Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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IX. Wer bin ich, daß ich eine Frau schaffen könnte?

Dies ist der furchtsame Einwurf, den mehr als einer machen wird. Die Männer, sonst so prahlerisch, gestehen hier ihre Schwäche. Die Schwierigkeit, die Unendlichkeit dieses Werkes beunruhigt sie.

An ihnen Lippen, sehr wohl; ihnen die Lust einer Nacht verdanken, vortrefflich; aber die fleißige, beharrliche Erziehung einer Seele erschreckt sie, und sie ziehen sich zurück.

»Ich bin nicht besonders dazu angethan. Mitgenommen von dem Leben, einer überstrengen Erziehung und durch die darauf folgende gewaltsame Reaktion der Ausschweifung, fühle ich mich wenig fähig, jene Jungfrau in die Hand zu nehmen, jenes junge Herz voller Liebe, das mich zu seinem Gott, zu seinem Schöpfer hienieden haben will ... Besitze ich denn genug Einsicht? ach! und auch nur Liebe genug? Habe ich mir den Sinn für die Liebe bewahrt?«

»Nein, verachte dich nicht! mißtraue dir nicht! Wolle und beharre! Du kannst noch großes in der Liebe und im Leben. Die eitle Vergangenheit, die dich verfolgt, – das alles war keine Liebe. Du bist noch nicht so weit gekommen, sie auch nur zu ahnen. Dieser Sinn schläft; aber er ist vorhanden, er ist der Sparpfennig Gottes. Und selbst in der Prostituierten ist dieser Sinn noch nicht erstorben. Je tiefer der Abgrund, desto tiefer die Sehnsucht nach dem Himmel.

*

Wenn du in der beständigen Gesellschaft deiner Braut nichts außer dem bißchen Vergnügen suchen dürftest, so würde deine Seele bald erschlaffen; zwischen dich und sie würde sich die Langeweile setzen. Aber hier ist das nicht möglich. Siehe, mit welchem Vertrauen sie sich dir hingiebt, um ganz du selbst zu werden! Dieses Werk der Umwandlung, dieser süße Fortgang der Vermischung wird in eurer Verbindung die Flamme des ersten Tages Heller und Heller brennen machen. Und wie wäre es möglich, nicht immer mehr zu lieben, wenn du dich in ihr besser und reiner fühlst? wenn in jedem Augenblicke aus ihrem keuschen Herzen dir die Strahlen deiner ursprünglichen Natur, des schönen jungen Lichtes entgegenleuchten, welches an deiner Wiege glänzte, welches in dir verdunkelt war, und dir diese süße Seele jetzt nur noch schöner zurückgiebt?

So wolle denn nicht, wenn sie mit vollem Herren kommt und sich dir geben will, thöricht zurücktreten und mit einer feigen und verdammenswerten Demut sagen: »Ich fühle mich nicht würdig.« Es steht dir gar nicht zu, so zu sprechen. In der Liebe giebt es nichts Halbes, nichts Mittelmäßiges. Wer die Frau nicht stark und mächtig umfängt, wird von ihr weder geachtet noch geliebt. Er langweilt sie und die Langeweile ist bei ihr nicht fern vom Haß. Sie entzieht sich ihm (zum wenigsten im Herzen), und nicht bloß sie, auch die Kinder; die ganze Familie wird einander fremd, feindselig.

*

Du fragst, welche Rechtstitel du hast, dich ihrer so ganz zu bemächtigen? Ich will sie dir nennen.

Der erste und stärkste ist das lebhafte, überströmende Glück, welches sie selbst empfindet, in der Ehe sagen zu können: »Ich gehöre dir.«

Sie fühlt sich dann frei, vorausgesetzt, daß du ihr Herr bist. Frei, wovon? soll ich es sagen? Von ihrer Mutter, die, trotz aller Liebe zu ihrer Tochter, sie bis zu ihrem zwanzigsten Jahre wie ein kleines Mädchen behandelt hat und bis zum dreißigsten immer so behandeln würde. Die französischen Mütter sind entsetzlich. Sie beten ihr Kind an, aber sie führen Krieg mit ihm, erdrücken es durch den Glanz, die Macht, den Reiz ihrer Persönlichkeit. Sie sind viel anmutiger, oft sogar viel hübscher, vor allem jünger, sehr jung. So lange ein Mädchen bei ihrer Mutter ist, kann sie jeden Abend das Vergnügen haben, die Männer unter sich sagen zu hören: »Die Kleine ist nicht übel, aber was ist sie im Vergleich mit der Mutter!«

Reich oder arm – sie nähren sich meistens sehr schlecht, und sehr schlecht auch ihre Tochter. Aber die Mutter, die ganz Grazie, ganz Geist und Leben ist, kann der Frische entbehren. Die Tochter hätte sie nötig. Die knappe Kost läßt sie bleich, schmächtig und ein wenig mager. Die arme junge Dame verlängert nicht selten das undankbare Alter bis zur Ehe. Dann endlich wird sie, durch dich beglückt, vollere Formen bekommen, und sie wird dir ihre Schönheit verdanken. Wenn du dich viel mit ihr beschäftigst, wenn du sie sanft und doch mächtig in deine Liebe hüllst, so wird sie aufblühen, deine junge Rose, frischer noch und jungfräulicher, als zur Zeit ihrer traurigen Jugend.

Schön sein, und es durch die Liebe sein, welches Glück! Ich verzichte darauf, das Übermaß ihrer Dankbarkeit zu schildern. Schön sein, ist denn das nicht für eine Frau das Paradies, ist es nicht alles? Wenn sie fühlt, daß sie ein so köstliches Geschenk dir verdankt, wie leicht wird sie dir in allem übrigen nachgeben; wie wird es sie entzücken, daß du Herr bist, alles entscheidest und bestimmst und ihr so oft als möglich die Anstrengung ersparst, wollen zu müssen!

Sie wird die Wahrheit bald erkannt haben, daß du ihr Schutzengel bist, daß die zehn oder zwölf Jahre, die du mehr hast, deine Welterfahrung, dich tausend Dinge erkennen lassen, tausend Gefahren, gegen die ihre achtzehn Jahre, ihre halbe Gefangenschaft als junges Mädchen sie blind ließen, und in die sie aller Wahrscheinlichkeit nach kopfüber stürzen würde.

Zum Beispiel: nach derselben Mutter, von der frei zu sein sie so oft wünschte, sehnt sich die Tochter jetzt, besonders im Augenblick des Scheidens. »Wenn wir alle zusammen leben könnten, Lieber...« Dieses Wort, dieser Wunsch entschlüpft sehr oft dem guten Herzen der jungen Frau. Der Gatte weiß besser als sie, daß nichts verderblicher wäre, daß alle dadurch elend würden und ein Leben voller Zwang und Zwietracht das notwendige Resultat.

»Aber wenn ich zum wenigsten meine Bonne hätte, die mich so liebt und die so geschickt ist, meine Julie! Sie allein versteht es, mich anzukleiden ...« Auch hier ist er es, der sie von einem thörichten Schritte zurückhält. Er setzt es durch, daß man die gewandte und schlaue Kammerfrau nicht mitnimmt, die sie verzieht und der wahre Nebenbuhler des Mannes sein würde, ihm schmeichelnd, sie unter der Hand gegen ihn bearbeitend, die gefährliche Vertraute der kleinen Verdrießlichkeiten der jungen Frau, und nach und nach Herrin, die wahre Herrin im Hause. Glücklicherweise sieht der junge Mann das schon von weitem und erlangt es denn auch, daß man ihm erlaubt, die glatte Schlange nicht bei sich aufzunehmen.

*

Das sind sehr wichtige Punkte, bei denen die Meinungen ein wenig auseinandergehen. Manchmal wendet sie sich auch ab und vergießt einige Thränen, dabei immer zugebend, daß du mehr Erfahrung, daß du ohne Zweifel Recht hast.

Und wenn du in diesen Dingen den Sieg davonträgst, wie viel leichter in den übrigen! Sie erkennt ohne Schwierigkeit, daß du in Geschäften, Geldsachen, Ideen weiter siehst und mehr weißt, und vor allem, daß dein Geist zu ganz anderen und bedeutenderen Anstrengungen befähigt ist.

Der Umstand allein, einen Beruf, eine besondere Kunstfertigkeit zu haben, giebt dem Manne ein großes Übergewicht. Da bedarf es einer vorhergehenden Gymnastik, da muß man die Steifigkeit seiner Bewegungen gebrochen, seine Fähigkeiten zum Handeln geschult, bearbeitet, gekräftigt haben. Beim Schmieden schmiedet man sich selbst. Man lernt besonders bei der Gelegenheit, daß, um Erfolg zu haben, um ein Werk zu vollenden, Ausdauer, Gewissenhaftigkeit, der ernste Wunsch, es gut zu machen, und eine große Genauigkeit nötig sind. Die Frauen wären zu dieser Genauigkeit berufen und haben sie doch so selten. Das kommt daher, weil ihre Kraft, zu wollen, unausgebildet bleibt.

Auch darf nicht verschwiegen werden, daß die junge Frau durch das Blut ein wenig ermüdet und oft aufgeregt ist. Jene züchtigen, reizenden Rosen, die so oft auf ihren Wangen erblühen, sind ihr Schmuck, aber auch ihre Schwäche. Sie machen sie wenig fähig zu einer fortgesetzten Aufmerksamkeit. Daher kommt es auch, daß diese deine geliebte Frau, wenn man sie nur gewähren ließe, nur zu sehr die Neigung hat, sich ganz auf dich zu stützen, dir zu sagen: »Denke für mich,« wie ein Kind, das schon nach zehn Schritten ermüdet, will, daß seine Mutter es trage. Aber das darf man nicht zugeben. Man muß die schöne Träge leiten, unterstützen, ihr aber nicht das Gehen ersparen.

Hier oder nie, mein Freund, wirst du eine Gelegenheit haben, zu erfahren, ob du ein Mann von Geist bist. Das geliebte Kind stellt dir, ohne es selbst zu ahnen, die schwierigste der Aufgaben: ob du den scholastischen Formeln, in denen du erzogen bist, wirst entsagen; ob du die strenge, abstrakte Wissenschaft aus dem Zustande des durchsichtigen Krystalls in den Zustand des warmen Lebens wirst verwandeln, und aus dem Diamanten eine Blume machen können, sie deinem Kinde zu geben.

O, der großen, der schönen Aufgabe! Wie schwierig ist sie, aber auch von welchem Nutzen für dich! Nur so kannst du erfahren, ob du wirklich etwas weißt, ob du wirklich in jener Wissenschaft Meister bist, die man dir überlieferte, die aber noch nicht mit dir verschmolzen, noch nicht auf deinem eigensten Wesen basiert war. Jetzt kannst du es erfahren, wenn deine Wissenschaft sich mit dem wärmsten Blute in deinen Adern vermischt haben, wenn sie glühend durch dein Herz, durch deine Liebe geströmt sein wird.

*

Ich bin weit entfernt von aller Streitsucht. Mein Herz ist hier zu voll, um eine Abschweifung zu machen und denen zu antworten, die dich dadurch entmutigen möchten, daß sie mit dem Lächeln der Überlegenheit sagen: es ist unmöglich, die moderne Wissenschaft, die noch so wenig Geschlossenheit hat, zu so lebensvoller Simplicität zurückzuführen, daß sie der Frau, dem Ungelehrten, dem Kinde überliefert werden könnte.

Ein Wort wird genügen.

Der moderne Geist hat nur zwei Seiten:

Die Wissenschaften des Lebens, welche die der Liebe sind. Sie lehren uns, daß das Leben überall dasselbe ist, lehren uns die gemeinsame Abstammung, die Brüderlichkeit aller Wesen.

Die Wissenschaften der Gerechtigkeit, welche die Nächstenliebe im höchsten Sinne, die unparteiische Liebe sind. Hier haben wir die Brüderlichkeit noch einmal.

»Sind das zwei verschiedene Dinge?« Nein, sie sind nur eines. Die beiden großen Tempel Gottes, an denen wir seit dreihundert Jahren bauen, sie gipfeln zusammen, sie sind nur ein Tempel in der höchsten Höhe, sie umarmen sich, wo sie dem Himmel am nächsten sind.

Je mehr sich das Recht vertieft hat, je humaner es geworden ist, um desto inniger hat sich die Brüderlichkeit, welche die Gerechtigkeit lehrt, mit der Brüderlichkeit vereinigt, welche die Natur- und medizinischen Wissenschaften, die Wissenschaften des Lebens, der Liebe und des Erbarmens anstreben.

Das ist die moderne Wissenschaft, die eine, ungeteilte, zweigeschlechtliche. Du erkennst sie durch die Gerechtigkeit und die Wahrheit, durch die Ordnung und die Harmonie. Und sie, deine junge Schülerin, sie fühlt sie durch die Zärtlichkeit, durch das Erbarmen. So ist die Liebe eure gemeinschaftliche Lehrerin.

*

Junger Mann, nicht wahr? du willst geliebt sein? die Frau erobern?

Nun wohl! dann sei Mann! Ich meine, bewahre dir über der (nötigen und nützlichen) Einseitigkeit des Berufs das hohe Gefühl für die lebensvolle Einheit, die Allliebe für das All. Dadurch allein wirst du es wert bleiben, geliebt zu sein; groß und edel und voller Macht über die Frau, die nur Liebe und Leben ist.

Wenn du zum Beispiel die Rechte studierst, geh des Abends, geh des Sonntags in den Tempel der Natur, ich meine in den Jardin des plantes. Dein Freund, der junge Arzt, führe dich an den Seciertisch, lehre dir, was der Tod ist.

Und wenn du Arzt bist, auch dann halte manchmal inne. Du siehst der Leiden nur zu viele. Lerne ihre socialen Veranlassungen kennen. Unterrichte dich dann und wann über die große Heillehre der Billigkeit, der bürgerlichen Ordnung, welche die Hospitäler entvölkern würde, über das auf Gerechtigkeit basierte Gemeinwohl, welches in der Beglückung seiner Bürger seine Heilkraft sucht und findet.

*

Und sei überzeugt, mein Freund, daß du hier verstanden wirst; denn deine Frau ist ganz Erbarmen, ganz Zärtlichkeit und des Glaubens voll.

O, wie gern glaubt sie dir, wenn du zu ihr trittst, das Herz voll von neuen, verjüngenden, rührenden Wahrheiten! Wunderlicher Kontrast! deine Jungfrau, deine Braut von sechzehn Jahren kommt, wenn du auf ihren Geist, ihre byzantinische Erziehung siehst, zu dir alt und welk, mit den Runzeln des Mittelalters. Du, im Gegenteil, der Bürger einer neuen Zeit, in deinen Ansichten, deiner Wissenschaft, deinen Ideen, du trittst zu ihr – frisch und stark, voll blühender Jugend. – Unglaubliche Macht der Liebe, und wie – wie sehr wirkt sie zu deinem Glück!

Durch einen unschuldigen Irrtum, der in ihrer Liebe und Dankbarkeit seinen Grund hat, schreibt sie dir alles zu, was der Geist der Zeiten hervorbrachte. Sie liebt dich um Linnés und des enthüllten Geheimnisses der Pflanzen willen. Sie liebt in dir die funkelnden Diamanten des Himmels, die Galilei entdeckte. Sie liebt in dir selbst noch die Wissenschaften des Todes, die uns das tiefe Mysterium der Liebe erschlossen und im Widerspruch mit der barbarischen Impietät des Mittelalters gesagt haben: »Die Frau ist rein.«

Finde dich darein, mein Freund. Von dir kommt alles, du hast das Verdienst von allem. Du hast jedes Ding gemacht und jede Wissenschaft. Sie wagt es nicht, zu denken; ihre Liebe denkt für sie; denn da du ihr Schöpfer bist, so bist du auch der Schöpfer der Welt; Welt und Gott, alles versinkt in dir.


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