Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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V. Je enger der häusliche Kreis, desto besser.

Liebe erweckt Gegenliebe und nimmt stetig zu. Das Geheimnis, sich sehr zu lieben, besteht darin, sich sehr viel miteinander zu beschäftigen, viel zusammen zu leben, so nahe wie möglich, so viel wie möglich.

»Wie! und wenn man sich langweilte, so wäre das Gegenteil der Fall, so würde man anfangen, sich zu hassen?« Ja, wenn ein Wechsel von Einsamkeit und dem Treiben draußen, wenn das wirre, müßige, in Kontraste zerstückelte Leben die Seele nicht zur Ruhe kommen läßt; aber nicht, wenn eine einige, einfache, zwischen Liebe und Arbeit geteilte Existenz die eitlen Zerstreuungen ausschließt und euch mehr und mehr in die beständige Vereinigung zusammendrängt, wo der eine nur in dem anderen, durch den anderen, mit dem anderen denkt, lebt und genießt.

In der alten Stadt Zürich hörte der Magistrat, wenn zwei in Unfrieden lebende Ehegatten kamen, auf Scheidung anzutragen, sie nicht an. Bevor er seinen Spruch gab, schloß er sie drei Tage in ein Zimmer ein, in welchem sich nur ein Bett, ein Tisch, eine Schüssel, ein Glas befand. Man reichte ihnen die Nahrung, ohne sie zu sehen, ohne mit ihnen zu sprechen. Wenn man ihnen nach drei Tagen das Zimmer öffnete, wollte keines von ihnen mehr von dem anderen geschieden sein. Schon die Verteilung unserer Zimmer in den modernen Häusern macht eine Vereinigung unmöglich. Diese Menge von kleinen Räumen teilt den Haushalt, zersplittert die Familie, isoliert die Gatten. Dafür bringt uns das Übereinandertürmen von Stockwerken in den ungesunden Kasernen, in die wir uns einschließen, alle Augenblicke mit Fremden in Berührung.

Der Herr arbeitet in seinem Zimmer, Madame langweilt sich oder schwatzt mit Frauen, die sich Freundinnen nennen, – auch in ihrem Zimmer Er muß eine Arbeitsstube haben; sie ein Boudoir (Schmollwinkel) – sehr bezeichnend; zwei Schlafstuben, so daß man sich zu jeder Stunde ignorieren und ausweichen, sich zur Not voreinander abschließen kann. Kaum daß sie der Speisesaal, das Wohnzimmer auf Augenblicke vereinigt; aber die Besucher, die Gäste nehmen sie in Anspruch und gönnen ihnen keine Ruhe; man hat nicht nötig, sich zu sprechen, kaum, sich zu sehen. Ich rate den Gatten, klüglicherweise Riegel an ihre respektiven Thüren machen zu lassen um sich voreinander sicher zu stellen.

Weshalb die Scheidung wieder einführen? eine solche Ehe kommt auf dasselbe hinaus.

*

Ach! sollte nicht, wer liebt, die Wohnung des Tischlers, meines Nachbars, beneiden, der überhaupt nur ein Zimmer hat! Während er hobelt, singt seine Frau, die Wäscherin ist und den ganzen Tag plättet. Manchmal vergaß ich, was ich vorhatte, um ihrer starken, wohlklingenden, frischen und reinen Stimme zuzuhören. Sie sang manchmal sehr laut und störte mich ein wenig, aber doch sagte ich: »Singe, singe, arme kleine Lerche!«

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»Ein Tischler – da mag das gehen. Aber meine Arbeiten sind so bedeutender Natur, behandeln so wichtige Gegenstände ... Ich, ich bin ein Denker. Jede Störung zieht mich ab von meinen tiefen Meditationen.« Tiefe Meditationen. Sehr tief; zu tief – vielleicht auch hohl. Eure Werke, die Werke dieser Zeit, sind meistens unfruchtbar, geistreich, ich gebe es zu, aber so leblos, so trocken, so selten rein menschlich. Der Autor verliert in jedem Augenblicke die Welt des Herzens und des gesunden Menschenverstandes aus den Augen.

Ein wahrhaft menschliches Werk, ein starker, lebhafter Gedanke, ein Gedanke, der Nerv hat, – läßt sich nicht so leicht verwirren. Sein mächtiger Schwung reißt mit sich fort, und eignet sich an und assimiliert sich alles, was ihn hätte stören können. Um wie viel leichter, wenn das, was man Störung nennt, das Herz eures Herzens ist, eure Liebe und die geliebte Frau. Alles das ist nur eines, macht nur eines. Kann sie von einer Arbeit abziehen? kann eine Arbeit von ihr abziehen? Beides ist unmöglich. In den scheinbar entlegensten Gegenstand mischt sie sich noch durch die Wärme der Liebe, welche von ihr in ihn überströmen wird.

*

Ich habe die niederländischen Gemälde gern; ich finde dort in jedem Augenblick jenes reizende Durcheinander von Studium und Häuslichkeit, durch welches diese geadelt, jenes erwärmt und befruchtet wird. Jedermann hat im Louvre den heiligen Joseph von Rembrandt gesehen. Aber ich bin nicht minder entzückt von seinem kleinen Philosophen. Bei einem bleichen Sonnenuntergänge sitzt ein Greis nahe an einem Fenster, in welchem ein großes Buch liegt; er liest nicht mehr, aber er meditiert und brütet über seinen Gedanken. Scheinbar hat er die Augen geschlossen, aber er sieht alles. Er sieht die gute Dienerin, welche das Feuer anschürt. Er sieht seine Hausfrau (die sich kaum von dem dunkeln Hintergrunde abhebt) die gewundene Treppe herabkommen. Man ahnt, daß diese friedlichen Bilder sich mit dem Frieden seiner Gedanken mischen. Hinter ihm enthält ein verschlossener Keller einige Fäßchen alten, guten Weines, der manchmal sein gutes altes Herz erfreut. Da habt ihr den vollen Menschen, der die Weinlese seines Lebens gehalten hat und nun den Most in Wein verwandelt.

Wenn jenes Buch die Bibel ist, so bin ich überzeugt, daß der gute Mann sich das beste daraus nimmt. Er ist dazu angethan, Tobias, Ruth und die Patriarchen zu verstehen. Er wird seine Zeit nicht über eitlen und unfruchtbaren Dingen verlieren, und nicht, wie gewisse andere, nach dem Geschlecht der Engel forschen. Derselbe Mann hätte in einer Klosterzelle wie Skotus oder St. Thomas die Bibel kommentiert, mit subtiler Gelehrsamkeit jedes Härchen spaltend und alles Leben sorgfältig tötend. Hier ist das Gegenteil der Fall, und weshalb? Der Haushalt, die Familie, die Liebe führen ihn stets zu der Wirklichkeit zurück. Alles, was in der Geschichte jener grauen Tage zum Herzen spricht, das wird in ihm wieder jung und neu, denn er belebt es mit seinem Herzen.

Ein Umstand, den zu beobachten uns entzückt, und den ich oft voller Freude bei meinen fleißigsten Freunden gesehen habe, ist die unendliche Zartheit, mit welcher die junge Frau in einem engen Lokale geht und kommt und sich um den Arbeitenden herum bewegt, ohne ihn jemals zu stören. Jeder andere hätte es gethan; aber » Sie,« sagt er, »sie ist niemand ...« In der That, sie ist er selbst noch einmal, eine zweite, bessere Seele.

Sie hält ihren Atem zurück und geht auf den Zehen. Leicht, wie sie ist, schwebt sie über den Boden. Sie hat solche Achtung vor der Arbeit! ... O, mit Bewunderung muß es uns erfüllen, zu sehen, welch zartes, seines und vor allem liebevolles Wesen die Frau ist, sie, die keinen Augenblick gerne ohne den Geliebten zubringt. Wenn er sie duldet, wird sie still, ganz still, nähend oder stickend in einem Winkel sitzen bleiben. Wo nicht, so wird sie tausend Gründe finden, die es ihr notwendig machen, in das Zimmer zu kommen. »Was thut er? und wie weit ist er? ... Er arbeitet vielleicht zu viel! er wird sich krank machen!« Dies alles beschäftigt sie fortwährend.

Es giebt sehr viele Studien, wo sie sehr viel mehr hinzubringt, als sie zu nehmen imstande ist. Glaubt ihr, daß die reizende Elektricität, die von ihr ausströmt, wenn sie vorbeigeht und ihr Gewand euch leicht streift, für den Künstler, den Schriftsteller verloren ist? In die unfruchtbare, trockene Arbeit, die nicht von der Stelle wollte, mischt sich dieser Duft aus der Blume der Liebe, der alles wieder belebt. So legen die alten italienischen Gemälde in einen Totenschädel die Centifolie. Der Tod selbst verliert dadurch sein Schreckliches.

Wie glücklich macht es ihn, zu fühlen, daß sie da ist! ... Er thut, als ob er sie nicht sähe. Er bleibt über seine Arbeit gebeugt, wie darin versunken ... Aber sein Herz strömt über und er ruft: »O Liebe, o Holde, o meine Rose, komm nur frei heran ... Deine harmonischen Bewegungen, deine melodische Stimme, die mein Ohr entzückt, – sie entzücken auch mein Werk, und es wird deine Anmut, das Feuer meines bebenden Herzens haben.«

»Noch hatte ich dich nicht in diesem Zimmer gesehen, als ich deine Nähe an der Wärme meiner Arbeit spürte, an dem neuen, hellen Lichte, das sich in meiner Seele entzündete.«

»Und nach tausend Jahren wird man sagen: O des lebensvollen, liebevollen, noch glühenden Werkes! ... Aber das macht, sie war bei ihm!«


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