Der Mann hat die deutliche Sprache, das saubere, durchgeistigte Wort, die Klarheit der Rede. Aber die Frau hat zu dem Worte des Mannes und dem Gesange des Vogels eine ganz wunderbare Sprache, mit der sie jene Worte, jenen Gesang unterbricht: den Seufzer, den leidenschaftlichen Hauch.

Unberechenbare Macht! Kaum zeigt sie sich, so ist das Herz davon erschüttert. Ihr Busen hebt sich, senkt sich, hebt sich wieder; sie kann nicht sprechen, und wir sind von vornherein überzeugt und gewonnen für alles, was sie will. Welche Beredsamkeit des Mannes wirkte wie das Schweigen der Frau?


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