Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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III. Die Hochzeit.

Die Stunde ist da. Ihre Mutter verläßt sie und vergießt einige Thränen. Ich für mein Teil verlasse sie noch nicht. Ich habe dir ein Wort zu sagen, welches ihre Mutter nicht weiß.

Werde nicht ungeduldig und schelte nicht auf mich. Ich bin es nicht, der dich zurückhält. Sie ist ohne Furcht eingetreten, sie liebt dich so sehr! Sie hat die bescheidene Zuversicht, welche die Unschuld giebt; aber schließlich ist sie doch in großer Aufregung – schreibe das auf Rechnung der Natur.

.. Ihr armes kleines Herz schlägt so stark, daß man sein Schlagen sieht ... Lassen wir sie, ich bitte dich, sich einen Augenblick erholen, zu Atem kommen ...

Das Wort ist aber dies:

Ich mache und bestimme dich zu ihrem Beschützer gegen dich selbst.

Ja, gegen dich! Ereifere dich nicht ... Gegen dich, denn zu dieser Stunde bist du ihr Feind.

Ein sanfter, ehrfurchtsvoller und zärtlicher Feind. Halten wir uns nicht bei den Fadheiten auf, die uns nun ein Weltmann über die guten Manieren, welche die wohlerzogenen Leute früher und jetzt hatten und haben, zum besten geben würde. Ich weiß, daß die meisten durch das Leben, durch die große, zu große Erfahrung im Vergnügen abgekühlt anlangen. Aber für die Verlebtesten ist es eine Sache der Selbstliebe, der ungeduldigen Eitelkeit. Das kann weit führen. Und ich verlasse mich hier auf das herbe, aber unumwundene Wort der Naturkunde: »Das männliche Tier ist sehr grausam.« Ein Wort, das unglücklicherweise durch die Medizin und Chirurgie bestätigt wird, die man oft genug wegen der Folgen konsultiert, und die, kalt wie sie sind, ihre Entrüstung nicht zurückhalten können über die unkeusche Wut, die eine so heilige Stunde beflecken kann.

*

Hier ist ein zweiter, sehr ernster Punkt von unberechenbarer Wichtigkeit.

Weißt du wohl, daß du in diesem Augenblicke der Aufregung zwischen zwei sehr verschiedenen Ideen geteilt bist? Du begreifst weder dich, noch sie. Diese weiße Statue, die du mit den Augen verschlingst, die so rührend fürchtet, furchtsam zu erscheinen, und auf den bleichen Lippen ein Lächeln zu bewahren sucht ... du bildest dir ein, sie zu kennen? Und dennoch ist sie dir ein Rätsel.

*

Diese hier ist die moderne Frau, die eine Seele und einen Geist hat. Die antike Frau war nur ein Körper. Da die Ehe in jenen Zeiten nur ein Mittel war, Kinder zu zeugen, so wählte man zur Gattin ein kräftiges, rotbäckiges Mädchen (rot und schön sind synonym in den barbarischen Sprachen). Sie sollte viel Blut haben und bereit sein, solches zu vergießen. Man machte viel Lärmens davon. Das Sakrament der Ehe war eine Bluttaufe.

In der modernen Ehe, welche vor allem die Vereinigung der Seelen ist, ist die Seele das Wesentliche. Die zarte, ätherische Frau, die wir Modernen träumen, ist nicht mehr jenes rotbäckige Mädchen. Das Nervenleben ist bei ihr alles. Ihr Blut ist nur noch Bewegung und Leben. Es ist in ihrer lebhaften Einbildungskraft, der Rastlosigkeit ihres Gehirns; es ist in ihrer nervösen Anmut, die etwas Krankhaftes hat; es ist in ihrer bewegten, manchmal geistsprühenden Rede; es ist vor allem in jenem tiefen Liebesblick, der bald entzückt und hinreißt, bald verwirrt und noch öfter rührt, zum Herzen dringt und uns Thränen entlocken könnte.

Das ist es, was wir lieben, erträumen, erstreben, ersehnen. Und nun, in der Ehe, vergessen wir mit wunderlicher Inkonsequenz das alles, und wollen jenes Mädchen der kraftvollen Rassen, jenes Landmädchen, welches noch dazu in unsern Städten, müßig und überfüttert, die rote Quelle des Lebens in Überfluß haben soll.

Das Vorherrschen der Nerventhätigkeit, die Abnahme der Blutthätigkeit ist übrigens ein Faktum unserer Zeit. Wenn der berühmte Broussais wiederkäme, wo fände er in unserer Generation (ich meine in den kultivierten Klassen) jene Ströme von Blut, die er, nicht ohne Erfolg, den Adern der damaligen Menschen entzog? Eine Veränderung von Grund auf – zum Guten? zum Schlechten? darüber läßt sich streiten. Aber sicher ist, daß der Mensch sich verfeinert hat und Geist geworden ist. Eine ununterbrochene Folge von großen Werken und Entdeckungen hat diese letzten dreißig Jahre bezeichnet.

Alles hat sich verändert, auch die Frau. Sie hat gelesen und sich kultiviert, schlecht, wenn du willst, aber doch kultiviert. Sie hat von unseren Gedanken gelebt. Die junge Dame hat daraus ein Geheimnis gemacht, aber wer liest es nicht in ihren Augen, in ihren oft zu ausdrucksvollen Zügen, in ihrer krankhaften Zartheit? Deine Verlobte hat nichts mehr gefürchtet, als jene derben Reize zu zeigen, auf die du heute mit einemmale so große Stücke hältst. Du sprachst so schön von reiner Liebe; sie hätte am liebsten sich zu einem Engel des Lichts gemacht. Sie hat geglaubt, du schmachtetest hienieden nach einem Wesen aus besseren Sphären und wünschtest ihr nur noch Flügel.

Und übrigens sind gerade die, welche die Prüfung am wenigsten zu fürchten haben, die reiner als rein dazu gelangen, aber unschuldig und vollkommen unwissend, oft die, welche erst recht beunruhigen und in Bestürzung versetzen. So sehr verliert der Mann an diesem Tage den freien Blick, oft weniger durch die Liebe, als durch Stolz und Mißtrauen! Eine rührende Scham, eine nervöse Erregtheit, die frauenhaft kindischen und in diesen Augenblicken so natürlichen Ängstlichkeiten werden auf der Stelle in der bedenklichsten Weise ausgelegt. Man stürzt sich in diese oder jene quälende Vermutung.

»Es ist kein Zweifel, sie scheut diese Prüfung ... Sie verzögert so lange als möglich ein Geständnis, das sie nicht zu machen wagt!«

Im Anfang versteht sie es nicht; aber wenn sie endlich seinen Gedanken faßt – o dann, wie groß ihre Indignation, ihr Schmerz! ... Sie erstickt, kann nicht mehr weinen ... Sie, die ihn so liebte, die ihm alles gesagt hätte, wenn etwas zu sagen gewesen wäre, sie durch Mißtrauen so tödlich zu beleidigen ... Das ist genug, um für immer zu hassen!

Bedenke doch der Mann wohl, daß, wenn er die Frau in diesen Augenblicken richtet, sie ihn wieder richtet. Sie ist dann unendlich empfindlich, zärtlich, aber um so leichter verletzbar. Sie empfängt in ihres Herzens Herzen einen bleibenden Eindruck, der ihre Liebe leben macht – oder tötet.

*

O, welch seltsame, erstaunliche, grausame Veränderung! Er behauptete, so sehr zu lieben, und hat nicht einmal Mitleid! Er liest nicht einmal auf ihrem Antlitz, daß (was häufig vorkommt) sie infolge der Aufregung in der That sehr krank ist. Seit sie ankam, wurde ihr das Atmen so schwer. Dann stieg höher und höher die nervöse Flut, oft bis zu einem Zustande, der durch seine stürmische Heftigkeit erschreckt. Manchmal, was noch schlimmer ist, stellen sich Übelkeiten ein; die Besonnenste ist von Grund auf erschüttert. Ihre Lage ist entsetzlich, ihre Angst fürchterlich.

Mitleid, Mitleid für sie! sei gut, sei zart ... Begreife sie doch nur, pflege sie, beruhige sie. Sie muß fühlen, daß du nicht ihr Feind bist, im Gegenteil ihr Freund, und der ergebenste, der ihr ganz und gar gehört. Sei klug, gewandt, voller Achtung, und voller Einsicht in ihre Lage. Beruhige, beruhige sie!

Du mußt also zu ihr sprechen:

»Ich bin dein, ich bin du selbst. Ich leide mit dir ... Sieh in mir deine Mutter, deine Wärterin. Verlaß dich ganz auf mich ... Du bist meine Frau und du bist mein Kind.«

Kostbarer Augenblick, wo er, welcher sich in die Mutter, die Krankenwärterin verwandelt, das Unrecht des Liebhabers wieder gut macht. Der ruhig gewordene Geist beruhigt den Körper, und während sich der Strom der Nerven allmählich legt, sprechen die gute Natur, die weibliche Gelehrigkeit zu euren Gunsten; sie leidet und möchte euch doch gern heiter sehen. Wenn sie nicht beruhigen kann, wenn sie noch zu schüchtern ist, wird sie euch aus Zärtlichkeit oder Schwäche allerliebste Vertraulichkeiten erlauben. Sie wird, von euch bewacht, ruhig an eurer Seite einschlafen. Das Erwachen wird ein so süßes sein.


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