Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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VI. Die Versuchung.

Wenn ich von diesen tragischen, dem kleinen Haushalt, mit dem wir es hier zu thun haben, fremden Dingen gesprochen habe, so geschah es, um die unvorsichtigen Fliegen vor den Kunstgriffen der Spinne zu warnen; so geschah es, um die, welche ihre Frau vernachlässigen, beinahe vergessen und nachher über ihr trauriges Schicksal bestürzt sind, daran zu erinnern, daß sie selbst die Veranlassung, und sehr mit Recht bestraft sind.

Diejenigen im Gegenteil, welche sich wenig voneinander entfernen, die zusammenhalten, jeden Tag ihre Gedanken austauschen, haben diese Komplotte nicht eben zu fürchten. Sie sehen dieselben zum voraus, unterhalten sich ruhig über Dinge, die ihnen nur ein Lächeln des Mitleids und der Verachtung entlocken.

Es bringt der Frau große Ehre, sich inmitten dieser allgemeinen Verderbnis rein und frei zu erhalten, während ihre Verwandtinnen und Jugendfreundinnen fast alle eine schmähliche Sklaverei erdulden. – Sie geben sich anfänglich den Anschein, die junge Frau wunderlich und lächerlich zu finden. Das läßt sich noch ertragen. Und endlich müssen sie sich wohl zufrieden geben, wenn sie fest und unerschütterlich bleibt. Die öffentliche Stimme, das Urteil gleichgültiger und unbeteiligter Personen weisen ihr ihren moralischen Rang an. Ohne es zu wissen und zu wollen, gewinnt sie sich in ihrer einfachen Würde trotz ihrer Jugend ein Ansehen. Man schätzt ihren Rat, man achtet die Personen, die sie bei sich empfängt. Verschwiegen, wie sie ist, deutet sie indessen ausdrücklich an, daß sie von Geheimnissen verschont zu bleiben wünscht, die sie ihrem Gatten nicht mitteilen dürfte.

*

Kann sie die Vorteile einer solchen Stellung erkennen, ohne einen gewissen Stolz darüber zu empfinden? Schwerlich; aber dieser Stolz berührt nicht unangenehm. Man sieht in ihm nur den bescheidenen Ernst einer jungen Dame, die, von ihrem Gatten geehrt, die Königin seines Herzens so gut wie des Hauses ist, die in ihrer Sphäre herrscht, und in der Sphäre des Mannes, in den Geschäften, Bescheid weiß, oft um Rat gefragt wird und oft nützlichen Rat erteilt. Selbst auf dem idealen Gebiete und in der allgemeinen Unterhaltung glänzt die Frau von dreißig Jahren mit ihrem klaren, reinen Geiste, der nie in die gemeinen Regionen hinab zu steigen brauchte, oft von einem Lichte, das man bei dem einseitigen und ein wenig abgehetzten Manne von vierzig Jahren vergeblich suchen würde.

Sie steht in der Blüte ihrer Kraft. Das fühlt man an der stillen Größe, die jetzt der Charakter ihrer Schönheit ist. Ihre Formen sind von reizender Fülle, niemals war ihre Haut weißer, das zarte Rot ihrer Jugend ist bei ihr zurückgekehrt. Obgleich stets mäßig, sind ihr Speise und Trank doch nicht gleichgültig. Sie sollte mehr spazieren gehen, aber sie hat so viel im Hause zu thun, daß sie es selten verläßt, und ihre seßhafte Lebensweise bewirkt, daß sie etwas vollblütig ist. Sie errötet leicht, manchmal ohne Ursache. Das Blut steigt ihr plötzlich zu Kopf, ihre schönen Augen glänzen dann mehr als nötig.

Sie lebt und genießt das Leben in einer Weise, die jeder anderen langweilig vorkommen würde. Es ist eine kleine Lüsternheit an ihr, daß sie manchmal allein in den Garten geht, sich eine Frucht pflückt, dann noch eine, dann mehrere. Warum thut sie es heimlich, da sie doch die Herrin ist und sich nur selbst bestiehlt?

Sie liebt die Behaglichkeit ein wenig und ist eine Langschläferin. Ihr manchmal schwerer Schlaf ist dennoch nicht immer ruhig. Ihren Gatten, wenn er des Morgens erwacht und sie betrachtet, beunruhigt das. Was thun? Augenscheinlich träumt sie oder vielmehr ihr junges, feuriges, edles Blut träumt für sie. Die mutwillige Fee der Träume treibt gerade mit den Verständigsten ihr Spiel; sie neckt des Nachts mit ihren Thorheiten die, welche den Tag über gar keine begehen. Aber diese Frau ist so peinlich gewissenhaft, daß sie, kaum erwacht, sich überwindet, alles zu sagen; wenn sie ihre Beichte hergestammelt hat, losgesprochen und umarmt ist, fühlt sie sich wieder glücklich und vollkommen heiter, und denkt nicht weiter daran.

Das physische Leben erwacht oft spät bei der Frau, zu der Zeit, welche gerade die meiste Ruhe zu verheißen schien, wenn ihre Gesundheit, nachdem die Jugendkrankheiten und die ersten Prüfungen der Mutterschaft hinter ihr liegen, vollkommen befestigt ist. Alles ist ins rechte Geleise gebracht, alles geht in der vollkommensten Ordnung, die äußeren Verhältnisse sind besser als sonst, das Kind ist ein wenig herangewachsen und befindet sich wohl auf der Schule; das Herz der Mutter ist wieder ruhig geworden, die treffliche Gattin hat sich ganz in den Gatten gefunden, kennt seine guten Eigenschaften wie seine Schwächen und beherrscht ihn etwas – mit einem Worte, die ganze Existenz geht so sicher und unmerklich, wie ein Eisenbahnzug mit mäßiger Geschwindigkeit! ... Aber wie! wenn es nur einer Kleinigkeit bedürfte, um ihn aus den Schienen zu schleudern?

Unsere Kaufmannsfrauen, die intelligentesten Frauen Frankreichs, deren Leben so öffentlich ist, als ob sie in einem Hause von Glas lebten, und die infolge dessen sehr leicht zu beobachten sind, veranlassen mich zu einer Bemerkung: Viele unter ihnen, deren Wandel im übrigen tadellos ist, haben eine Schwäche für ihren besten Commis. Man weiß das und sagt nun ohne weiteres: auf Kosten ihres Gatten; aber das ist nicht immer wahr. Wenn man tiefer in die Sache dringt, das häusliche Verhältnis gründlicher kennen lernt, findet man oft, daß er nicht weniger geliebt wird, daß die Vorliebe der Frau sich dem zuwendet, den er selbst liebt und schätzt, den er, nicht ohne Grund, für den Treuesten seiner Getreuen hält. Ich habe diese Ladenidylle öfters beobachtet. Eine unschuldige Idylle scheint es, aber die doch gefährlich ist, denn sie spielt an einem Abgrunde. Der junge Mann, der mit innerer Befriedigung sich so von beiden vorgezogen sieht, kann es im Anfang sehr ehrlich meinen; er liebt sie, hebt sie kaum in seiner Neigung hervor. Aber die Sachen nehmen dennoch ihren Fortgang, und die schönen Augen seiner Herrin, die ihn mehr und mehr verwirren, lassen ihm das Leben sehr elend erscheinen. Bald sind sie es alle drei. Die Idylle verwandelt sich in eine Tragödie, und die Tragödie hat ihre Katastrophe – Verführung, Scheidung, manchmal Selbstmord.

Bemerken wir hierbei einen Umstand, der bis jetzt sehr wenig beachtet, aber sehr wahr ist. Eine gute Frau von treuem, zärtlichem Herzen irrt, wenn sie das Unglück hat, fast immer nach der Seite ab, nach welcher sich auch der Gatte neigt, ich meine, sie begünstigt den, welchen der Mann ebenfalls begünstigt, den er sich zu eigen, aus dem er sein zweites Ich macht. – Auf der anderen Seite ist die Gattin, weit entfernt, einen Mann zu lieben, der ihren Gatten überragt, ihm sehr feindlich gesinnt; neidisch auf seinen größeren Glanz; sie haßt denselben, streitet wider ihn und läßt sich keineswegs irgendwie bestechen. Ich habe das in unsern Bürgerklassen nicht zehnmal, sondern hundertmal beobachtet.

Die Schlechteren dagegen, die Treulosen, die nicht aus Schwäche sündigen, sondern mit vollem Bewußtsein, verfehlen nicht, den Feind des Gatten aufzusuchen und an sich zu locken, dessen scheinbare oder wirkliche Überlegenheit den Gatten demütigen, lächerlich machen, ihn mit Schmach und Hohn überschütten wird. Wen lieben sie im Grunde? Weder den einen, noch den anderen. Ihr Fall ist nicht Sache der Liebe, sondern purer Eitelkeit; es ist ihr Stolz, dem sie ihre Ehre opfern. Sie haben kein Herz und das erklärt alles. Auch erheben sie sich selten wieder. Wo das Herz fehlt, da ist keine Rettung.

*

Um auf unsere junge Freundin zurückzukommen, die so sicher in ihrer moralischen Harmonie ruht und so eng mit ihrem Gatten verbunden ist, so kann bei ihr eine Störung dieser Harmonie nur eine Überraschung des Herzens sein, an welcher er selbst vielleicht nicht ganz unschuldig ist. Die Situation des Gatten, ihre Tugenden, die Großherzigkeit des vortrefflichen Mannes können auf die unschuldigste Weise ein Ereignis herbeiführen, das nicht gefährlich, aber schmerzlich für sie ist, können ihr armes Herz bluten machen und sie daran erinnern, daß auch sie eine Frau wird.

Ein Neffe des Gatten, der plötzlich zur Waise wurde, fiel ihnen zu, als er zehn Jahre alt war; man hat sich beeilt, ihn kommen zu lassen. Er kam (von Peau oder Bayonne), ein anmutiges Bëarner Kind, nicht im mindesten schüchtern, voller Liebenswürdigkeit und Mutwillen. Die junge Frau, die damals noch sehr jung war, hat ihn trotz ihrer zwanzig Jahre wie eine Mutter empfangen, hat eine Mutter mit ihm beweint, inniger beweint, als er selbst, hat ihn mit Liebkosungen überhäuft. Man hat ihn auf die Schule geschickt; in jedem Jahr kommt er in den Ferien nach Hause, stets lebhafter, liebenswürdig, sanft und doch keck und durchaus nicht daran zweifelnd, daß die Welt ihm gehöre. Er ist zwölf, fünfzehn, achtzehn Jahre alt, wird stets sehr liebevoll aufgenommen, als wäre er des Kindes älterer Bruder. Man neidet ihm durchaus nicht (ebensowenig wie dem Kleinen) die unschuldigen Liebkosungen. Nur die Wirkung ist nicht ganz dieselbe. Eines Tages, als sie sich mit ihm vor den Augen des Gatten hascht, holt er sie natürlich sehr bald ein, umfängt sie ... Sie soll sich durch einen Kuß auslösen; warum nicht ... Aber es bleibt nicht bei dem einen Kuß; beim zweiten verliert sie den Kopf, erwidert ihn mehr, als er ihn giebt; sie bleibt einen Augenblick kraftlos, atemlos in seinen Armen. Er ist sehr rot, sie ist sehr bleich. Er bringt lachend die zitternde Taube zurück. Der Gatte lacht ebenfalls, sie keineswegs; sie ist wie im Fieber, und das Fieber verläßt sie den ganzen Tag nicht.

Seit diesem Tage, wie man es sich denken kann, fängt sie an, ein wenig Furcht zu haben, und wird vorsichtiger. Er seinesteils entwickelt sich in der ganzen Lebhaftigkeit südlicher Grazie, er spricht und erzählt auf das Geistreichste und Anmutigste, schneidet vielleicht ein wenig auf; aber man glaubt ihm immer. Der Eindruck ist lebhaft für die Dame des Nordens; der Kontrast mit dem ernsten, vielbeschäftigten Manne, der wenig aus sich herausgeht und sein Feuer für die That und die großen Resultate zusammenhält, könnte nicht größer sein.

Die gern gesehene Ankunft des jungen Mannes ist ein Fest für das Haus, und alles scheint verwandelt. Es ist, als ob die Sonne heller leuchtete, und das ist ein Lärmen und Lachen. (Man hört das sehr wenig, wo wahres Glück zu Hause ist.) Sie? nun sie lacht und ist traurig. Dieser Widerspruch fällt ihr selbst auf und beunruhigt sie. Sie fühlt sich nicht eben Wohl, und während die Herren zusammen ausgehen, bleibt sie zurück; sie will sich sammeln, sich über sich selbst klar werden.

Da ist sie nun in dem kleinen Garten, demselben Garten, in welchem sie sich vor zehn Jahren an dem heiligen Tage, wo sie schwanger wurde, nicht weniger bewegt, obgleich so rein, in der ersten Morgenfrühe erging. Da ist sie nun unter denselben Blumen, die soviel teil an ihr nahmen und ihr schwuren, daß sie unschuldig sei. »Aber was würden sie heute sagen? Ich habe nichts Böses gethan, nichts Schlimmes gewollt ... ich würde es meinem Gatten gesagt haben. Dennoch bin ich unruhig; ich fühle mich nicht wohl ... Und doch, ich habe ihm nichts zu sagen.« – »Sehr viel, Madame!« – »Wer sprach da? Es ist niemand hier, nur ich und die Rose. Wie prächtig sie ist, wie rot, rot von Feuer, scheint es mir. Spricht sie durch ihre Farbe, und was will sie sagen?«

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