Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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II. Die Frau ist eine Kranke.

Oft, sehr oft, wenn ich am Strande des tiefen Meeres nachdenklich saß, beobachtete ich mit gespannter Aufmerksamkeit die erste, anfänglich dumpfe, dann merkliche, dann zunehmende, zuletzt ungeheure Regung, welche die Flut ans Ufer zurückruft. Ich war ergriffen, hingerissen von der gewaltigen Elektricität, welche auf diesem Heere von Wellen, deren Kämme leuchteten, wogte.

Aber mit wie viel mehr Bewegung, mit welcher Andacht, welcher zärtlichen Ehrfurcht bemerkte ich die ersten sanften, verhaltenen, dann heftigen, schmerzhaften Zeichen der nervösen Zustände, welche periodisch die Ebbe und Flut dieses zweiten Oceans bezeichnen, den wir Frau nennen!

Übrigens sind diese Zeichen so deutlich, daß sie sich selbst bei durchaus nicht vertrautem Umgange auf den ersten Blick zeigen, so sorgsam sie auch versteckt, verschleiert werden. Bei einigen, die stark scheinen (aber welche dann um so schwächer sind), hebt ein sichtbarer Aufruhr an, einem Sturm oder dem Beginne einer schweren Krankheit vergleichbar. Andere, bleich, tödlich angegriffen, lassen etwas wie die verderbliche Wirkung eines schäumenden Wassers, das unter der Oberfläche fortwühlt, ahnen. Bei den meisten scheint der weniger energische Einfluß eher heilsam; er verjüngt und erneuert, aber immer wird dies durch Leiden und durch eine moralische Unbehaglichkeit erkauft, welche auf seltsame Weise die Stimmung afficiert, die Willenskraft schwächt und aus der Frau eine ganz andere, ganz neue macht, selbst für den, welcher sie seit langer Zeit am besten kennt.

Die gewöhnlichste Frau ist in diesem Zustande nicht ohne Poesie. Lange Zeit vorher und oft von der Mitte ihres Monats an, äußert sich bei ihr auf rührende Weise die bevorstehende Umgestaltung. Die Flut drängt schon heran, und das Wasser steigt.

Sie ist bewegt oder still. Sie ist ihrer selbst nicht recht sicher. Oft kommen ihr Thränen, oft Seufzer. Schont sie, sprecht zu ihr so sanft wie möglich. Pflegt sie, umgebt sie mit Aufmerksamkeiten, aber ohne ihr beschwerlich zu fallen, und wo möglich ohne daß sie es merkt. Es ist ein leicht verletzlicher Zustand. Sie trägt in sich eine Macht, die stärker ist, als sie selbst, gleichsam eine schreckliche Gottheit. Seltsame, beredte Worte, die man durchaus nicht erwartet hätte, kommen ihr und setzen euch in Erstaunen. Aber was alles beherrscht (es wäre denn, daß man die Barbarei hätte, sie einzuschüchtern), ist ein Zuwachs von Zärtlichkeit, selbst von Liebe. Die Wärme des Bluts macht die Bewegung des Herzens lebhafter.

»Ist das eine physische, notwendige Liebe?« Ja und nein. Die Einzelheiten verlaufen in einem unbestimmbaren Durcheinander, und das Ganze bleibt ein Rätsel.

*

Sie liebt, sie leidet, sie will die Stütze einer liebenden Hand. Das ist es, was mehr als irgend etwas die Liebe in dem Menschengeschlecht befestigt und die Vereinigung fixiert hat.

Man hat oft gesagt, daß es die Schwäche des Kindes sei, welche, indem sie die Sorgen der Erziehung in die Länge zieht, die Familie geschaffen habe. Freilich, das Kind läßt die Mutter nicht fort, aber der Mann wird an den Herd durch die Mutter selbst gebannt, durch die Liebe zu der Frau, durch das Glück, welches er darin findet, sie beschützen zu können.

Höher und tiefer stehend, als der Mann, gedemütigt durch die Natur, deren Hand schwer auf ihr liegt, und doch zu gleicher Zeit mit Träumen, Vorahnungen, tiefen Intuitionen begnadigt, die dem Manne niemals gekommen wären, hat sie ihn umstrickt, auf die unschuldigste Weise für immer verzaubert, und er – ist in diesem Zauberbann geblieben. Da habt ihr die Gesellschaft.

Eine gebieterische Macht, eine liebenswürdige Tyrannei haben ihn bei ihr festgehalten. Diese stets wiederkehrende Krisis, dies Geheimnis von Liebe und Schmerz, das jeder Monat bringt, haben ihn gebannt. Ein Wort von ihr, und er blieb. Dieses Wort ist: »Ich liebe dich doch mehr, wenn ich krank bin.«

Wenn sie die Sorgfalt, die Aufmerksamkeit einer guten Mutter, die sie pflegt und verwöhnt, nicht mehr hat, dann will sie einen guten Mann, dessen Güte sie benutzen und mißbrauchen kann. Sie bittet ihn, sie ruft ihn, mit und ohne Grund. Sie ist aufgeregt, sie fürchtet sich, sie schaudert, sie hat geträumt! Was weiß ich? Es wird noch diesen Abend oder in der Nacht ein Gewitter geben; sie fühlt es schon, sie hat es in sich: »Ich bitte dich, gieb mir die Hand ... Ich bedarf jemandes, der mir Mut einspricht.«

»Aber ich muß zur Arbeit gehen ...« – »Komme doch bald zurück ... Heute kann ich nicht ohne dich fertig werden.«

Man nennt die Frauen launisch, und doch ist nichts falscher. Sie sind im Gegenteil regelmäßig, wie die Natur, deren Mächten sie so sehr unterworfen sind. Wer den Zustand der Atmosphäre, die Zeit des Monats, endlich die Wirkung dieser beiden Faktoren auf ein Drittes kennt, wovon ich noch sprechen werde, kann mit größerer Sicherheit wahrsagen, als die Auguren des Altertums. Man ahnt fast mit Gewißheit, wie die Stimmung der Frau sein wird, ob heiter, ob traurig, worauf sich ihre Gedanken richten werden, ihr Sehnen und Träumen.

An und für sich sind sie sehr gut, sehr sanft und zärtlich für den, welcher sie schirmt und schützt. Ihre Launen, ihre ärgerlichen Stimmungen sind fast immer krankhafte Zustände. Der ist sehr thöricht, der sich dabei aufhält. Man muß sie gerade dann nur noch mehr schonen, hegen und pflegen.

Sie beruhigen sich wieder, beklagen jene bösen Stunden, entschuldigen sich oft unter Thränen, schlingen ihre Arme um euren Hals und sagen: »Du weißt es ja ... es ist nicht meine Schuld.«

Ist dieser Zustand vorübergehend? Keineswegs. Überall, wo die Frau nicht durch übermäßige Arbeit ihr Geschlecht zu verleugnen gezwungen wird (wie unsere abgehärteten Bäuerinnen, die sich sehr bald zu Männern machen), überall, wo sie Frau bleibt, ist sie gewöhnlich in vier Wochen eine Woche lang krank.

Aber die Woche, welche der kritischen Woche vorhergeht, ist schon voller Aufregung, und in den acht oder zehn Tagen, die der Woche folgen, bleibt eine Mattigkeit, eine Schwäche, die man sich nicht zu erklären wußte. Man weiß es jetzt. Es ist das Vernarben einer inneren Wunde, welche eigentlich das ganze Leiden bewirkt. So ist, streng genommen, die Frau von achtundzwanzig Tagen fünfzehn oder zwanzig Tage lang (man kann beinahe sagen, immer) nicht bloß eine Kranke, sondern eine Verwundete. Sie leidet fortwährend an der ewigen Wunde der Liebe.

*

Shakespeare sagt: »Das Mitleid, in der Gestalt eines kleinen Kindes.«

Die Frauen werden das für einen trefflichen Ausdruck halten. Bei dem Worte Kind öffnet sich ihr ganzes Herz der Rührung.

Aber wir Männer, die wir das Gewicht der Thatsachen richtiger messen, wir werden sagen, daß die leichtlebigen, unbekümmerten, von der Natur in hundert Dingen begünstigten, in ihrem jungen Wachstum und aufsteigenden Lebenslauf so mächtigen Kinder die Leiden unendlich weniger tief fühlen und nicht das vollkommene Bild des Mitleids sind.

Wollt ihr ein unglückliches, wahrhaft unglückliches Wesen kennen, und das wahre Bild des Jammers? Es ist die Frau, die im Winter, in einer gewissen Zeit des Monats, leidend, und voller Furcht vor gewissen prosaischen Ereignissen, die oft in dieselbe Zeit fallen, gezwungen ist, auf den Ball zu gehen, unter eine leichtsinnige, fühllose Menge ...

Ach! wo ist denn ihre Mutter? oder vielmehr ein liebender Mann, der sie hegt, für sie arbeitet, ihr es möglich macht, den Abend warm und behaglich vor dem Feuer zuzubringen. Er würde in solchen Tagen darauf dringen, daß sie früh zu Bette geht, und wenn er dann seine Arbeit fortsetzte, hörte er als Dank dies letzte, leise Wort: »Gott, dir gehört mein Herz, dir – und meinem Gatten!«


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