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Seite an Seite, stumm wie zwei Schatten, gingen Nadja und Ida durch die morgenfriedliche, sonntagshelle Stadt. Über den Dächern schwebte ein goldener Lichtnebel, der verbarg den Himmel, aber in allen Parks blühten und dufteten die weißen und roten Fliedersträuche.
Ida sang jetzt täglich in Spitälern und Lazaretten. Alle, die sie singen hörten, vergaßen wohl für eine Weile Schmerzen und ausgestandene Schrecknisse, Ida selbst aber vermochte sich nicht in ein Vergessen einzusingen. Wenn sie den stillen Männern vorsang, die bleich lächelnd in ihren weißen, nach Karbol riechenden Verbänden dalagen, dachte sie an alle die Ärmsten, die ihre letzten Augenblicke nicht in einem weichen Bett unter liebevoller Pflege zubringen konnten. Wenn ihre Stimme den schmelzenden Klang annahm, der alle Augen mit Tränen füllte, dachte sie an die verlassenen Sterbenden auf den Schlachtfeldern, sang sie für diese.
Das Gefühl des Glücks, das sie einst empfunden hatte, wenn sie dem festlichen Hause gegenüberstand und die Wirkung spürte, die der Klang ihrer Stimme hervorrief, war wie ausgelöscht. Es war ihr, als stehle sie von den Armen, um den Reichen zu geben. Sie sah ein, daß der Gedanke, auf die Schlachtfelder hinauszugehen und den Sterbenden vorzusingen, Phantasterei war, aber sie vermochte ihn nicht aus ihrem Gehirn zu vertreiben.
Dazu kam noch, daß sie fortwährend über die Folgen nachgrübelte, die der Krieg für solche Frauen haben mußte, die von der Hand der Natur ausersehen waren, Mutter zu sein. Diese jungen, kinderlosen Witwen, die niemals verheiratet waren. Was sollte aus ihnen werden? Arbeit? Ja für den Augenblick war da Arbeit für alle, und alle fanden wohl Trost in der Arbeit. Aber wie viele Frauen gab es nicht, die nur Frieden finden würden, wenn sie ein Heim und Kinder hatten, für die sie arbeiten konnten. Sie war eine der Auserwählten, für sie war Arbeit eine Religion, die Rat für jeden Zweifel, Trost für jeden Kummer brachte. Aber die vielen, vielen anderen?
Wahrlich, das war auch ein so unvermeidlicher Fluch des Krieges. Die Männer wurden auf die eine Weise zu Krüppeln gemacht, die Frauen auf eine andere. Die Männer gaben Leben oder Gesundheit für das Vaterland, aber die Frauen gaben mehr. Sie gaben ihre ungeborenen Kinder.
Sie hatte während des Sieges Frauen aus allen Ländern sich zu erhabenen Höhen von Opferwilligkeit, Kraft und Ausdauer emporheben sehen. Aber einmal mußte ein Rückschlag kommen. Wenn der Krieg aus war und alle diese Frauen wieder mit leeren Händen und forderndem Sehnen dasaßen, was dann?
Die Welt war noch nicht reif für die Durchführung des stolzen Gedankens: gleiches Mutterrecht für alle Frauen. Aber der Augenblick rückte näher, wo die Forderung des Mutterrechts sich bei vielen von den besten Frauen melden und, wenn sie nicht gestillt wurde, diese körperlich und seelisch ausdörren und verbrennen würde.
Es war dies ein Problem, das man nicht von sich werfen durfte als eine zu schwere Last, ein Problem, das auf irgendeine Weise gelöst werden mußte und sollte.
Sie näherten sich dem Rande der Stadt, die Berge ragten auf, der Nebel lichtete sich, und ein seidenblauer, wolkenloser Himmel ward sichtbar. Man spürte den Duft von Bäumen und Büschen, von dem frischen Gras der Gärten der schwarzen Weinbergerde.
Ida füllte ihre Lungen mit der reinen Luft, und es wandelte sie plötzlich die Lust an, hell herauszusingen.
Nadja legte die Hand auf ihren Arm. Ihnen entgegen gewandert kam ein langer, schnurgerader Zug von kleinen Mädchen, alle mit denselben dunkelblauen Kleidern, alle in denselben breitrandigen schwarzen Strohhüten, alle mit denselben ernsthaften Gesichtern. Vor dem Zuge und hinterdrein schlichen Nonnen in dunklen Fledermausgewändern. Die Kinder sahen so aus, als folgten sie einer Leiche, als trügen sie ihre eigene Kindheitsfreude zu Grabe.
Sicher litten sie keine Not. Die Nonnen opferten sich ja auf, um sie zu rechtschaffenen Christen in ihrem eigenen Bilde zu erziehen. Sicher behandelte man sie gut. – Aber … war das ein Ersatz für ein Heim, für die Liebe der Eltern?
Nadja rührte sich nicht vom Fleck. Langsam wendete sie den Kopf um und starrte der Kinderprozession nach, bis sie dem Gesichtskreis entschwunden war.
Dann begegneten sich ihre Blicke. Sie verstanden einander ohne Worte. Hier war die Antwort.
Hier war die Lösung.
Und sie galt sowohl reich wie arm, der Arbeiterin wie der Prinzessin. Ein jedes dieser verwaisten Kinder bedeutete: die glückliche Zukunft einer Frau. Und am glücklichsten diejenige, die am härtesten kämpfen mußte, um Brot für das Kind zu schaffen, dem sie sowohl Vater als auch Mutter wurde.
»Wollen wir den Anfang machen?« Nadja neigte den Kopf: »Für mich ist das die einzige Rettung. Ich bin im Begriff gewesen, Aglaja zu folgen. Jetzt weiß ich, was ich will.«
Wieder schritten sie dahin, Seite an Seite, stumm wie vorhin. Ida brach das Schweigen: »Du kannst mehr als das tun, wenn du den Mut hast!«
Nadja sah sie fragend an.
»Du bist nicht nur Nadja, du bist die Prinzessin, verstehst du mich nun?« Nadja verstand nicht. »Willst du hinausgehen und den jungen Arbeiterinnen Reden halten, ihnen erzählen, was du beabsichtigst, ihnen von dem Zuge erzählen, den wir eben sahen? Du bist die Tochter der Fürstin, aber du siehst nicht aus wie eine Prinzessin in der Vorstellung des Volkes. Sie werden dir glauben, sie werden sich überzeugen lassen …«
Nadja starrte vor sich hin: »Ich will das Kind, das ich annehme, selbst ernähren …«
Ida lächelte: »Das wußte ich, Nadja, und das ist es, was du ihnen erzählen sollst. Aber was wird deine Mutter sagen?«
Nadja sah Ida in die Augen: »Hast du vergessen, was Mama opferte, um die alten Frauen aus den Dörfern fortzuschaffen? Mama wird nur finden, daß ich anfange, meine Pflicht zu tun …«
Sie gingen weiter. Eine Schar Menschen, Erwachsene und Kinder, hatten sich an der Bahnlinie zusammengeschart. Erwartungsvoll spähten sie einem heranrollenden Zug entgegen. Unwillkürlich stellten Ida und Nadja sich mit auf. Eine ärmlich gekleidete Frau mit einem Säugling auf dem Arm sagte erklärend: »Das ist der dritte Gefangenenzug heute. Jetzt kommen die Verwundeten!«
Und langsam kam der Zug näher. Zuerst die Rote-Kreuz-Wagen mit den Schwerverwundeten, dann einige Wagen dritter Klasse mit leichtverwundeten Offizieren und schließlich eine Reihe Viehwagen mit leichtverwundeten Gemeinen. Die Luken waren geöffnet, um Luft zu schaffen, und die schwarzbärtigen Gefangenen drängten sich an der Öffnung zusammen, um sich an dem Anblick der Landschaft zu zerstreuen und den frischen Luftzug zu spüren. Die arme Frau sagte, als denke sie laut: »Es sind ja auch Menschen …«
Der Zug rollte vorbei, der Stadt zu.
Ida sah nicht, daß einer der Schwerverwundeten sich gegen die Fensterscheibe warf, den Verband von seiner Stirn riß, als wollte er erkannt werden, und die Arme nach ihr ausstreckte. Sie sah ihn nicht zurücksinken, sah nicht, wie ihm das Blut über das Gesicht strömte.
Draußen in den Bergen wanderten sie, und beide machten den Plan zu dem Vortrag, den die jugendliche Jungfraumutter allen Frauen des Landes halten sollte, um einen der fürchterlichsten Flüche des Krieges aufzuheben. – –
Das Spital besteht aus vier Flügeln, die einen Hofplatz mit allen Räumen und blühenden Büschen umschließen. Als Ida zu singen anfängt, öffnen sich die Fenster in allen Flügeln, damit sowohl die Verwundeten als auch die Pflegeschwestern den Gesang genießen können. Ida ist in einem sonderbaren Zustand. Sie sieht nicht die Verwundeten, die in ihren weißen Betten liegen und lächeln. Sie achtet nicht auf den Karbolgeruch. Krieg und Schlachtfeld sind vergessen. Eine heilige Erinnerung ist wachgerufen: die sternenklare Sommernacht, die dunkle, schlafende Gestalt. Jetzt tun sich die leidenden Augen auf und starren in die ihren hinein. Der Himmel sinkt hinab durch die zertrümmerte Decke. Ein blutiges Gesicht berührt das ihre, eine Stimme flüstert die Worte: »Geliebte! Geliebte!«
Der Gesang ist beendet. Der Beifall der Verwundeten ruft sie in die Wirklichkeit zurück. Als sie aber wieder singen will, befällt sie eine Mattigkeit, als sei sie Tage und Nächte ohne Ausruhen gewandert. Sie muß abbrechen. Vielleicht ist es die Lazarettluft, die sie nicht vertragen kann.
Eine der Schwestern führt sie hinab auf den grünen Hofplatz, wo die Genesenden auf Stöcken und Krücken gestützt herumhumpeln. Ida geht langsam, ihr Herz pocht, als solle es brechen. Die Schwester erzählt, um sie zu unterhalten, von dem großen Transport russischer Gefangener und zeigt zu dem Flügel hinauf, wo sie untergebracht sind. Einer von den jungen Ärzten kommt herzu, sein Gesicht ist lauter Lächeln: »Fräulein Witt, wissen Sie, daß Sie einen Anbeter unter den russischen Gefangenen haben?« Ida hört die Worte und vergißt sie wieder. Der junge Arzt erzählt umständlich, indem er sich bemüht seine Worte wirkungsvoll zu machen, von dem russischen Gefangenen, bei dem man Idas Bild gefunden hat: »Man sollte glauben, der Mann sei verrückt, so kratzte und schlug er um sich, um das Bild wieder zu erlangen. Niemand durfte es anrühren. Er liegt da und ist nahe daran zu verbluten, aber das Bild preßt er in seinen Händen, und nun hat er Erlaubnis, es zu behalten.«
Die Worte überschreiten allmählich die Schwelle des Bewußtseins. Ida flüstert, und ihr Gesicht ist weiß, als sei auch sie dem Verbluten nahe: »Wie heißt er?«
Und der Arzt antwortet nachlässig: »Andreas so oder so!«
»Andreas Widrin!« Sie schreit den Namen heraus. »Wo ist er? Ich will ihn sehen!«
Man sucht ihr begreiflich zu machen, daß Gefangene keinen Besuch erhalten dürfen. Was kümmert sie sich um Gefangene! Sie will keine Gefangenen sehen, sie will Andreas Widrin sehen, ihn allein!
Man hat nach dem Flügel hinaufgezeigt. Ida ist auf dem Wege. Man will sie zurückhalten. Vor der Tür steht eine Wache. Ida stößt den Mann zurück. Sie erzwingt sich Zutritt. Jetzt ist sie drinnen, niemand kann sie hindern.
»Andreas Widrin!« Sie glaubt selbst, daß sie seinen Namen ruft, aber sie flüstert ihn so leise, daß es wie ein Seufzer klingt. Und doch wird der Seufzer gehört. Von einem Bett wird ein Arm ausgestreckt … Ida steht an dem Bett, Ida beugt sich über den Verwundeten: »Ich bin es, Ida …«
Die große Stille umfängt sie. Es ist, als seien die beiden die einzigen nach Gottes Bilde geschaffenen Menschen, Mann und Weib.
Neigt es sich dem Leben, neigt es sich dem Tode zu? Niemand weiß es, und das ist nicht das Entscheidende. Es sind Minuten, die wie Jahre zählen. Minuten, die nicht zu teuer bezahlt sind, wenn sie auch die letzten Jahre des kurzen Lebens kosten.
Dann komme, was kommen mag …