Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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III.

Dreimal in fünfundzwanzig Jahren hat sich die Idee dieses Buches, des tiefen socialen Bedürfnisses, dem es entgegenkommen würde, meinem Geiste in ihrer ganzen Wichtigkeit dargestellt.

Das erste Mal, im Jahre 1836, als eine sehr trübe Flut in der Litteratur sich über uns ergoß, hätte ich gern die Geschichte sprechen lassen. Ich stand im besten Mannesalter. Aber die wesentlichen Thatsachen waren damals noch nicht veröffentlicht. Ich schrieb einige Seiten über die Frauen des Mittelalters und ließ es glücklicherweise dabei bewenden.

Im Jahre 1844 war ich auf dem Lehrstuhle der Moral und Geschichte umgeben von dem Vertrauen der Jugend, und, ich wage es zu sagen, von den Sympathien aller. Ich sah und wußte viele Dinge. Ich kannte die öffentlichen Sitten. Ich fühlte die Notwendigkeit eines ernsten Buches über die Liebe.

Im Jahre 1849, als eben unsere socialen Trauerspiele die Herzen zerrissen hatten, verbreitete sich eine fürchterliche Kälte in der Atmosphäre. Es schien, als ob alles Blut aus unsern Adern sich zurückgezogen hätte. Angesichts dieser Erscheinung, die das Verlöschen alles Lebens zu verkünden schien, wandte ich mich an die geringe Wärme, die noch da war; ich rief, mit den Gesetzen auf meiner Seite, zu einer Erneuerung der Sitten auf, einer Reinigung der Liebe und der Familie.

*

Die Gelegenheit von 1844 verdient, daß ich sie etwas näher beleuchte.

Indem ich meine Erinnerung auffrische und die zahlreichen Korrespondenzen jener Zeit durchmustere, finde ich, daß das eigentümliche Vertrauen, welches mir das Publikum schenkte, daher kam, weil es in mir den wahren Einsiedler entdeckte, der, allem Koteriewesen fernstehend, unberührt von den Fragen der Zeit, sich in seine Gedanken eingeschlossen hielt.

Diese Vereinsamung war indessen nicht ohne ihre Unbequemlichkeiten. Vor allem raubte sie mir das Verständnis für das, was der Augenblick heischte. Es ging mir oft wie den Kurzsichtigen, daß ich an diese oder jene Mauer, diesen oder jenen Grenzstein anstieß. Ich suchte und erfand oft alte, gefundene und bekannte Dinge. Dafür war ich aber auch jung geblieben. Ich hatte einen großem Wert als meine Schriften, als meine Vorlesungen. Ich brachte zu diesen geschichtlichen und moralischen Vorträgen eine noch ungebrochene Seele mit, eine große Frische des Geistes, eine wahre Einfalt des Herzens unter manchmal subtilen Formen, schließlich ein friedliebendes Gemüt in den Streit gegensätzlicher Meinungen.

Woher kam das? Daher, daß ich, von meiner Zeit sehr wenig berührt, die Menschen nicht kannte (und die Bücher nicht eben sehr) und deshalb niemanden haßte. Meine Schlachten waren die einer Idee gegen eine andere.

Das fesselte das Publikum. Es hatte noch nie einen so unwissenden Menschen angetroffen, d. h. einen Menschen, der so wenig von dem wußte, was man sich an allen Straßenecken erzählt.

Da ich keine Kenntnis von den üblichen Formeln und den landläufigen Erklärungen besaß, die mir es leicht gemacht hätten, zu antworten, so war ich genötigt, alles aus mir selbst zu holen, aus mir selbst zu schöpfen, und ihnen, da ich sonst nichts hatte, von meinem Leben zu geben.

Das wollten sie, und sie kamen. Viele enthüllten sich nur, scheuten sich nicht, geheime Wunden zu zeigen, brachten ihre blutenden Herzen. Männer, gegen die Spottlust der Menge stets in Mißtrauen gehüllt, öffneten sich mir ohne Schwierigkeit (ich habe niemals gelacht). Glänzende und deshalb um so unglücklichere Weltdamen, fromme, fleißige, strenge Frauen – ja, darf ich es sagen? selbst Ordensschwestern setzten sich über die thörichten Schranken der Schicklichkeit und Meinung weg, wie man es thut, wenn man krank ist. Seltsame, aber sehr kostbare, sehr rührende Korrespondenzen, die ich mit der Sorgfalt und Achtung, welche sie verdienen, aufbewahrt habe.

Ich hatte mich niemals unter die Leute gemischt, die Leute waren zu mir gekommen. Ich gewann dabei große Einsichten. Geheimnisse unserer Natur, die ich niemals geahnt haben würde, wurden mir mit einemmale enthüllt. Ich wußte deren in wenigen Jahren mehr, als mir das monotone Schauspiel, welches die Salons Abend für Abend darbieten, im Leben gewährt hätte. Ich kannte und sah das Herz des Herzens. Aber um den Hilfesuchenden helfen zu können, war ich genötigt, viel sorgfältiger in meinem eigenen Herzen zu spähen und dort Mittel und Kräfte zu finden. Ich will mich nicht vermessen, zu behaupten, die häufige Berührung mit so vielen leidenden Seelen sei spurlos an mir vorübergegangen. Aber selbst die Erschütterung meiner eigenen Seele war von Nutzen. Der Eindruck, der wahre und tiefe Eindruck, den ihre Geständnisse auf mich machten, war manchmal ein Heilmittel für sie. Mehr als einer fand sich durch die Sympathie, die er bei mir wahrnahm, beruhigt. Ich hatte, in Ermangelung anderer Heilmittel, in meiner eigenen Bewegung gleichsam eine Kunst ohne Kunst, eine moralische Homöopathie.

Ich schämte mich nicht, ein Mensch zu sein.

Ein Arzt aus der Provinz, den ich nicht kannte, schrieb mir eines Tages, daß er soeben seine Braut verloren habe, die er in acht Tagen hatte heiraten wollen, und »daß er in Verzweiflung sei«. Er wollte nichts, verlangte nichts, außer: einem Manne, dem er Herz zutraute, zu sagen, »daß er in Verzweiflung sei«.

Was darauf sagen, antworten? Welche Worte, ach! welchen Trost finden für einen so furchtbaren Schlag? Indessen wollte ich ihm auf der Stelle schreiben und that es, so gut ich konnte. Als ich mich inmitten dieser Arbeit, deren Nutzlosigkeit ich wohl fühlte, unterbrach, seinen Brief noch einmal zu lesen, fühlte ich darin eine solche Fülle untröstlichen Jammers, daß die Feder mir entfiel. Das war kein Brief, das war die Sache selbst, in ihrer ganzen einfachen Fürchterlichkeit; ich sah das ganze Schauspiel – und mein Papier wurde naß und mein Brief wurde verwischt. Aber, gleichviel, unlesbar, wie er war, siegelte ich ihn und so schickte ich ihn dem Manne.

*

Es war nichts Geringeres, als mein Herz, was ich dieser Menge gab. Was gab sie mir dafür als Entschädigung?

In einer noch ziemlich frühen Stunde, als ich in meinem Zimmer arbeitete, läßt sich ein junger, ungeduldiger Mann nicht aufhalten, kommt bis zu meiner Thür, klopft, tritt ein.

»Mein Herr,« sagt er zu mir, »entschuldigen Sie meine so ungewöhnliche Erscheinung; aber Sie werden darüber nicht ungehalten sein. Die Besitzer gewisser Cafés, gewisser bekannter Häuser, gewisser Tanzlokale beklagen sich über Ihre Vorlesungen. Ihre Etablissements, behaupten sie, verlieren dadurch viel. Die jungen Leute sind wie versessen auf ernsthafte Unterhaltungen; sie lassen von ihren Gewohnheiten ... Mit einem Worte, sie lieben auf eine andere Weise ... Jene Bälle laufen Gefahr, geschlossen zu werden. Alle, welche bis jetzt bei den Vergnügungen der jungen Leute gewinnen, glauben sich von einer moralischen Revolution, die sie ohne Zweifel ruinieren würde, bedroht.«

Ich ergriff seine Hand und sagte: »Wenn das, was Sie mir da verkünden, sich verwirklichen sollte, so vernehmen Sie, daß es für mich der Triumph und der Sieg sein würde. Ich will keinen andern Erfolg. An dem Tage, wo die jungen Leute sich zu ernsten Sitten bekennen, ist die Freiheit gerettet. Sollte ein solches Resultat sich herausstellen, und durch meine Unterweisungen, so würde ich es wie die Krone meines Lebens tragen, um sie mit ins Grab zu nehmen.«

Er entfernte sich. Ich aber, allein geblieben, sagte zu mir selbst: Dafür will ich nun, früher oder später, ihnen ein Geschenk machen. Ich werde ihnen das Buch der Befreiung von der moralischen Sklaverei schreiben, das Buch der wahren Liebe.

*

Ich war zu dieser Zeit weit entfernt, die Größe, die Schwierigkeit dieser gewaltigen und tiefen Aufgabe zu ahnen. Ich kannte vor allem die originellen, unerwarteten Wiedergeburten nicht, welche die Liebe in jedem neuen Zeitabschnitte hat. Die Vergangenheit drückte noch zu sehr auf mich; ich konnte mich von der Geschichte nicht frei machen. Ich war der Gefahr ausgesetzt, zu bleiben, was ich bis dahin gewesen war, ein gebildeter Dilettant.

Ich wollte meine Zeit befreien, und meine Zeit war es, die mich befreite. Jene jungen, vertrauensvollen Seelen, die sich mir öffneten und klar vor mir lagen, enthüllten mir vieles. Sie haben mir, ohne es zu wissen, einen Teil des ungeheuern Schatzes von Thatsachen geliefert, aus denen dies Buch hervorgegangen ist.

Aber nichts hat mir mehr genützt, als die Freundschaft derer, welchen man alles sagt, die Freundschaft der Ärzte. Ich habe einige der berühmtesten unseres Jahrhunderts genau gekannt. Ich bin zehn Jahre lang mehr als der Freund – ich wage, es zu sagen – der Bruder eines ausgezeichneten Physiologen gewesen, der sich in den Naturwissenschaften einen tiefempfänglichen Sinn für die moralischen Thatsachen bewahrte.

Ich lerne viel von ihm über viele Dinge, besonders aber über die Liebe.

Eines fiel mir vor allem bei diesem unendlich geistreichen und sehr zartsinnigen Manne auf – die berechnete Vollkommenheit seines häuslichen Lebens. Er hatte eine häßliche, unwissende, aber anmutige, reizende Frau, eine Savoyerin. Er hatte sie dahin gebracht, an seinen Ideen, seinen Untersuchungen, seinen Entdeckungen teilzunehmen.

Er arbeitete ohne großen Aufwand von Instrumenten, ohne Laboratorium neben ihr an seinem häuslichen Herde; er erfand vereinfachte Apparate, um in seinem Zimmer oft komplizierte Untersuchungen anstellen zu können, die ihn, ins Große getrieben, fern von seinem Hause und von ihr gehalten und diese beständige Harmonie der Seelen unterbrochen hätten.

Eine große Prüfung wurde ihm auferlegt. Jene Dame wurde infolge einer Frauenkrankheit wahnsinnig und delirierte ein oder zwei Jahre lang. Er behielt sie bei sich und setzte seine Arbeiten mitten in einer so grausamen Zerstreuung, einer so bittern Seelenpein fort.

Ihr Wahnsinn war sanft genug, aber sie sprach sehr viel. Sie träumte mit offenen Augen. Sie wurde von leeren Schrecken gequält. Sie mischte seltsame Einfälle in jedes Gespräch und erschwerte es sehr, über etwas ungestört nachzudenken. Die Geduld ihres Gatten verleugnete sich nie. Eines Tages drückte ich ihm meine Verwunderung darüber aus. Er sagte zu mir: »In einem Irrenhause, wo man sie entweder schlecht behandelte oder ihre kleinen Wunderlichkeiten nicht ertrüge, würde sie wirklich wahnsinnig werden, und zwar unheilbar. Aber freundlich behandelt, nicht in Schrecken, in Erstaunen gesetzt, nur das Gesicht eines Freundes sehend, stets nur wohlbedachte Worte in logischer Folge hörend, wird sie ohne sonstige Heilmittel über kurz oder lang wieder gesunden.« Und das geschah denn auch.

Ich glaube nicht, daß man ein merkwürdigeres Beispiel von Liebe aufweisen kann. Die jungen Leute glauben in jenem ersten Rausche der Leidenschaft für eine junge, reizende Geliebte, die nur mit Rosen geschmückt ist, Wunder, wie sehr sie lieben. »Sie würden ihr Leben für sie lassen.« Ich weiß nicht. Das Leben hinzugeben, ist oft sehr leicht und die Sache eines Augenblicks, aber die andauernde Milde einer über alles erhabenen Geduld, die jahrelang die Marter einer andauernden Unterbrechung erträgt; die ruhige Kraft, die, ohne zu ermatten, eine arme, irrende, von bösen Träumen gequälte Seele belehrt, beruhigt, wieder zu sich bringt – das ist vielleicht der größte und stärkste Beweis der Liebe. Was mich besonders überraschte, war der Gehorsam, den sie ihm in Sachen, die sie nicht begreifen konnte, leistete. Dies war die Wirkung der vollkommenen Vereinigung, in der sie bisher gelebt hatten, ein Beweis, wie ganz ihre Seele in ihm aufgegangen war. So hinfällig ihr Körper war, und obschon ihr Geist dem Verlöschen nahe, etwas lebte in ihr und überdauerte alles: das Gefühl der Verbindung, das Bedürfnis, zu gefallen – mit einem Worte: die Liebe.

Aus diesem Fall und aus anderen ähnlichen begriff ich, daß es zwischen der Welt der Notwendigkeit, in der die Physiologen leben, und der Welt größerer oder geringerer Freiheit, wo die Moralisten sich aufhalten, eine gemischte Sphäre giebt, welche ich die der freiwilligen Notwendigkeit nennen möchte, das heißt eine Sphäre von Gewohnheiten, die im Anfang gewollt und frei sind und in der Folge durch die Liebe zu einer lieben Notwendigkeit und zweiten Natur werden. Dies zu schaffen, ist die große Aufgabe der Liebe.

*

Ein sehr berühmter Schriftsteller, der neuerdings diese Fragen behandelt hat, will, daß die Frau gehorche, und glaubt, daß sie schon infolge ihrer niedriger organisierten Natur gehorchen werde.

Die Dame, von der ich oben sprach, hält sie in ihrem trefflichen Buche nicht für niedriger, will aber auch, daß sie gehorche. Gleich? und gehorchend? Wie vertragen sich diese zwei Worte? Sie spricht sich nicht deutlich genug darüber aus. Sie verläßt sich hierbei in etwas unbestimmter Weise auf die christlichen Gefühle, auf die Bibel und die göttliche Gnade.

Dieser Punkt ist schwieriger, als beide glauben.

Der Mann muß über die junge Frau und die Matrone über den Mann ein großes, sehr großes Übergewicht haben. Aber, um dies zu bewirken, um zwischen ihnen die wahre Einigkeit herzustellen, um vor allen Dingen den Gang und das Wachsen dieser Vereinigung der Herzen zu bestimmen, dazu bedarf es der Gewohnheit, eines Zusammenwirkens von Gewohnheiten.

Und es giebt eine Methode, die dahin führen kann.

Der materielle Rahmen des Lebens, alle die Formen materieller und moralischer Vereinigung tragen viel dazu bei. Wenn das Wort nicht durch leichtsinnige Werke entwertet wäre, so würde ich sagen: es bedarf einer Kunst zu lieben.

Ich meine damit die Kunst, bis aufs äußerste zu lieben. Die Anfänge sind leicht. Aber ich glaube, daß, wenn diese Kunst der Natur zu Hilfe kommt, sie der Seele in jedem Alter und bis zum Tode das schafft, was ich (im fünften Buche) die Verjüngung der Liebe nenne.

Ich glaube, die alten Frauen gründlich beseitigt zu haben. Sie werden nicht mehr vorkommen.

*

Soll ich über die Form noch ein Wort sagen?

Sie schien mir bei einem durch und in sich selbst so gewichtigen Buche, bei einem in Wahrheit so neuen Gegenstande sehr untergeordnet. Ich habe vorausgesetzt, daß der bei der Sache beteiligte Leser (alle sind es) sich nicht am Stil ergötzen würde. Ich habe gar nicht daran gedacht.

Fern sei von mir jeder Anspruch auf litterarisches Verdienst. Ich habe meinen Weg zurückgelegt, wie ich konnte, »laufend, schwimmend, kriechend, fliegend« (um Miltons Wort zu brauchen). Manchmal wende ich mich an alle, an das Publikum; oft an den einzelnen; oft auch lehre ich in der Form der Erzählung.

Deswegen habe ich zwei junge Leute genommen, die ich verheirate, die ich durch ihr ganzes Leben begleite.

Dennoch ist dieses Buch kein Roman. Ich habe kein Talent zu diesem Fache. Und dann hätte die Form des Romans das Unbequeme gehabt, zu sehr zu individualisieren.

Meine beiden Liebenden haben keine Namen.

Personen mit Namen (wie der Emil, die Sophie Rousseaus) thun den Ideen Gewalt an. Der Leser beschäftigt sich gerade mit dem Unnützen, mit dem scenischen Arrangement, dem Biographischen; er übersieht das Nützliche, den Inhalt. Ich habe es vorgezogen, das Paar nach Gutdünken allein zu lassen, sei es, um ein Wort über die Laster der Zeit zu sagen, sei es, damit an solchen Stellen, wo ich das Bedürfnis fühlte, meine Überzeugungen auszusprechen und meinen Glauben zu bekennen, ich diese oder jene Wahrheit mit meiner Person vertreten, in meinem Namen formulieren könnte.

Soll das heißen, daß der junge Mann, der überall in dem Buche erscheint, nicht existiere? Durchaus nicht. Er existiert, und der stärkste Beweis dafür ist, daß ich im Begriff bin, zu ihm zu reden.


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