Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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Einleitung.

I.

Der vollständige Titel dieses Buches, der den Zweck, den Sinn und die Bedeutung desselben ausführlich angäbe, wäre: Die geistige Befreiung durch die wahre Liebe.

Diese Frage, die Frage der Liebe, liegt, dunkel und unendlich, unter den Tiefen des menschlichen Lebens; ja, sie trägt die Grundvesten, auf denen das Leben ruht. Die Familie stützt sich auf die Liebe und die Gesellschaft auf die Familie. So ist die Liebe vor allem andern.

Wie die Sitten, so der Staat. Die Freiheit wäre ein leerer Schall, wenn der Bürger Sklavensitten bewahrte.

Wir suchen hier ein Ideal, aber ein Ideal, welches heute verwirklicht werden kann, nicht eins, das man für eine bessere Gesellschaft aufheben müßte. Es ist die Reform der Liebe und der Familie, die den anderen Reformen vorangehen muß und sie überhaupt erst möglich macht.

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Eine Thatsache ist unbestreitbar. Inmitten so vieler intellektueller und materieller Fortschritte hat der moralische Sinn abgenommen; alles schreitet vorwärts, entwickelt sich; nur eins wird kleiner: der Geist.

In diesem wahrhaft feierlichen Augenblicke, wo das über die ganze Erde ausgebreitete Netz der elektrischen Drähte im Begriff steht, ihre Gedanken zu zentralisieren und ihr es möglich machen wird, endlich einmal zum Bewußtsein ihrer selbst zu kommen – welchen Geist wollen wir ihr geben? Und was soll daraus werden, wenn das alte Europa, von dem sie alles erwartet, ihr nur einen geschwächten Geist darbietet? Europa ist jung und alt, in dem Sinne, daß es gegen seine Verderbnis die verjüngende Kraft aufrufen kann, die im Genie liegt. An Europa ist es, die Welt neu zu gestalten, indem es sich selbst neu gestaltet. Europa allein weiß und sieht und sieht voraus. Bewahre es sich nur die Willenskraft, und es ist noch nichts verloren.

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Man kann sich nicht verhehlen, daß die Willenskraft in den letzten Zeiten gewaltige Veränderungen erlitten hat. Der Ursachen dafür giebt es viele. Ich will nur zwei derselben nennen, die moralisch und physisch zu gleicher Zeit sind, und die, indem sie direkt das Gehirn treffen und es abstumpfen, darauf ausgehen, alle unsere moralischen Kräfte zu paralisieren.

Seit einem Jahrhundert ist die Herrschaft der Spirituosen und Narkotiken in fortwährendem und unaufhaltsamem Wachsen begriffen. Sie hat, je nach dem Charakter des Volkes, verschiedene Resultate gehabt. Hier hat sie den Geist verdüstert und ihn unheilbar barbarisiert; dort hat sie noch tiefer die physische Existenz unterwühlt und die Rasse selbst verschlechtert; – aber überall hat sie den Mann isoliert und ihm selbst an dem häuslichen Herde eine beklagenswerte Vorliebe für ungesellige Genüsse eingeflößt.

Kein Bedürfnis mehr nach Geselligkeit, Liebe und Familie. Dafür die trübseligen Freuden eines polygamen Lebens, welches, da es dem Manne keine Lasten auferlegt und die Frau nicht schützt (wie die Polygamie des Orients), nur um so zerrüttender, willkürlicher, schrankenloser und durch den fortwährenden Wechsel aufreizender und entnervender ist.

Man verheiratet sich immer seltener (die offiziellen Angaben beweisen es). Und, was kaum weniger ins Gewicht fällt, tritt die Frau in die Ehe, so ist es sehr spät. In Paris, wo sie früh reif und früh mannbar ist, verheiratet sie sich erst im fünfundzwanzigsten Jahre, verlebt also acht bis zehn Jahre des Wartens, sehr häufig des Elends, ja unvermeidlicher Unordnungen. Die Ehe hat wenig Festigkeit und schützt nicht vor Treubruch.

Barbarischer Zustand, wo die Liebe nur ein Krieg gegen die Frau ist, in welchem man sich ihr Elend zu Nutze macht, sie erniedrigt und dann, zerrüttet, dem Hunger preisgiebt.

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Jedes Jahrhundert ist durch eine Hauptkrankheit charakterisiert. Das dreizehnte war das des Aussatzes, das vierzehnte das der schwarzen Pest, das sechzehnte das der Syphilis, das neunzehnte ist an den beiden Polen des Nervenleidens angegriffen, in dem Gedanken und in der Liebe; beim Manne an dem entnervten, haltlosen, paralytischen Gehirn; bei der Frau an der mit schmerzhaften Geschwüren behafteten Gebärmutter. Dies Jahrhundert wird das Jahrhundert der Gebärmutterkrankheiten genannt werden – man kann es auch das des Elends, der Verlassenheit der Frau nennen – und ihrer Verzweiflung.

Die Strafe ist diese: Die leidende Frau wird aus ihrem kranken Schoße nur einen Kranken gebären, der, wenn er leben bleibt, gegen die natürliche Stumpfheit ein verderbliches Mittel in der Abstumpfung durch Alkohol und Narkotiken suchen wird. Nehmen wir an, daß ein solcher Mensch unglücklicherweise sich fortpflanzt, so wird er von einer noch hinfälligeren Frau ein noch entnervteres Kind haben. Solchem Elend ist der Tod als Gegenmittel und gründliche Heilung vorzuziehen.

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Man hat von Anfang des Jahrhunderts an vollkommen gefühlt, daß die Frage der Liebe die entscheidende Frage ist, welche unter den Grundvesten der Gesellschaft selbst abgehandelt wird. Wo die Liebe stetig und mächtig ist, da ist alles stark, solid und fruchtbar.

Die gefeierten Utopisten, die über so viele andere Gegenstände (über die Erziehung z. B.) helles Licht verbreiteten, haben das Kapitel der Liebe nicht mit demselben Glück behandelt. Ich wage zu behaupten, daß sie hier nur eine geringe Unabhängigkeit des Geistes gezeigt haben. Ihre Theorien sind, obgleich der Form nach kühn, im Grunde darum nicht weniger sklavisch gegen die Wirklichkeit und ängstlich auf die Sitten der Zeit berechnet. Jene Männer fanden die Polygamie vor, und sie haben sich ihr unterworfen und für die Zukunft polygamische Utopien phantasiert.

Um das wahre Gesetz in dieser Sache zu finden, hätten sie, ohne große moralische Untersuchungen anzustellen, einfach die Geschichte und die Natur befragen sollen.

In der Geschichte sind die Menschenrassen genau auf Grund ihres monogamen Lebens physisch und moralisch stark.

In der Naturgeschichte haben die höheren Tiergattungen eine Neigung zum Leben in der Ehe und verwirklichen es zum wenigsten für einige Zeit; und es ist gerade dies der vorzüglichste Grund ihres höheren Ranges.

Man sagt, daß bei den Tieren die Liebe unstet und launisch, daß, andere Objekte der Lust zu suchen, für sie Naturzustand sei. Ich finde jedoch, daß, sobald nur eine gewisse Stabilität möglich ist und die Lebensmittel regelmäßig herbeigeschafft werden können, Ehen unter ihnen entstehen, zum mindesten zeitweilige, die nicht bloß durch die Liebe zu ihrer Brut, sondern ganz eigentlich durch die Liebe zustande kommen. Ich habe hundertmal diese Beobachtung gemacht, besonders in der Schweiz an einer Finkenfamilie. Als das Weibchen gestorben war, versank das Männchen in Verzweiflung und ließ die Jungen umkommen. Augenscheinlich war es Liebe und nicht väterliche Liebe, was es auf dem Neste festgehalten hatte. Sie war tot, und alles war vorbei.

Die Nahrung ist in der späteren Jahreszeit weniger reichlich, und es nötigt viele Gattungen, ihre zeitweiligen Ehen aufzugeben. Die Gatten sind gezwungen, sich dann zu trennen, ihren Bereich der Beute und der Jagd auszudehnen, und sie können des Abends nicht mehr zu demselben Neste zurückkehren. So scheidet sie der Hunger, nicht ihr Wille. Die kleinen Fortschritte in der Industrie, welche eine feste Ehe stets herbeiführt, werden gehemmt, vereitelt.

Wäre dem nicht so, sie würden bleiben. Es ist nicht die Wollust allein, welche sie hält; denn das befruchtete Weibchen gewährt solche nicht. Es ist der ganz eigentliche Instinkt der Geselligkeit, des gemeinsamen Lebens; die Lust, den ganzen Tag eine kleine Seele sich nahe zu fühlen, die auf euch rechnet, euch ruft, euer bedarf, euch (dich Fink, dich Nachtigall) durchaus nicht verwechselt mit einem andern derselben Gattung, nur euren Gesang hört und ihn oft durch ihre sanften, klagenden Rufe beantwortet, die gleichsam mit leiser Stimme gegeben werden (damit sie nur einer hört!), und die von ihrem Herzen zu deinem gehen.

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In unseren Tagen ist man mit Nachdruck auf die Fragen der Liebe zurückgekommen. Geniale Schriftsteller haben sie teils in unsterblichen Romanen, teils in theoretischer, beredter, scharfer und strenger Form mächtig angeregt. Aus Gründen, die man erklärlich finden wird, enthalte ich mich eines weiteren Eingehens auf ihre Bücher. Ich erlaube mir nur trotz meiner Bewunderung und auf Sympathie ruhenden Achtung zu bemerken, daß man weder von der einen noch von der andern Seite tief genug in den Gegenstand eingedrungen ist.

Seine beiden Seiten, die physiologische so gut wie die der praktischen Moral, sind noch nicht aufgehellt.

Die Diskussion dauert fort, ohne daß man weiß oder zu bemerken sich herabläßt, daß sie sich um mehr als einen Punkt dreht, den die höchste Autorität, die der Thatsachen, für immer abgemacht und entschieden hat.

Das in seinem wesentlichen Mysterium lange Zeit unbegriffene, verkannte Objekt der Liebe, die Frau, ist durch eine Reihe von Entdeckungen in den Jahren von 1827–1847 enthüllt worden. Wir kennen dieses heilige Wesen, das gerade darin, wo das Mittelalter es der Unreinheit beschuldigte, sich in Wahrheit als die Reinste der Reinen in der Natur zeigt.

Die berechtigte Veränderlichkeit der Frau ist begriffen worden, und ebenso ihre Unveränderlichkeit, das, was den endgültig dauerhaften Charakter der Verbindung und der Ehe ausmacht.

Wie ist es möglich, von der Frau zu sprechen, ohne etwas von alledem zu sagen?

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Ein anderer wesentlicher Punkt ist der, daß die Liebe nicht, wie sie sagen oder zu verstehen geben, eine Krisis, ein Drama in einem Akte ist. Wäre sie nur das, so verlohnte sich ein so flüchtiges Ereignis kaum der Aufmerksamkeit. Sie wäre dann eine der ephemeren, oberflächlichen Krankheiten, die man sobald wie möglich loszuwerden sucht.

Aber glücklicherweise ist die Liebe, und ich meine die treue, auf einen Gegenstand gerichtete, eine oft lange Reihenfolge sehr verschiedener Leidenschaften, welche das Dasein beleben und fort und fort erneuern. Wenn man die blasierten Klassen, welche der Tragödien, der plötzlichen, handgreiflichen Veränderungen bedürfen, beiseite läßt, so sehe ich, daß die Liebe manchmal ein ganzes Leben hindurch dieselbe bleibt, mit verschiedenen Graden der Intensität und äußeren Variationen, die ihr Wesen nicht berühren. Ohne Zweifel kann eine Flamme nicht brennen, ohne zu wechseln, sich zu heben, zu senken, wieder aufzusteigen, sich in Form und Farbe zu verändern. Aber die Natur hat dem vorgesehen. Die Frau verwandelt sich unaufhörlich in ihrer Erscheinung; eine Frau hat deren tausend. Dazu kommt, daß die Phantasie des Mannes leicht den Gesichtspunkt verrückt. Auf den für gewöhnlich dauerhaften und festen Grund der Gewohnheit zeichnet der Augenblick Veränderungen, welche die Neigung modifizieren und verjüngen.

Nehmt nicht die Ausnahme, die vornehme, romantische Welt, sondern die Regel, die Mehrzahl, die Wirtschaften der Arbeiter. Ihr findet hier, daß der Mann, der um sieben, vielleicht um zehn Jahre älter ist als die Frau, und sich überdies mehr im Leben umgesehen hat, im Anfang seine junge Gefährtin bedeutend durch seine Erfahrung beherrscht, und sie ein wenig wie seine Tochter liebt. – Sehr schnell holt sie ihn ein oder eilt ihm voraus: die Mutterschaft, die häusliche Erfahrung vermehren ihre Wichtigkeit; sie gilt so viel wie er und sie wird wie eine Schwester geliebt. Aber wenn das Handwerk, die Arbeit den Mann abgenutzt haben, so wird die nüchterne, ernste Frau, der eigentliche gute Geist des Hauses, von ihm wie eine Mutter geliebt. Sie sorgt für ihn, sie pflegt ihn; er stützt sich auf sie und erlaubt sich oft, ein wenig das Kind zu spielen, wohl wissend, daß er in ihr eine so gute Pflegerin und eine sichtbare Vorsehung besitzt.

Und das ist es nun, worauf sich bei den kleinen Leuten jene große und schreckliche Frage wegen der Superiorität des einen Geschlechts über das andere, eine so heikle Frage, so lange es sich um die Leute von gutem Ton handelt, reduziert. Es ist vor allem eine Altersfrage. Ihr seht sie am Tage nach der Hochzeit, wenn die Frau wie ein Kind erscheint, zu Gunsten des Mannes gelöst; später zu Gunsten der Frau. Wenn am Sonnabend-Abend der Mann seinen Wochenlohn bringt, so zieht sie ihr Wirtschaftsgeld ab (die Pflege der Kinder); sie läßt ihrem Manne das Geld für seine kleinen Vergnügungen. Sie denkt an alles; an sich denkt sie nicht.

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Wenn man die Liebe eine Krisis nennt, so kann man die Loire auch eine Überschwemmung nennen.

Aber bedenkt doch auch, daß dieser Fluß in seinem zweihundert Meilen langen Laufe, in seiner so vielfältigen, so verschiedenartigen Thätigkeit als Straße, als Bewässerer der Felder, als Reiniger der Luft u. s. w. auf tausenderlei Weise seine Wirkung äußert. Es heißt ihm Unrecht thun, wenn man ihn einzig von seiner leidenschaftlichen Seite auffaßt, wo man ihn am dramatischsten findet. Lassen wir sein zufälliges Drama, das wirklich nur untergeordnet ist, beiseite und nehmen wir ihn lieber in dem regelrechten Epos seines großen Lebens als Fluß, in seinen heilsamen und befruchtenden Einwirkungen, die nicht minder poetisch sind.

In der Liebe ist der Augenblick des Dramas ohne Zweifel interessant; aber er ist zugleich der der Leidenschaft, wo wir eben nur zugegen sind und unsere Selbsttätigkeit sehr gering ist. Es ist wie der schäumende, wilde Bach im Gebirge, da wo sein Bett am schmalsten. Aber man muß ihn als Ganzes, in der ganzen Ausdehnung seines Laufes nehmen. Weiter oben ist er ein friedliches Bächlein; weiter unten wird er ein breiter, aber gelehriger Strom.

Die Liebe ist keine Macht, welche der Bildung gänzlich unzugänglich wäre. Sie ist, wie jede andere Naturgewalt, ein Stoff für den Willen, für die Kunst, welche, sage man was man will, sie sehr leicht schafft und leicht durch die Situation, die äußeren Umstände und die Gewohnheiten modifiziert.

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Wie soll der ältere, weiter vorgeschrittene, aufgeklärtere Mann die junge Frau einweihen?

Wie soll die entwickelte und auf dem Höhepunkte der Anmut und Macht angelangte Frau es anfangen, das Herz des Mannes sich zu erhalten, wieder zu erobern? wie soll sie den Ermüdeten erquicken, verjüngen? ihm die Flügel geben, die ihn emportragen über das Elend des Lebens und des Handwerks?

Welches ist die Macht des Mannes über die Frau und die der Frau über den Mann?

Dies ist eine Wissenschaft und eine Kunst. Wir wollen das erste Wort sagen; andere mögen es ausführen.

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Um das Vorhergehende zusammenzufassen:

Man hat bis jetzt die Liebe nur in ihrem am wenigsten lehrreichen Momente genommen.

Sie hat eine Seite, wo sie notwendig und tief erscheint, die naturgeschichtliche Seite, welche von unglaublicher Einwirkung auf ihre moralische Entwickelung ist. Dies ist übersehen worden.

Sie hat eine Seite, wo sie frei und willkürlich ist, wo die praktische Moral auf sie einwirkt. Diese Seite hat man vernachlässigt.

Dieses Buch ist ein erster Versuch, jene beiden Lücken auszufüllen.


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