Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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II. Die Liebe zur Veränderung.

Dieses Buch über die Liebe kann und soll nicht ein zweites Buch über die Mutterliebe enthalten. So muß ich denn hier, so leid es mir thut, die reizende Entwickelung der Erziehung, welche das Kind der Frau nicht weniger, als die Frau dem Kinde zu teil werden läßt, in der Feder behalten. Um auf das Kind wirken zu können, wird sie selbst wieder Kind, fängt wieder an zu lallen, ahmt ihm nach, damit es ihr wieder nachahmt. Wundervolles Schauspiel, in welchem sie eine so außerordentliche Geduld, manchmal beinahe Genie zeigt. Ohne diese gewaltige Anstrengung wäre es nicht möglich, das Kind dem Leben zu erobern; wir alle nehmen von da unsern Ausgang; nur durch diese Geduld der Frau, sich zum Kinde zu machen, werden wir zu Menschen.

Ihr fragt hoch herab, weshalb die Frau, deren Entwickelung so früh abschließt, keine Kunst für sich gefunden habe? Deshalb nicht, weil sie die Kraft ihrer besten Jahre zusammennehmen mußte für eine höhere Kunst, für die Kunst, den Menschen zu schaffen, in euch die geistige Entwickelung zu beginnen, die mächtigen Fähigkeiten, die euch so stolz machen, ihr Undankbaren!

Diese unglaubliche Energie, die sie entwickelt, um die Schranke zwischen ihr und jenem Dinge, aus dem sie eine Person machen will, aus dem Wege zu räumen, um mit einem Stummen sich zu unterhalten, ihm einige Zeichen des Verständnisses zu entlocken, kurz, zu bewirken, daß das Wort und der Geist, die Menschlichkeit in ihm aufblühe – ist über die Kraft des Mannes. Er unterstützt die Komödie wohl, nimmt für einen Augenblick, für eine Stunde vielleicht, selbst daran teil, und das ist schon viel. Wenn sie dieselbe Sache zwanzig-, dreißigmal wiederholt, so findet ihr das sehr gut, sehr hübsch und angenehm in ihrem Munde, und ihre anmutigen kleinen Kunstgriffe, das Kind zu unterhalten und aufzuwecken, unterhalten manchmal auch das große Kind. Aber wenn die Sache tausendmal wiederkehrt, millionenmal, am Tage und des Nachts, und immer, und beinahe immer dieselbe, so giebt er sich den Anschein, als höre er zu, als nehme er daran teil, und kann es nicht, und denkt an anderes.

Diese vier Jahre (diese acht Jahre, wenn ein zweites, ein drittes Kind hinzukommen) werden eine stets wachsende Trennung zwischen den besten Eheleuten hervorbringen. Die Frau, welche ganz von ihrer Aufgabe als Amme, als Erzieherin in Anspruch genommen wird, bleibt wesentlich dieselbe, ja sie zieht den Kreis ihrer Ideen enger. Der Mann im Gegenteil vergrößert im Fortgang der Zeit, durch das Wachsen seiner Geschäfte, infolge auch der Einsamkeit, in welcher ihn seine Frau läßt, welche von den Kindern absorbiert wird – vergrößert, sage ich, den Kreis seiner Thätigkeit, seiner Verbindungen. Mehr und mehr giebt er dem gewaltigen Strudel, der fürchterlichen Beweglichkeit unsers modernen Lebens nach, welches den Einzelnen ergreift, zersetzt, zu Staub zermalmt, mit ihm spielt und ihn in die Lüfte zerstreut.

Dies ist das normale Verhältnis, welches jede, auch die beste Ehe zeigt. Die Frau (auch die beste) schließt sich in einen ganz engen Kreis ein, der Mann (auch der beste) zersplittert sich in dem Grenzenlosen.

Die Leidenschaft des Mannes muß eine große, eine gewaltige sein, wenn eine solche Entfremdung, eine so ungeheure Divergenz die Einigkeit nicht vernichten soll.

Und wie soll diese in ihrer Sphäre musterhafte Frau, diese bewunderungswürdige Mutter gegen ihren Gegner, die Welt und ihre Mannigfaltigkeit kämpfen, gegen diese betäubende, blendende moderne Welt?

Keine Individualität kommt gegen einen solchen Gegner auf, der ihr tausend verschiedene Kräfte auf einmal entgegensetzt.

Sie ist schön, anziehend, sie verleiht dem häuslichen Leben einen hohen Reiz. Aber die ungeheure Beweglichkeit unsers Lebens, die uns auf Feuerflügeln von Kontinent zu Kontinent trägt, giebt dem Manne den Erdball zum Wohnhaus und blendet ihn im Vorüberfliegen mit tausend Schönheiten aus der Menschenwelt und der Natur, die ihn mindestens zerstreuen.

Ich nehme an, daß sie selbst geistreich sei, diese Frau, interessant, stets eine andere. Aber die tausendarmige Riesin, die Presse, bringt allstündlich dem Manne die Neuigkeiten der ganzen Welt, immer neue Ereignisse, Begebenheiten, Thaten, welche die neuen Ideen auch des fruchtbarsten Geistes weniger anziehend erscheinen lassen. Diese brutale Zersplitterung der Aufmerksamkeit durch materielle Thatsachen übersättigt das Gehirn und stumpft es ab.

Und folgt sie nun, wenn sie es vermag, dem wechselnden, unterhaltenden Kaleidoskop der Mode, so läßt sie sich auf den ungewissesten Wettstreit mit der Veränderung selbst und allen ihren unvorhersehbaren Zufällen ein.

Und kann sie kämpfen, das zarte Wesen, mit den gewaltsamen Reizmitteln, den geistigen Getränken, diesen dem Geiste feindlichen Geistern, dieser Barbarei einer Civilisation, die nur Kraftstücke will, künstlichen Aufschwung und Strohfeuer des Enthusiasmus statt wahrer Begeisterung?

Wir sagten: zwei brutale und wilde Kräfte, die sich in die Herrschaft der Welt teilen, führen grausamen Krieg mit der Liebe:

1. Das rasende Bedürfnis nach Neuem, welches lange Zeit durch die Monotonie des Mittelalters zurückgehalten, seitdem hervorgebrochen ist, und sich heute rächt und mit der Heftigkeit einer Reaktion durch alle Mittel zu gleicher Zeit Befriedigung sucht.

2. Wir haben diesen Umschwung herbeigewünscht, mit Begeisterung begrüßt, und schon fühlen wir uns von ihm erdrückt. Ermüdet, geblendet, abgestumpft und angeekelt durch diese tolle Jagd, diesen Hexentanz, der ihm seine Kraft raubt, flüchtet sich der Mann feigerweise in die entgegengesetzte, noch verderblichere Abspannung, in den bleiernen Rausch, in die zerflossene, unfruchtbare Träumerei, in den Rauch des Tabaks und die Abstumpfung der geistigen Getränke.

*

Wie sehr hätte hier die Frau Ursache, sich zu beklagen! ... Der Mann – und ich meine nicht den durch die Leidenschaft verblendeten, sondern im Gegenteil den nüchternen, der in vollkommener Klarheit lebt – wird leicht begreifen, daß die zwiefache Trunkenheit, die beiden Excesse, welche dadurch, daß sie sich das Gegengewicht halten, die Weisheit möglich machen, in den Armen der Frau unendlich viel heilsamer und belebender gefunden werden können, als in jenem Scheindasein. In ihr ist der süßeste Rausch, in ihr der tiefste Schlaf.

Die Abstumpfung und Lähmung des Gehirns, welche euch den nächsten Tag zum voraus verderben, sind traurige Mittel, zu vergessen, im Vergleich mit denen, die sie euch gewährt hätte – dem Abendfrieden, der süßen Ruhe und dem noch süßeren Erwachen an ihrer Seite.

Und was jene unendliche Zerstreuung durch die tausend Dinge betrifft, die euch nach tausend Seiten zerren, die vielen neuen Bücher, in denen nichts Neues steht, die vielen Eisenbahnen, die zu keinem Ziele führen – das alles, soll ich es aussprechen, kommt mir vor wie eine große Verschwörung, euren Geist zu meucheln, ihn mit einer Welt von unverdauten Dingen zu überschütten, unter denen er sich nicht mehr wird regen können. So stürzten über Herculanum an einem Tage über fünfzig Fuß Asche. So ist eine Wiese der Loire die ich kenne, nachdem sie bei der bekannten Überschwemmung mit zweihundert Fuder Steine übersäet wurde, seitdem verlassen und zu nichts mehr gut. Rette deine Seele vor einem ähnlichen Verderben, schirme sie gegen eine solche Überschwemmung. Schütze sie durch die Liebe, bewahre sie durch die Weisheit. Antworte dem trüben Meere, das an dich herandrängt, und dir so viele schöne Dinge anbietet, daß alles das wertlos ist im Vergleich mit dem Schatze, den zwei Gatten, die ihre Liebe nicht erkalten lassen, besitzen:

Der Schatz des Mannes, ein Nichts, ein Unendliches, ein Atom von Feuer, welches uns lieben, handeln, schaffen macht; mit einem Worte: der Funken des Prometheus.

Der Schatz der Frau, die Sanftmut eines reinen Herzens, welches dein Hafen ist, das Meer nährender Milch, die ewige Verjüngung. Das alles unter dem Reiz der Bescheidenheit und Jungfräulichkeit, heiliger Einfalt, göttlicher Kindheit.

Wenn du des Abends nach Hause kehrst, und sie dir entgegenkommt, den Kleinen auf dem Arm, verbanne, mein Freund, verscheuche die Wolke, welche die Wirkung so vieler Dinge, von denen du den Tag über dich gedrückt fühltest, um deine Augen, um dein Herz gelagert hatten. Nach dieser Phantasmagorie, dieser bösen Zauberlaterne, durch die so viele trübe Schatten huschten, öffne deine Sinne wieder der Wirklichkeit. Möge diese Mutter mit ihrem Kinde, ihr reizendes Lächeln, ihre Freude, dich wiederzusehen, ihr zärtlicher Kuß und ihre stumme Umarmung dich rein machen und deine Augen klar, daß du erkennest, wie lieblich das Leben ist. Nehmt, ich bitte euch, eure gemütlichen Unterredungen wieder auf. die durch deine Geschäfte, durch ihre Mutterschaft, durch die Pflege des Kindes ein wenig gestört waren. Und grolle ihr nicht! War es denn ihre Schuld? Was hat sie nicht gelitten, als dieses gierige, unerbittliche Kind, dem sie ihr Blut, ihre Milch gab, ihre zarten Nerven zerriß! ... Du liebst sie, ich weiß es, du freust dich ihrer entfalteten Schönheit, wie sie jetzt dasteht, die Mutter mit dem Säugling an ihrer Brust. Ihr habt euch als dieselben wiedergefunden.

Stört denn wirklich dieser arme Kleine euer trauliches Beisammensein? Er ist doch ein sehr harmloser Nebenbuhler. So tragt euch denn gegenseitig, oder vielmehr liebt euch jetzt zu Dreien. Bald wird er heranwachsen und seine Mutter nicht mehr gänzlich in Anspruch nehmen. Noch einige Jahre, und er wird ihr entfliehen und, verlassen von ihm, wird sie kommen, sich in deinen Armen auszuweinen.


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