Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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II.

So lange die notwendige, unveränderliche Seite der Liebe nicht aufgehellt war, wußte man nicht genau, wo ihre Freiheit anfing, ihre spontane, persönliche und veränderliche Thätigkeit. Die Frau war ein Rätsel. Man konnte ohne Ende darüber schwatzen und das Für und Wider erörtern.

Da trat unter diese Schwätzer einer und schnitt die Debatte ab: einer, der viel davon weiß, der Bruder der Liebe: der Tod.

Diese beiden, scheinbar sich entgegengesetzten Mächte gehen immerdar zusammen. Sie streiten, aber mit gleichen Kräften. Die Liebe tötet den Tod nicht, der Tod tötet die Liebe nicht. Im Grunde verstehen sie sich vortrefflich. Sie erklären sich gegenseitig.

Bedenkt, daß hier, wo es galt, das noch warme Leben zu, erfassen, nur der plötzliche, grausame Tod helfen konnte, der gewaltsame Tod. Er ist es vor allem, der uns belehrt. Die Hingerichteten haben das Geheimnis der Verdauung enthüllt, und die Frauen, die sich den Tod gaben, das der physischen Liebe und der Zeugung.

Man mußte einen Ort haben, wo der gewaltsame Tod alltäglich war, wo der Selbstmord unaufhörlich der Beobachtung eine ungeheure Menge von Frauen lieferte, Frauen von jedem Alter, und die meisten in den Stadien ihrer Leiden: diese in dem Moment des Monats, wo die Natur sie exaltiert; jene, schwanger, die mit ihrem Kinde sterben wollten; Jungfrauen endlich, arme Blumen, die an der Liebe verzweifelten.

Ich weiß nicht die ganze Zahl für Paris. Aber der Ort in Paris, wo man die Leichname derer ausstellt, welche nicht in ihrer Wohnung sterben, die Morgue, nimmt jährlich fünfzig auf. Das giebt fünfhundert in zehn Jahren! – eine ungeheure Zahl, wenn man ihre natürliche Zaghaftigkeit bedenkt und die außerordentliche Furcht, die sie vor dem Tode haben.

Und in welchen Monaten ist dieser gewaltsame Tod der Frauen am häufigsten? In den schönen Monaten, wo sie bitterer ihre Verlassenheit empfinden, in den sonnigen Monaten, wo die Frau liebt. Denn es ist ein wesentlicher Punkt, daß die Liebe, die Zeugung von dem Manne mehr in den Festen des Winters und nach den fröhlichen Gelagen gesucht wird; von der Frau in der Zeit der Blumen, unter den reineren Einflüssen der verjüngten Natur, der Sonne und des Frühlings. Dann ertragen sie weniger leicht den Schmerz der Vereinsamung, ihr trostloses Elend, und sie wollen lieber sterben.

Die statistischen Tabellen lassen das nicht erkennen. Sie rangieren ohne weiteres die Mehrzahl derer, die so in der Exaltation der Liebe sterben, unter die Rubrik: temporärer Wahnsinn.

*

Seit dem Anfang des Jahrhunderts war die Wissenschaft der großen Entdeckung auf der Spur. Geoffroy Saint-Hilaire und Serres begründeten die Lehre vom Embryo. Baër (1827) begann die Lehre vom Ei, ihm folgten Négrier und Coste. Im Jahre 1842 gab Pouchet von Rouen der Wissenschaft eine Form und stellte sie für die Zukunft in kühner Größe hin.

Er hatte seine Beobachtungen fast nur an Tierweibchen angestellt, und nur beiläufig an der Frau selbst. Der geistreiche und gelehrte Coste und sein geschickter Mitarbeiter Gerbes (ein ausgezeichneter Anatom) hatten den Ruhm und das Glück, die ganze Wahrheit zu erkennen. Während eines Zeitraums von zehn Jahren ungefähr (seit der Errichtung des Lehrstuhls für die Ovologie bis zur Herausgabe des unvergleichlichen Atlas, der diese Entdeckungen vervollständigt), haben sie in dem Tode lesen können, und Hunderte von Frauen haben ihnen das tiefste Geheimnis der Liebe und des Schmerzes enthüllt.

*

Welches ist nun das Resultat dieser ernsten Betrachtung? Was gewinnen wir aus diesem ungeheuern und entsetzlichen Schiffbruch von Frauen, aus diesen Leichen, welche uns jedes Jahr die Vereinsamung, die Verlassenheit, die betrogene Liebe an den Strand spülen?

Was aus diesem Schiffbruch bleibt, ist eine große Wahrheit, welche die Vorstellung, die man sich von der Frau machte, unberechenbar verändert.

Gerade das, was das Mittelalter verhöhnte und schmähte und ihre Unreinheit nannte, ist ihre heilige Krisis; ist, was sie zu einem Gegenstande der Verehrung, was sie unendlich poetisch macht. Die Liebe hatte es immer geglaubt, und die Liebe hatte Recht. Die alberne Wissenschaft von früher hatte Unrecht.

Aber die Frau schmachtet unter der Wucht einer ungeheuern Notwendigkeit. Die Natur begünstigt den Mann. Sie übergiebt sie ihm schwach, liebend, abhängig von einem fortwährenden Bedürfnis, geliebt und beschützt zu werden. Sie liebt von vornherein den, welchem Gott sie zuzuführen scheint. Um sich nicht vertrauensvoll hinzugeben, sich zu verteidigen, sich zu halten auf dieser abschüssigen Ebene, dazu bedarf sie weit mehr Seelenstärke, als wir jemals nötig haben, und zehnmal mehr Tugend. Welche Verpflichtung für uns! Die Natur verläßt sich bei der Hilflosigkeit ihrer unschuldigen Tochter auf den Adel des Mannes.

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Aber dies ist noch mehr. Thatsachen, die aus einer anderen Quelle stammen (Lucas 2, 60), fangen an, es festzustellen, daß die Vereinigung in Liebe, der sich der Mann so leichtsinnig überläßt, für die Frau sehr viel tiefer und entscheidender ist, als man jemals glauben konnte. Sie giebt sich ganz und ohne Rückhalt. Das bei den Tierweibchen beobachtete Phänomen findet sich weniger regelmäßig, aber es findet sich doch bei der Frau. Die Befruchtung verändert sie nicht bloß vorübergehend. Die Witwe giebt ihrem zweiten Gatten häufig Kinder, die dem ersten ähneln.

Das ist groß und furchtbar. – Das Resultat ist von ungeheuerm Gewicht für das Herz des Mannes. Wie! Die Natur hat so viel für ihn gethan, ihn bis zu diesem Grade begünstigt! Und er, der die Gesetze macht, er hat sich selbst begünstigt, er hat sich auf diese Weise gegen ein schwaches Wesen bewaffnet, das sich ihm hingeben muß! Wie groß müßte bei diesem doppelten Vorteil seine Milde gegen die Frau sein, wie zärtlich sein Schutz!

Diese Ebbe und Flut ihrer Lebenskraft, diese gründliche Wiedererneuerung, die sie mit so viel Schmerzen erkauft, macht aus ihr das sanfteste, das bestimmbarste der Wesens sobald man sie liebt und schirmt und vor schlechten Einflüssen bewahrt. Jede Thorheit der Frau ist eine Dummheit des Mannes.

Welche tiefe Harmonie, welche bewunderungswürdige Regelmäßigkeit beherrscht doch die große Bewegung des Lebens und der Ideen! Verwirrt, so scheint es, und ganz zufällig, drängen sich die Einzelheiten. Tretet weiter weg, seht das Ganze, und ihr seid mehr als überrascht, ergriffen von der wunderbaren Zweckmäßigkeit, mit welcher ganz verschiedene, scheinbar in gar keinem Zusammenhange stehende Dinge, von denen das eine das andere nicht kennt, aufeinander wirken und miteinander schaffen und bauen an dem ewigen Kunstwerk.

In dieser Periode von zwanzig Jahren, wo durch die Wissenschaft die physische Abhängigkeit der Frau so schlagend dargethan wurde, brach sich ihre freie Persönlichkeit nicht weniger mächtig in der Litteratur Bahn. Auf jenes Naturgesetz, das sie dem Schmerz unterjocht und aus ihr eine leidende Sache macht, antwortet sie: Nein, ich bin eine Seele!

So steht sie denn entschleiert da in ihrer Unterthänigkeit unter zwingende Gesetze, wie in ihrer freien Persönlichkeit. In demselben Maße, in welchem sie uns einerseits rührt, fordert sie andererseits unsere Achtung, unsere Bewunderung. Von zwei Seiten öffnet sich uns ein unerwartetes Glück, das Glück, inniger zu lieben – eine unendliche Perspektive in die Vertiefung der Liebe.

Wer leugnete die neue Macht, welche die Frau entfaltet hat! Der größte Prosaist des Jahrhunderts ist eine Frau, Madame Sand. Sein glühendster Poet ist eine Frau, Madame Valmore. Den größten Erfolg in unseren Tagen hat das Buch einer Frau gehabt, der Roman der Madame Stowe. Er ist in alle Sprachen übersetzt, wird überall auf der Erde gelesen und ist für eine ganze Rasse das Evangelium der Freiheit geworden.

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Wenn die ersten Worte der Frau Stimmen des Aufruhrs schienen, wer könnte ihn mißverstehen, diesen Schmerzensschrei der armen Kranken in der Aufregung ihres Erwachens? ... Liebt sie, hegt und pflegt sie! Ach, wie gern gäbe die stolzeste von ihnen allen Ruhm der Welt für einen Augenblick wahrer Liebe hin! Das Buch, in welches die Frau schreiben will, das einzige Buch – es ist das Herz des Mannes. In dieses Buch möchte sie schreiben mit flammenden, unverwischbaren Lettern.

Der Glanz und der Lärm dieser litterarischen Erfolge haben uns die wirklich vorgegangenen Veränderungen zu groß erscheinen lassen. Die Frau blieb, was sie war. So wie die moderne Wissenschaft sie uns zeigt, mit der stets blutenden Wunde der Liebe in ihr, weich durch das Leiden, glücklich, wenn sie sich stützen kann – so war sie, so wird sie sein. Überall, wo sie auf sich beschränkt ist, wo die Welt sie nicht verdirbt, ist sie ein gutes, gelehriges Wesen, das sich gern unseren Gewohnheiten, die ihr oft sehr zuwider sind, fügt, das den rauhen Willen des Mannes schmeidigt, ihn civilisiert und veredelt.

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Die Frauen und die Kinder bilden eine Aristokratie von Anmut und Reiz. Die Sklaverei des Handwerks erniedrigt den Mann und macht ihn oft einseitig und plump. Die Sklaverei der Frau ist nur die der Natur, ist keine andere als ihre Schwäche, ihre Hinfälligkeit, die sie rührend und poetisch machen.

Correggio malte stets (und unersättlich) sehr junge Kinder in dem Augenblicke, wo, nachdem der Säugling das Stadium des rein vegetativen, willenlosen Daseins durchgemacht hat, in dem kleinen Wesen der erste Strahl seiner kleinen Freiheit aufblitzt. Sie zeigt sich dann in seinen netten Bewegungen mit unsäglicher Anmut. Das Kind ist anmutig, weil es sich frei fühlt, und weil es sich geliebt fühlt, weil es aus Instinkt weiß, daß es alles thun darf, was es will, und daß man es deshalb nur noch mehr lieben wird. Die Mutter ist nicht minder köstlich in diesem ersten Entzücken: »Ha! wie lebhaft es ist! ha! wie stark es ist! ... es kann mich schlagen!« So ruft sie. Sie ist glücklich; sie betet es an in seiner Widerspenstigkeit, in seinen reizenden Widersetzlichkeiten ... Liebt es darum seine Mutter weniger? Sie weiß sehr wohl das Gegenteil. Sieht es sie nur ein wenig erzürnt, so wirft es sich in ihre Arme.

Wie, hat der Mann, bei dem ersten Aufleben der Persönlichkeit in der Frau, für sie nicht das sein können, was die Mutter für das Kind ist?

Lange Zeit schien sie stumm, sagte nichts. Seht in dem indischen Schauspiel die Traurigkeit des Liebenden, wenn er kein Wort aus diesem schönen Munde bringen kann. Und wie weiß er, daß er geliebt wird? ist sie eine Person? ist sie eine Sache? »Im Namen derer, die du liebst, wirst du denn niemals sprechen?« ... »»Wie kann ich, o mein Gebieter! ...«« Dieses Schweigen und dieses Nichtwissen der Zustimmung und des verborgenen Gedankens ist im Grunde eine wahre Scheidung. Dies ist die Ursache jener so oft beschriebenen Traurigkeit, jener Wut, von der Lucrez spricht, jener Verzweiflung selbst in der Stunde der Lust.

Endlich! sie spricht! ... O Wonne, sie ist ein Vernunftwesen! Aus dem dunkeln Schöße der Notwendigkeit hat ihre Freiheit sich hervorgerungen ... Sie kann hassen ... um so besser! denn sie kann auch lieben, so wollte ich sie. Dieser erste lebhafte und mächtige Aufschwung entzückt mich und macht mir keine Furcht. Verständigen wir uns, schöne Clorinde. Das wolle Gott nicht, daß ich jemals mit dir die Klingen kreuzte. Wie viel lieber will ich selbst verwundet sein! ... Aber ach! Du bist es ja schon. Natur, die strenge, wollte, daß du es immer wärest, auf daß man dich immer pflegen könnte.

*

Um es gerade heraus zu sagen (aber lassen wir es die Frauen nicht hören!), es war lächerlich von uns, zu zürnen und ärgerlich zu werden. Das Gefecht ist nur ein Scheingefecht.

Sie haben nirgends das Feldgeschrei, das man in ihrem Namen ausgab, angenommen. Überall, wo sie nicht gefällige Freundinnen haben, die ihnen den Krieg predigen, sind sie sanft, friedliebend und wollen nichts, als geliebt sein.

Aber sie wollen es mit aller Kraft, und dafür ist ihnen nichts zu kostbar. Eine Dame (Madame Gasparin) erklärt uns in einem schönen, beredten, mystischen, ebenso zärtlichen wie keuschen Buche, daß ihr Glück im Gehorchen besteht, daß sie wollen, der Mann sei stark, daß sie die lieben, welche befehlen, und die Festigkeit, die zum Befehlen gehört, nicht hassen.

Diese Dame, die dein Apostel zu folgen glaubt, aber ihm mit dem Fluge eines jungen Herzens vorauseilt, versichert uns, daß ein träger, bloß leidender Gehorsam der Frau nicht genügt, daß sie aus Liebe gehorchen will, thätig, gehorchen selbst im voraus einem möglichen Wunsche, einem geahnten Gedanken, und ohne jemals zu sagen: Genug, außer in dem einen Fall, wo das Wohl des geliebten Wesens auf dem Spiele steht.

Tiefe und wahre Enthüllung! Was die Frau quält, ist viel weniger die Tyrannei des Mannes, als seine Kälte; viel weniger das Gehorchen, als, nicht genug gehorchen zu können. Nur darüber beklagt sie sich.

Keine fremde Schranke, kein Schutz von außen! Sie dienen nur dazu, die Gatten zu veruneinigen und die Frau elend zu machen. Nichts bleibt zwischen ihm und ihr. Sie geht zu ihm, stark durch ihre Schwäche, durch ihren unbeschützten Busen, durch dieses Herz, das für ihn schlägt ...

Das ist ein Krieg für die Frauen. Der Stärkste wird hier besiegt werden. Wer hätte nun noch den Mut, darüber zu streiten, ob sie höher oder tiefer steht, als der Mann. Sie thut beides zu gleicher Zeit. Es ist mit ihr wie mit dem Himmel für die Erde; er ist oben, unten, ringsherum. Wir wurden in ihr geboren; wir leben von ihr; wir sind von ihr umhüllt; wir atmen sie; sie ist die Atmosphäre, das Element unseres Lebens.


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