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Marylkas Hütte ist fast nicht zu erkennen. Sie liegt ganz wie am Rande eines Jungwaldes. Wald ist durchaus kein zu großes Wort. Die Tannen haben Zapfen, und jedes Jahr legen sie ihrem Wachstum eine Elle zu. Die Weiden sind so hoch, daß die Kinder, wenn sie darin herumklettern dürfen, sagen, sie könnten fast bis an die Wolken reichen mit ihren bloßen Fäusten. Mag der Sturm noch so streng brüllen, hinter der Hütte ist's warm und geschützt. Zwischen den Tannen zieht Marylka alle Arten Sträucher mit süßen Beeren und zwischen den Sträuchern Blumen, deren Duft süß ist wie der Saft in den Beeren. Die Inselbewohner lieben es, in Marylkas Garten umherzugehen, auf der Bank zu sitzen und Gottesdienst mit sich selber zu halten; sie sagen, da sei der Herrgott ihnen gleichsam näher.
Die Wände der Hütte hinan ranken sich Spalierbäume, die die Arme nach der Seite ausbreiten und im Herbst voll Obst hängen. Jeder Zweig, den Marylka in die Erde steckt, wächst, und die Inselleute meinen, sie stände im Bunde mit geheimen Mächten. Aber das Geheimnis ist ganz natürlich. In strengen Wintern kommt es vor, daß Marylka aus dem Bett aufsteht und Decken und Kleider hinausträgt und über ihre Pflanzen breitet, damit der Frost sie nicht ins Herz beißen soll. Und in heißen Sommern kann sie oft nicht schlafen, so weh tun ihr die Arme vom Heraufwinden des Wassers und Hinaustragen der Eimer in den Garten.
Jeden Sonntag hat sie die Hütte voller Kinder; zuerst spielen und tummeln sie sich im Garten, und wenn sie dessen müde sind, kommen sie herein und hören, was Marylka ihnen aus ihrem großen Lexikon vorliest. Freilich ist sie des Schulmeisters Tochter, aber sie benimmt sich nicht wie er und liest alles, was da steht, nein, sie sucht, bis sie etwas findet, das die kleinen Herzen vergnügen und in Erstaunen setzen kann. An der einen Giebelwand hat sie zwei Bienenkörbe, und wenn die Kinder sie damit beschäftigt sehen und zuhören, wie sie ihnen vom Leben der Bienen vorliest, und wenn sie dann eine Scheibe Brot mit frischem Honig bekommen, so sind sie mitten im heiligen Lande des Märchens. Marylkas Hütte ist ihr Paradies. An den langen dunkeln Wintertagen, wo die kleinen Mädchen nur jeden zweiten Tag zur Schule gehen, lehrt sie sie häkeln und nähen. Hernach gehen sie in der Stube umher und betrachten Bilder.
Marylkas Stube ist wie ein Bilderbuch, in dem man alle Blätter auf einmal übersehen kann. Als sie in ihre »Amtswohnung« zog, waren die Wände schwarzrot wie der Torf, und fortwährend rieselte der feine Sand auf den Fußboden. Aber dann kam sie auf den Gedanken, sie mit alten Säcken zu bekleiden, die sie mit langen Nägeln festklopfte, und über die Säcke klebte sie Bilder. Woher sie die bekam? Sie abonnierte auf eine illustrierte Zeitschrift drüben vom Festland, die enthielt die ganze Welt in Bildern, wie das Lexikon die Welt in Worten enthielt. Da waren Kaiser und Könige, Schiffe, die vom Stapel liefen, Soldaten, Liebende, die einander bekamen, Karten von Städten und Gegenden, berühmte Mörder und Schauspieler.
Sie verdiente jetzt zwölfhundert Mark im Jahr und war fest angestellt, mit Pension. Für Essen und Kleider gebrauchte sie zweihundert, und der Garten verschlang weitere zweihundert, denn die Pflanzen waren wie Kinder, mit großem, dauerndem Appetit. Marylka kaufte Kunstdünger in großen Partien.
Ihre Eltern waren in demselben Jahr gestorben, und sie hatte keinen andern nahen Verwandten, und so kam es, daß sie Geld zurückzulegen begann. Sie hatte geringe Bedürfnisse und gar keine Wünsche, und Geld bereitete ihr keine Freude. Sie sparte nicht, um ein Vermögen zu sammeln, und nicht, um das Geld einst planmäßig zu verwenden. Sooft sie eine Rolle Goldstücke in Seidenpapier wickelte und die Rolle auf den Boden der blumenbemalten Truhe legte, dachte sie an ihren Vater. Wieviel glücklicher wäre er gewesen, wenn er seinerzeit die Mittel dazu gehabt hätte, sich ein neues Lexikon zu kaufen statt des verbrannten! Wer weiß, es konnte der Tag kommen, wo sie – oder ein anderer – sich für lange Zeiten Glück zu schaffen vermochte, bloß durch einige Rollen Goldstücke! Das war der Grund, ihr einziger Grund.
Und bald kamen Gelegenheiten, kleine und große, wo ihr Vermögen in der Truhe gut angebracht war. Aber es war ihr eigenstes kleines Geheimnis, um das niemand anders wußte.
Es fing damit an, daß viele von den alten Leuten, die Söhne in Amerika hatten, von Zeit zu Zeit Marylkas Hütte umstrichen, um zu hören, ob sie zufällig etwas Neues von drüben erfahren habe. Oder sie kamen und hatten ihre armseligen Schillinge in ein Tuch geknüpft und fragten mit flehentlichen, bangen Augen, ob dies wohl genüge, um ein Telegramm bis ganz nach Amerika hinüberzuschicken und Antwort darüber zurückzuerhalten, ob der Junge lebendig oder tot sei.
Marylka wußte bald selbst nicht mehr, wann sie zum erstenmal ein Telegramm mit bezahlter Antwort nach Kanada sandte und nur eine halbe Mark als Bezahlung verlangte. Auch nicht, wann sie zum erstenmal – aber es war wohl um die Weihnachtszeit – Geld für die Witwe Annike von ihrem Sohne in Kalifornien brachte. Es sei, sagte sie, telegraphisch gekommen, mit einem liebevollen Gruß. Und die Mutter lächelte so stolz und glücklich: wie das ihrem lieben, guten Jungen ähnlich sah!
Es blieb nicht bei der Witwe. Rings auf der Insel saßen jetzt alte Frauen, die wie Königinnen aussahen, wenn sie von ihren lieben Kindern sprachen, die daran dachten, Geld in ihre alte Heimat zu schicken.
Lars Thuren hatte einen Sohn im Gefängnis, einen guten Jungen, der bloß das Unglück gehabt hatte, eines Tages, als er vom Branntwein umnebelt war, mit dem Messer zu stechen. Lars Thuren sprach spät und früh davon, wenn die Gicht es ihm nur erlaube, so wolle er Heuer annehmen wie in alten Tagen, um zu verdienen, damit der Junge, nach Abbüßung der Strafe, nach Amerika reisen könne. Eines Abends kam eine Botschaft für Lars Thuren. Marylka hatte, wie sie sagte, ein Telegramm aus Iowa erhalten: »Hiermit hundert Dollar zur Erinnerung an deinen alten Jugendfreund.«
Der Freund hatte vergessen, seinen Namen darunter zu setzen. Aber Lars wußte ja wohl, wer es war? Und Lars riet bis ans Ende seiner Tage, aber der Sohn kam nach Amerika, wo er gut einschlug.
Marylka lebte nicht ohne Furcht vor Entdeckung. Sie war ja Beamtin; und wurde es entdeckt, wer weiß, ob es sie nicht die Stellung kosten konnte!
Der Besuch des Prinzen hatte weitreichende Folgen für die Insel. Seine Worte: »Hier wäre ja der ideale Platz für ein Badehotel!« klangen dem Konsul in einem fort in den Ohren. Er ließ sie weiterklingen, und zuletzt läuteten sie über die ganze Insel. Eines schönen Tages rief der Krugwirt Maurer, Zimmerer und Dachdecker zusammen; bis zum Abend war die Arbeit im Gange. Das Badehotel sollte zwölf Fenster nach vorn und zwölf nach hinten hinaus haben, und das Dach sollte im Westen nicht tiefer herabhängen als im Osten.
Im Mai kam der erste Gast, ein kurzsichtiger Maler, der sich in warmem Wasser wusch. Er malte das Meer im Sturm mit Gischt über den Wellen. Er malte auch das Haus des Konsuls mit einer weißen, eine Laterne tragenden Gestalt davor: dem Prinzen auf dem Weg zum Schiff. Einige von den Bildern ließ er dem Krugwirt ab als Entschädigung für Kost und Logis, andere verkaufte er an die Honoratioren der Insel.
Der Konsul schrieb an die Zeitung der Hauptstadt, nun sei die Insel, die Seine Hoheit Prinz Magnus »den idealen Badeort« genannt habe, auch von den berühmten Malern der Gegenwart entdeckt worden, die darin wetteiferten, die weiten Ausblicke vom Badehotel zu verewigen, dessen Besitzer mit Rücksicht auf die Nachwelt kein Opfer gescheut habe, um sie zur Ausschmückung der Lokalitäten zu gewinnen.
Dieser lange Satz lockte die Leute an, und im Juli war das Hotel überfüllt. Aber die Gäste blieben nicht lange. Es gefiel ihnen nicht, mit Zinngabeln und auf Wachstuch zu essen. Es bereitete ihnen kein Vergnügen, abwechselnd gelbe Erbsen mit Speck, geräuchertes Lammfleisch oder gedörrten Fisch zu Mittag zu bekommen. Das Stroh in den Betten hatte nicht ihren Beifall. Es behagte ihnen nicht, sich am offenen Strande aus- und anzukleiden. Das Hotel wurde wieder leer.
Da schrieb der Konsul abermals an die Zeitungen und lobte die Insel als »nervenstärkenden Aufenthaltsort für Menschen, die sich von der modernen Überkultur fortsehnten und es vorzögen, die Natur in ihrer ursprünglichen Schönheit zu genießen«. Er vergaß nicht hinzuzufügen, daß der Preis für Zimmer, Kost und Strandbad sehr niedrig bemessen sei und zwei Mark pro Tag und Person betrage.
Eines Tages kam die Post an Marylkas Hütte vorbeigefahren, ohne anzuhalten. Eine Dame winkte mit einem weißen Sonnenschirm, und zwei kleine Kinder warfen ihr Kußhändchen zu. Die Dame, die sich Hilda Fersen nannte, begann gleich, als sie aus dem Wagen gestiegen war, mit den Kindern Heidekraut zu pflücken und Girlanden zu binden; die hängte sie an den nackten gelben Wänden auf. Und als die Krugwirtin die gelben Erbsen hereinsetzte, war der Tisch ganz bestreut mit Glockenblumen, und in einer Flasche prangte eine mächtige, blaugrüne Stranddistel, eine große Seltenheit, wie Frau Fersen erzählte. Am Abend saß Frau Fersen auf dem Haublock draußen in der Küche und sah zu, wie man mit Heidekraut und Torf einheizte.
Am nächsten Tage kam sie zu Marylka hinunter, um ein Telegramm abzuschicken. Es sollte nach Davos gehen und bestand nur aus drei Worten. Es lautete: »Ich liebe dich.« Während Marylka die Worte in den Apparat hinabtickte, trat es wie ein Nebel vor ihre Augen, und als sie das wegwischen wollte, entdeckte sie, daß in jedem Auge eine Träne hing. Frau Fersen stand da und sah sich in der Stube um, und die Kinder hielten ihr Kleid fest. Auf einmal sagte sie: »Nach Artur Fersens Frau müssen Sie doch der glücklichste Mensch auf Erden sein!«
Für Marylka war es, als käme Frau Fersen geradeswegs aus einem Märchenbuch gewandert und kehrte dahin zurück, sobald sich die Tür hinter ihr schloß. Aber sie kam wieder, und bald kannte Marylka Hilda Fersens Geschichte in- und auswendig. Der Mann war Offizier, und sie waren beide arm und hätten nicht heiraten können, wenn nicht ein Onkel Bürgschaft für sie übernommen hätte. Nun war seine Brust nicht in Ordnung, und die Ärzte hatten gesagt, zwei oder drei Winter in Davos seien notwendig, um ihn gesund zu machen. Und Davos kostete viel Geld. Darum hatte Hilda sich ausgerechnet, daß es viel billiger für sie und die Kinder sei, hier im Sommer zu wohnen und keinen Haushalt zu führen. Zum Winter wollte sie ein Atelier an der Peripherie von Berlin mieten und versuchen, durch ihre Stickereien Geld zu verdienen.
Hilda Fersen war gar nicht traurig, obwohl ihr Mann krank war. »Er wird ja wieder gesund!« sagte sie, und dabei leuchteten ihre Augen wie Sterne. »Wir sind so glücklich,« erzählte sie, »kein Mensch ist so glücklich wie wir. Natürlich wird er gesund! Was sollte sonst aus mir und den Kindern werden? Nur den einen Wert hat das Leben für mich, Artur lieben zu können, nicht wahr?« Sie lächelte: »Des Abends, wenn wir schlafen wollen, reicht er mir die Hand herüber und sagt: ›Hast du an dein Abendgebet gedacht, Maus?‹«
Von diesem Augenblick an war die Liebe in Marylkas Herz geweckt. Sie liebte zum erstenmal. Aber sie liebte keinen bestimmten Menschen. Sie wußte bloß, daß Hilda Fersen sie lieben gelehrt hatte.
Den ganzen Tag dachte sie nur an Hilda Fersen, und stundenlang stand sie vor der Hütte und starrte zum Badehotel hinüber, nach dem dünnen, hellen Kleide, das Hildas zarten Körper in vielen weichen Falten umschloß und durch ein langes, schwarzes Samtband zusammengehalten wurde. Hilda hatte ihr erzählt: »Ich nähe so ein Kleid an einem Nachmittag, während die Kinder vor mir tanzen!« Marylka wußte auch, daß Hilda lieber nähte als etwas anderes tat. Eines Nachmittags fragte sie, ob Marylka ein paar Flicken habe. Marylka hatte einen ganzen Beutel voll Flicken, die die Mutter im Lauf der Jahre gesammelt hatte.
Dann nahm Hilda eine kleine Schere, die sie selbst bei sich hatte, und fing an, darauflos zu schneiden: einen Baum, ein Haus, ein Boot, ein paar Schafe. Mit Wollgarn nähte sie die Figuren auf ein Stück braunen Fries, und siehe da, es war eine ganze Landschaft. Marylka wunderte sich nicht. Gerade so mußte Hilda etwas aus nichts hervorzaubern können. Gerade so. Und Frau Fersen erzählte, sie habe mehrere Arbeiten in München und Dresden ausgestellt und gar nicht wenig Geld damit verdient, denn die Leute fanden Gefallen daran. An einem andern Tag schnitt sie aus einem Fetzen von verblichenem Samt die schönste griechische Borte aus und nähte sie um die Kante von Marylkas Halbwollkleid, während sie beim Kaffee saßen und plauderten und die Kinder draußen im Garten spielten.
Später im Sommer fuhr die Post wieder mit voller Ladung vorbei. Zuvorderst saß eine Dame ohne Hut, auf dem Hintersitz saßen ein alter Herr und eine Dame Hand in Hand. Der Herr hatte einen Augenschirm, die Dame weißes Haar, ein weißes Kleid und einen weißen Hut.
Hilda erzählte, es seien Professor Witt und Frau aus Jena. Er sei Philosoph und in ganz Europa berühmt. Die Dame ohne Hut sei seine jüngste Tochter, eine Opernsängerin. Hilda sagte: »Ida Witt ist wie das Meer, man wird es nie müde, sie anzusehen oder anzuhören. Ich komme mir in ihrer Nähe vor wie eine kleine Maus, aber plötzlich kehrt sie alles um, so daß die winzige Maus sich auf einmal einbildet, ungeheure Bedeutung zu haben!«
Marylka war gerade im Begriff, den Apparat des Staubes wegen zuzudecken und zu Bett zu gehen, als es an die Tür klopfte. Sie wußte unwillkürlich, daß es Ida Witt und Hilda sein mußten. »Wo sind denn nun die Bienenkörbe? Wo sind die Aalbeeren? Wo ist die Frau des Ganzen?«
Ida Witt streckte die Hände hin. Wie fest sie zufaßten!
So viel hatte Marylka noch nie einem Menschen von sich selber erzählt – und sie sah Ida Witt zum erstenmal. Der Mond ging auf, und die drei Frauen saßen auf der Bank in einem Duft von Harz und Krauseminze. Der Mond ging unter, und sie saßen noch immer da.
Als Ida Witt Marylkas Hütte verließ, wußte sie nicht nur mit Marylkas ganzem Leben Bescheid, sondern kannte auch die Inselleute in- und auswendig. Auch von Sylver Thams hatte Marylka erzählt. Am nächsten Tage besuchte ihn Ida Witt. Im dritten Jahr lag er mit Knochenfraß im Knie. Als er als Leichtmatrose fuhr, war er vom Mast gefallen und hatte das Bein gebrochen. Er lag ein halbes Jahr im Seemannshospital in Liverpool; das Bein war verkehrt zusammengesetzt und mußte wieder gebrochen werden, den Knieschaden hatte man vernachlässigt. Geduldig war er und froh über jedes freundliche Wort, aber unterhaltend war es ja nicht, jahraus, jahrein auf demselben Fleck zu liegen, und oft fiel es der Mutter schwer, das tägliche Brot für zwei zu beschaffen. Wurden die Schmerzen gar zu schlimm, so schnitt er sich selbst ins Knie, um das Geld für den Arzt zu sparen, sonst lag er und schnitzte kleine Fahrzeuge, Tiere und Menschenköpfe.
Marylka sah ihrer Hütte einen seltsamen Aufzug sich nähern: Hilda Fersen und Ida Witt kamen und trugen Sylver Thams auf goldnem Stuhl. Seine Augen leuchteten, er hatte rote Flecke auf den Wangen. Die Damen setzten ihn auf der Bank ab, und Hildas Kinder sprangen herum und pflückten Beeren, die sie ihm in den Mund stopften. Vor Abend war Ida Witt in der Stadt gewesen und war von Haus zu Haus gegangen, bis sie fand, was sie suchte: einen Kinderwagen, der fest und groß genug war, um Sylver als vorläufiges Gefährt zu dienen. Der Stellmacher setzte starke Räder darunter, und nun konnte Sylver überall mit dabei sein. Wer das war nur vorläufig. Ida Witt hatte ihm einen Wagen versprochen, den er selbst mit den Händen vorwärtsbewegen konnte, und sie hatte an ihren Freund, den Professor in Zehlendorf, geschrieben, ob er Platz für einen jungen Mann habe, der gern zum Bildschnitzer ausgebildet werden möchte.
Mit dem Augenblick, als Ida Witt über ihre Schwelle trat, begann für Marylka ein neues Leben. Das Lexikon war nur mit toten Worten angefüllt, durch die Telegraphendrähte strömte nur der Schimmer des fernen, lebendigen Lebens. Ida Witt war das Leben selber. Wenn Ida ihr von andern Menschen erzählte, sah sie sie vor sich, hörte sie sprechen und las in ihrem Herzen. Und Ida erzählte von ihren Freunden, von denen in der Heimat und denen in der Ferne.
Als der Herbst kam und die Gäste abreisten, war es ihr, als bliebe sie wie ein leeres, überflüssiges Ding zurück, das keinem lebenden Menschen Nutzen oder Freude bringen könne.
Gerade damals kam der neue Schullehrer zur Insel, an Stelle des Vikars, der nach dem Tode ihres Vaters dagewesen war. Sie hörte, er war ein richtig studierter Mann, ja obendrein ein Dichter. Was wollte er da auf der kleinen, entlegenen Insel, die von der ganzen Welt vergessen zu sein schien? Marylka war etwas neugierig, ihn zu sehen. Er sollte in ihrem alten Heim wohnen und die Arbeit ihres Vaters übernehmen. Aber sie machte sich nie einen freien Tag, und er kam wohl nicht in diese Gegend der Insel.
Bald hörte sie von allen Seiten von ihm reden. Die Kinder sprachen von nichts anderm. Sie begaben sich eine Stunde vor der Zeit auf den Weg zur Schule, und sie kamen zwei Stunden später als sonst nach Hause. Der neue Lehrer hatte ihnen auf der Flöte vorgespielt und mit ihnen Spiele veranstaltet. Der neue Lehrer hatte sie auf dem Weg begleitet. Der neue Lehrer hatte Komödie mit ihnen gespielt. Und eines Tages, als ein Orkan tobte, erhielt Marylka durch den alten Telegraphisten die Nachricht, daß der Lehrer die Kinder die Nacht über bei sich behielt. Sie kamen heim und hatten so viel erlebt, daß es sich nicht erzählen ließ. Richtige ausgestopfte kleine Kolibris hatten sie gesehen. Gelbe, blaue und rote und in allen Farben, aber wenn man sie lange genug im Licht herumdrehte, begannen die Farben wie Feuer zu leuchten und wie Wassertropfen, auf die die Sonne fällt. Sie mußten zwar auf dem Fußboden schlafen, aber der Lehrer hatte ihnen alle seine Kleider zum Zudecken gegeben, hatte die ganze Nacht das Feuer unterhalten und Schokolade für sie gekocht und am Morgen zwei Stunden lang Pfannkuchen gebacken.
An einem Sonnabendnachmittag Ende Oktober, als die letzten Blätter von Marylkas jungen Birken abgefallen waren, stand sie in der Tür und sah dem Postboten nach. Sie hörte einen Laut in weiter Ferne, wie einen Vogel, und doch anders. Oder wie einen Vogel, der zugleich klagte und sang. Drüben im Wegstaub gewahrte sie darauf einen dunkeln Punkt, eine wandernde Gestalt. Der Mann kam näher, und der Laut wurde stärker. Nun ward sie inne, daß er Flöte blies. Während sie dort stand und ihn aus dem Wege hervorwachsen sah, war ihr, als hätte sie just in den letzten zehn Jahren gestanden und auf diesen flötenden Wandersmann gewartet. Sie wußte, wer es war; ein anderer konnte es nicht sein.
»Fräulein Marylka Owesen? Ich bin der neue Lehrer, Hans Rudner. Jeden Sonnabend habe ich daran gedacht, Sie zu besuchen, aber immer kam etwas dazwischen!« Marylka konnte kein Wort über ihre Lippen bringen. Aber er sprach für sie. »Wissen Sie, daß Ihr Name aus meiner Heimat stammt? Aus der Bukowina?« Sie wußte es nicht. Sie begann, ein reines Tuch über das eine Ende des rotgestrichenen Tisches zu breiten. Sie briet Eier, schnitt Lammfleisch in dünne Scheiben. Das Brot war soeben aus dem Ofen gekommen, und sie hatte Butter im Hause. Aber wenn sein Blick auf ihre roten, groben Hände fiel, schämte sie sich und versteckte sie unter der Schürze.
Sie fragte: »Wie können Sie sich in den Aufenthalt hier finden?« Er sah sie verwundert an: »In den letzten zwei Jahren habe ich nur den einen Wunsch gehabt, an einem Ort zu leben, so einsam und still wie hier!« Er verstand, daß die Antwort sie nicht befriedigte, und fügte hinzu: »Es können Zeiten kommen, wo der Mensch nicht die Kraft hat, draußen in der großen Welt zu sein. Ich war müde …«
Aber Marylka, die durch Hilda Fersen wußte, wie das Glück aussah, erkannte in demselben Augenblick, daß er seine Zuflucht hier gesucht hatte, weil sein Herz von Kummer verzehrt war. Und die kleine goldene Hoffnung, die soeben an einer Stelle tief im Innern entzündet worden war, erlosch jäh.
Er erzählte, daß er aus einer reichsdeutschen Kolonistenfamilie sei, die in der Bukowina wohne, erzählte von den Bergen, wo die freien Huzulen auf ihren kleinen Pferden herumkletterten, immer in leuchtendroten Kleidern, die von weitem wie Blumen strahlten, von der reißenden Strömung des Pruthflusses, wo die Baumstämme aus den großen Wäldern bis zur Donau hin geflößt wurden.
Marylka fragte leise, ob es wahr sei, daß er Bücher schreibe; er bejahte, doch lächelnd fügte er hinzu: »Wenn ich ein Buch geschrieben habe, bin ich fertig damit und will am liebsten nie wieder davon hören; aber sooft ich ein Kapitel schreibe, habe ich Lust, es der ganzen Welt vorzulegen, und dann müssen die armen Kinder herhalten!«
Marylka faßte sich ein Herz: »Würden Sie … mir … nicht einmal etwas vorlesen?« Er sah sie an: »Ob ich will! Geben Sie nur acht, daß ich nicht jeden Sonnabend komme und Sie in Grund und Boden lese!«
Er kam immer wieder, und jedesmal hatte er neue, weiße, dichtbeschriebene Blätter mit – und jedesmal war es, als drehte er ein Messer in ihrem Herzen herum. Denn sie verstand ja, daß das Kind, das kleine Mädchen, von dem er immer schrieb, schuld an seinem Schmerz war – und den ihren verschuldete.
Am Heiligabend fällte sie eine der jungen Tannen und schmückte sie für ihn mit Kerzen und Rosen aus Seidenpapier. Es war das erstemal, daß sie selber einen Weihnachtsbaum hatte. Und während die Kerzen brannten, las er ihr wieder ein Kapitel vor. Als er zu Ende war, verbarg er das Gesicht in den Händen. Marylka ging still hin und löschte die Kerzen, die an der Spitze der Tannenzweige Feuer fingen. Sie dachte nicht an ihren eigenen Kummer, sondern nur an den seinen. Gern wollte sie in die weite Welt hinausgehen, Tage und Nächte hindurch wandern, um das wundervolle Weib zu finden, das ihn zum Dichter gemacht hatte, und das von ihm gegangen war. »Weil ich einen andern liebe.« Aber was konnte es nützen, daß sie sie fand, wenn sie einen andern liebte? Marylka sah sie vor sich, das kleine Mädchen, das von allen Menschen geliebt wurde und alle Menschen wiederliebte. Das kleine Mädchen, das Mauern hinaufklettern konnte und die Trommel schlug und den Freunden verkündete, nun habe es den Namen mit seiner Kusine getauscht, und nun sei die Katze weggelaufen … Marylka sah sie als Erwachsene wie als Kind, vor allem jedoch als Kind. Sie hatte zu Hans Rudner gesagt: »Solange du Flöte bläst, liebe ich nur dich; aber wenn du aufhörst, liebe ich einen andern!« Da hatte er die Flöte zerbrochen, und sie war fortgegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Nun war sie vielleicht mit einem andern verheiratet. Mit »dem« andern. Oder mit »einem« andern.
Es schneite, als Hans Rudner, eins der alten Weihnachtslieder pfeifend, Marylkas Hütte verließ. Sie stand und sah ihm nach, bis sie selbst so weiß war wie der Schnee, der die Heide bedeckte. In der stillen heiligen Nacht stand sie und sah dem verlorenen Glücke nach – das sie nie besessen hatte.
Aber später stand sie, in Sturm wie in Schnee, vor der Tür der Hütte, am Morgen, wenn die Kinder mit ihren kleinen Handlaternen nach der Schule vorbeitrabten, und wieder gegen Abend, wenn sie zurückkehrten. Ach, hätte sie sich anschließen, auf einer der niedrigen Bänke sitzen und ihn erzählen hören können, Stunde auf Stunde. Könnte sie seine hohe, leuchtende Stirne sehen! Ihre Hände sehnten sich danach, sie ein einziges Mal zu berühren.