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Fränze hatte sich längst an die große Villa im Grunewald und an die vielen Dienstboten gewöhnt. Die Zeit war vorüber, wo sie errötete, wenn sie einen Befehl erteilte, oder wo sie selbst bei Tische aufsprang, um ein Salzfaß zu holen, das die Mädchen vergessen hatten. Sie trug den Schlüsselkorb im Hause herum, als habe sie nie von der Fränze gehört, die einstmals auf dem Seil ging und auf Mauern kletterte.
Aber zuweilen, wenn sie so mitten zwischen den großen, weißlackierten Schränken in der Leinenkammer stand, konnte ein erstickendes Gefühl sie befallen. Dann warf sie den Schlüsselkorb hin, ließ die Tür weit offen stehen und stürzte nach dem Asyl, das Albert in einer Ecke des Gartens, hinter einem großen Gebüsch für alle die herrenlosen Hunde und Katzen hatte einrichten lassen, die Fränze aus dem Rinnstein aufsammelte. Da kollerte sie sich mit den Tieren herum, ohne an Alberts Warnungen vor allen den schrecklichen Krankheiten zu denken, die sie sich zuziehen konnte. Sie liebte ihre Tiere und gab ihnen glanzvolle Namen, die in drolligem Gegensatz zu ihrem verzottelten Äußeren standen. War sie eines Tages ganz sicher, ungesehen an den Dienstboten vorüberzuschlüpfen, so nahm sie die Hunde mit hinauf in ihr eigenes, pompejanisch eingerichtetes Badezimmer, reinigte sie mit Wasser, das durch französische Badesalze weich gemacht war, kämmte, salbte und bürstete sie, bis sie wahren Friseurschildern glichen.
Nach einem kleinen Aufenthalt im Asyl war das erstickende Gefühl überwunden, und sie konnte sich ihren hausmütterlichen Pflichten wieder widmen. Albert würde ja aus einer Entfernung von einer halben Meile sehen, ob ein Nagel herausgefallen oder ein Bodenfenster nicht angehakt war. Mit ehrbaren Schritten ging sie die Treppen hinauf, nahm den Schlüsselkorb und teilte Bettwäsche und Handtücher aus, während sie alles genau in ihrem Wäschebuch aufschrieb. Dann beriet sie sich mit der Köchin, telephonierte an die verschiedenen Lieferanten, erteilte dem Gärtner Befehle, ja, sah oft selbst in der Garage nach, ob alles am rechten Platz war.
Endlich mußte sie einen langen Brief schreiben, der auf Alberts Platz bei Tische lag, wenn er nach Hause kam. In diesem Brief gestand sie – mit passenden Übertreibungen – alle ihre Sünden und gelangte zu dem Ergebnis, daß sie eine unverbesserliche Bohemenatur sei, die sich mit einem blutarmen Maler hätte verheiraten, in einer Dachwohnung von Mohrrüben und Hafergrütze leben und sich mit einem Kleid und einem Paar schiefgetretener Schuhe hätte begnügen müssen. Sie schwelgte förmlich in dem Ausmalen ihrer Armut, und wenn der Brief zierlich mit Lack von der Farbe versiegelt war, die ihrem Kleide entsprach, schwebte sie umher und freute sich an all dem Luxus, mit dem Albert sie umgab.
Die Fränze, die bei den großen Mittagsgesellschaften in der Villa präsidierte, erinnerte ebensosehr an einen Pfau mit aufgeschlagenem Rad wie die meisten der Gäste. Sie ahmte ihre Bewegungen, ihre Unterhaltung, ihren Stimmklang und ihr Lachen nach. Albert beobachtete sie oft mit stummem Staunen. Es gab doch noch allerlei Wege in einem Frauengehirn, denen er nicht zu folgen vermochte.
Wenn aber der letzte Gast gegangen war und man einige Minuten lang den Verlauf der Gesellschaft beredet hatte, konnte Fränze mit einem Gassenbubenlächeln sich das Haar auflösen und die wildeste Tarantella tanzen, so daß ihr Mann eiligst alle Türen verschließen mußte, damit niemand Zeuge dieses Schlußtableaus wurde.
Außer ihrem formellen Verkehr hatte Fränze einen eigenen, sonderbaren Kreis, den sie auf dieselbe Weise gesammelt hatte wie die herrenlosen Hunde und Katzen. Und ihr Mann hinderte sie nicht daran, da er einsah, daß es ihr mit den Menschen genau so erging wie mit den Tieren: Je räudiger und verhungerter eine Katze war, um so mehr Anspruch hatte sie auf ihre Zärtlichkeit.
Ihr privater »Freundeskreis« bestand aus schiffbrüchigen Existenzen, die sich bei ihr in gemeinsamem, seligem Glauben an die eigene Größe und die Ungerechtigkeit der Welt versammelten. In Fränzes Heim hatten sie ihre goldenen Augenblicke. Sie nährte ihre Träume von eigener Größe und behandelte sie als die Genies, für die sie gelten wollten. Auch nicht mit dem leisesten Lächeln verriet sie, daß sie die traurige Prahlerei durchschaute, mit der sie ihre armen Seelen schmückten.
Selbst Albert gegenüber tat sie, als wenn sie in gutem Glauben wäre. Aber als er sie einmal fragte, ob sie allen Ernstes meine, daß der Plunder von Bildern und Büsten, womit sie nach und nach ihre »Privatgalerie« anfüllte, Kunst sei, antwortete sie mit dem Lächeln, das sie zum Abgott ihres ganzen Heimatstädtchens gemacht hatte: »Das ist mein Wildentenboden!«
Und er tat ihr im Herzen Abbitte. – –
Fränze, die keinen Feind hatte und auch nie einen gehabt hatte, konnte die Bedeutung des Krieges nicht gleich verstehen. Sie verfolgte die Krisis zwischen Österreich und Serbien mit derselben atemlosen Spannung wie den Verlauf eines der Detektivromane, die sie so gern des Abends im Bett mit Albert zusammen las. Dann schauderte sie und naschte gleichzeitig Konfekt, während er mit Wonne den kleinen zitternden Körper fühlte, der Schutz in seinen starken Armen suchte.
Fränze hatte sich Krieg stets als etwas Herrliches vorgestellt – noch spannender als eine nächtliche Feuersbrunst oder ein unaufgeklärter Mord. Sie ließ sich mehr als gern von der Volksstimmung mit fortreißen und weinte und lachte vor Erregung, weil alle anderen es taten. Es war ja wie eine Komödie in tausend Akten, und der Vorhang war eben vor dem ersten Akt aufgezogen. Da war etwas, worauf man sich freuen konnte.
Sie begriff nicht, daß man, weil Krieg war, nicht mehr nach Paris reisen und Einkäufe in den kleinen, vornehmen Läden machen, nicht mehr die Speisenkarte und die Damen der Halbwelt in den großen Restaurants studieren und im Boulogner Wald spazierenfahren konnte. Sie begriff nicht, daß, weil Krieg war, die Völker Feinde sein mußten.
Aber es vergingen nicht viele Tage, bis es in ihrem Gehirn zu dämmern begann.
Fränzes erstes Opfer auf dem Altar des Krieges waren – die seidenen Strümpfe. Sie wickelte sie fein säuberlich in Seidenpapier und legte sie zusammen mit den seidenen Unterkleidern in Schubladen. Von nun an hieß es Wolle, bis der Krieg vorüber war. Das nächste Opfer war der Abschied von Schmucksachen und Abendtoiletten.
Ihr Mann war einem schwierigen Problem gegenübergestellt. Von den Tausenden männlicher Arbeiter, die er in den Fabriken in Thüringen beschäftigte, waren über die Hälfte sofort einberufen worden, und darunter fast alle Werkführer. Wenn er einen Teil der Fabriken schloß, bedeutete das bittere Not für Frauen und Kinder. Außerdem war die Tabakindustrie – wenn auch Tabak ein Luxusartikel war – im Kriege eine fast ebenso große Notwendigkeit wie Kleider und Waffen für die Soldaten. Albert Vogt mußte zwischen den Fabriken und dem Haupthaus in Berlin hin und her fahren. Oft schlief er in den Kleidern, und die Schwierigkeiten schienen mit jedem Tage, der verging, zu wachsen.
Zum erstenmal hatte er keine Zeit, sich um Fränze zu bekümmern. Sie merkte, daß ihre vielen Fragen ihn störten, und zog sich in sich selbst zurück, fing aber an zu denken und bald auch auf eigene Hand zu handeln.
Eines Nachts erwachte Albert Vogt. Fränze war fort. Von Angst ergriffen stürzte er durch das ganze Haus und fand sie in Nachtkleid und Kimono in der Leinenkammer vor den großen Leinenschränken. Sie tat nicht überrascht: »Wir haben Platz für sechzig Betten, aber da sind nur Bettücher für achtundvierzig.«
Fränzes kluger Mann mußte sie darüber belehren, daß man nicht ohne weiteres Lazarette in Privathäusern einrichten könne. Aber vielleicht später, wenn es notwendig werden sollte …
Das war Fränzes erste Enttäuschung als Folge ihres Denkens auf eigene Hand.
Ein paar Tage später, als Vogt in seinem Privatkontor vor einem Stapel von Papieren saß, die ihm zur Unterschrift vorgelegt waren, schritt Fränze herein, ein kleines Päckchen unter dem Arm. Er war nicht daran gewöhnt, daß sie ohne Verabredung kam, und fragte: »Was willst du hier?« Fränze legte ihren Pelz ab und zog eine langärmelige schwarze Schürze an, wie sie die Frauen auf Lagern hatte benutzen sehen, um ihre Kleider zu schonen. »Ich will lernen, das Geschäft zu leiten, für den Fall, daß du mitgehen solltest.«
Er lächelte ein wenig von oben herab: »Ja, aber, Kind, ich soll doch nicht mit! Du hast doch selbst das Papier gesehen, das mich von allem Militärdienst entbindet.«
Er kannte Fränze gewiß nicht ganz. Sie erwiderte: »Falls Verwendung für dich ist, gehst du doch wohl mit!«
»Wenn ich mitgehe, ist das Geschäft ruiniert!«
»Und selbst, wenn dem so wäre … falls Verwendung für dich ist, gehst du mit. Und deswegen möchte ich lernen, das Geschäft und die Fabriken zu leiten. Du hast immer gesagt, daß du nur die Hand bist, die die Maschine in Gang setzt, dann ginge sie von selber. Den Griff müßte ich doch wohl lernen können!«
Da stand Albert Vogt. Sie hatte ihn mit seinen eigenen Worten geschlagen. Wie oft hatte er nicht in stolzem Bewußtsein der Vorzüglichkeit seines eigenen Werkes Fränze von dem fast automatischen Betrieb der Fabriken erzählt! Erkrankte einer der Werkführer, so konnte der Werkführer einer anderen Fabrik augenblicklich an seine Stelle treten. Die Fabriken waren sich gleich wie Wassertropfen. Wie oft hatte er nicht Fränze in Erstaunen versetzt durch die Schilderung des Hauptgeschäfts, das so peinlich genau geleitet wurde, daß er, Albert, in Wirklichkeit nicht teil an der Arbeit zu nehmen brauchte! Alles lag in der Ordnung, in der Verteilung der Arbeit, in dem Grundgedanken, der den Betrieb zu seiner Größe emporgetragen hatte. Er war nur die Hand, die die Maschine in Gang setzte. Aber die Maschine selber, ein jedes der kleinen Räder, hatte er, Albert Vogt, selbst erdacht und ausgearbeitet. Wieder und wieder hatte er die Worte geäußert: »So wie der Betrieb jetzt ist, könnte ich jederzeit mit derselben Leichtigkeit ersetzt werden wie eine von den Zigarrenrollerinnen in Thüringen!«
Kein Wunder, daß Fränze, die ihm blind glaubte, jetzt kam, um ihm in aller Eile die Kunst abzulernen. Er versuchte ihr zu erklären, daß es nichts nützen würde, wenn sie ihn auch ersetzen könne. Sie könne doch weder die kleinen noch die großen Räder ersetzen, die gerade jetzt Gefahr liefen, aus der Maschine herausgenommen zu werden.
Fränze gab nicht nach. Er hatte das Geschäft zu seiner Höhe gebracht. Konnte sie seine Arbeit ausführen, so mußte es doch wohl eine leichte Sache sein, die Arbeit jedes anderen zu bewältigen. Und Albert ließ sie ihren Willen haben.
Fränze versuchte sich das Geheimnis des täglichen Betriebes anzueignen. Sie durchlas geduldig die Stapel von Papieren, die jeden Augenblick hereingebracht wurden, einige mit roten Kreuzen versehen, andere mit blauen. Was das bedeutete, wußte sie nicht, und sie wollte nicht gleich damit anfangen zu fragen. Bald sah sie ein, daß, selbst wenn sie bis Mitternacht vor Alberts Schreibtisch saß, sie nicht die Hälfte der Papiere zu bewältigen vermochte, die er in ein paar Minuten erledigte – und sie verstand sozusagen nichts von dem Inhalt. Immer mißmutiger wurde ihr Ausdruck. Erst als sie in der Mittagspause in den langen Speisesaal hinabging, wo die Arbeiter und die Fabrikmädchen Kaffee tranken und das mitgebrachte Butterbrot verzehrten, lebte sie wieder auf. Hier fühlte sie sich zu Hause. Sie war aller Liebling. Und obwohl man sie mit dem Respekt behandelte, der sich gegenüber der Frau des Chefs geziemte, vertraute man sich ihr doch an, als gehöre sie zu ihnen.
Und hier sah sie zum erstenmal den Krieg aus nächster Nähe. In dieser halben Stunde begriff sie mehr von der Bedeutung des Krieges, als sie aus der Lektüre aller Zeitungen und aus allen Unterhaltungen mit klugen Männern und Frauen gelernt hatte.
Nach einem eifrigen, dreiwöchentlichen Studium, das sie bleich und mager machte, mußte Fränze erkennen, daß sie Albert nicht ersetzen konnte. Dahingegen hatte sie sich eine gewisse Fertigkeit angeeignet, Etiketten auf Zigarrenkisten zu kleben, Deckblätter zu schneiden, Zigarren nach der Farbe zu sortieren. Mit dem Rollen war sie schon ganz vertraut.
Als Albert ihre tiefe Enttäuschung sah, nahm er sich Zeit, ernsthaft mit ihr zu reden und ihr zu erklären, selbst wenn sie sich nicht dafür eignete, diesen Betrieb zu leiten – habe er doch selber zwanzig Jahre seines Lebens gebraucht, um sich dahinein zu versetzen –, so gäbe es doch Hunderte und aber Hunderte von Dingen, womit sie ihrem Lande nützen könne, falls es ihre ernsthafte Absicht sei, sich nützlich zu machen.
Das gewährte Fränze keinen Trost. Wohin sie sah, war alles bereits geordnet. Alle Frauen waren tüchtig, nur sie nicht. Es war für alles gesorgt, es war für alle gesorgt.
Nein, es war nicht für alle gesorgt. Während der drei Wochen, die Fränze im Geschäft zubrachte, hatte sie nichts von ihren Freunden auf dem Wildentenboden gesehen. Jetzt sah sie sie. Unter normalen Umständen führten diese Halbkünstler ein Dasein am Rande von Hunger und Entbehrungen. Der Krieg hatte sie wie Schiffbrüchige behandelt, die nackt auf eine öde Insel geschleudert werden. Wo war jetzt der Trödler, der für ein paar Mark einen aus einem großen Bilde herausgeschnittenen »Studienkopf« kaufen wollte? Und das Bild hatte eine Arbeit von Monaten gekostet!
Fränze hatte ihr Wirtschaftsgeld und ihr Nadelgeld; aber während sie unbeschränkte Herrin über die Anwendung des Nadelgeldes war, forderte Albert eine sorgfältige Abrechnung über das Haushaltungsgeld, und sie konnte sich nicht entschließen, ihn hinters Licht zu führen. Das Nadelgeld reichte nicht weit, wo es galt, ein paar Dutzend Familien über Wasser zu halten. Auch waren diese ihre Künstler stolz, sie wollten sich nicht von ihr ernähren lassen. Folglich mußte sie Arbeit für sie finden.
Plötzlich kam Fränze ein Einfall. Der Mann, der ein Bild malen konnte, mußte doch wohl auch einen Bretterzaun anstreichen, eine Tür masern, eine Decke weißen können! Je mehr Männer fürs Vaterland mitgegangen waren, um so größere Aussicht war da, Arbeit für die zu finden, die nicht mit waren.
Fränze begann einen Bettelgang bei ihren formellen Freunden. Sie erhielten keine Erlaubnis, sich zu drücken. Sie bestimmte selbst, was getan werden mußte. Und wer konnte wohl Fränze nein sagen! Auf diese Weise brachte sie Maler wie auch Bildhauer an, und sie bekamen ihre Arbeit besser bezahlt, als sie es sich, solange die Wildentenjagd sie lockte, jemals hatten träumen lassen. Aber sie konnte Schauspielern, Dichtern und Musikern – männlichen wie weiblichen Geschlechts – keine Bestellungen schaffen, Decken zu weißen, Gitter zu streichen, Stuckornamente zu formen.
Da half ihr Albert: »Siehst du, Fränze, wenn deine Freunde nicht zu stolz sind, das tägliche Brot auf anständige Weise zu erwerben, kann ich sie alle miteinander teils hier, teils in den Fabriken beschäftigen.«
Fränze jubelte bei dem Gedanken. Es erschien ihr wie ein Wink vom Himmel. Aber sie sollte bald erfahren, daß die Sache nicht so leicht ging. Warum nicht lieber gleich verlangen, daß sie Straßen fegen sollten? Oder Kehrichteimer leeren?
Fränze nahm ihre Zuflucht zu einer kleinen List. Eines Tages zeigte sie siegesstolz ein Papier, einen förmlichen Kontrakt, nach dem sie, Fränze, als Etikettenkleberin angenommen war. Das half. Man faßte das Ganze als guten Witz auf – als Witz, dessen ernster Sinn die Erlangung des guten täglichen Brotes war.
Es stellte sich nun heraus, daß diese Menschen, die als Künstler Zerrbilder ihrer selbst gewesen waren, als Arbeiter zuverlässig, wohlwollend, bescheiden, ja zum Teil sogar praktisch waren. Albert, der nie selbst nur einen Laufjungen anstellte, ohne ihm persönlich auf die Finger zu sehen, und, falls er tüchtig war, ihn mit rasender Eile vorwärtskommen ließ, prophezeite Fränze, daß unter diesen abgedankten Künstlern kaum einer sei, der nach dem Kriege geneigt sein würde, zu dem Hungerleben zurückzukehren. Sie kamen sich vor wie Krüppel, die den Gebrauch der linken Hand erlernen, nachdem sie der rechten beraubt waren, und das Leben erhielt eine neue und glücklichere Bedeutung für sie. Fränze wurde nicht müde, ihnen früh und spät einzuprägen, daß sie um Himmels willen ihre Kunst nicht aufgeben dürften. Aber während es immer etwas Widersinniges und Unschönes gewesen war, die heilige Kunst zu einer Handelsware zu machen, konnten sie von nun an durch materielle Arbeit erwerben, was sie brauchten, und der Kunst die festlichen Augenblicke widmen.
Fränze redete nur, um sie nicht mißmutig zu machen. In Wirklichkeit heilten ihre Worte die kranken Seelen.
Eines Abends sagte Albert zu ihr: »Wenn der Krieg weiter nichts Gutes geschaffen hat, so hat er doch eine Schar verkommener Existenzen gerettet und sie zu brauchbaren und glücklichen Menschen gemacht.« Und Fränze beugte den Kopf hinab und küßte ihm die Hand: »Wenn du Naturforscher gewesen wärest, was wäre dann aus ihnen geworden!« – –
Bald darauf ereignete sich etwas, das Fränzes Gedanken eine neue Richtung gab. Sie hatte, wie so viele kleine Mädchen aus der Provinz, wo man die halbe Zeit damit hinbringt, von »der großen Welt« zu träumen, ein lebhaftes Interesse für die Frauen, die sie mit dem gemeinsamen Namen »Halbwelt« bezeichnete.
Sie hatte einige Romane gelesen und bildete sich ein, ihr Inneres wie ihr Äußeres zu kennen. Sie stellte sich ihr Leben als etwas äußerst Anziehendes vor. Sie waren frei, sie waren schön, sie waren froh. Sie hatte sie in Paris und in Brüssel gesehen und ihre Toilettenpracht und ihre Haarfrisur und ihr Lächeln studiert, und sie war in ihrem Herzen – in dem Teil ihres Herzens, wo die Boheme-Fränze wohnte – nicht weit davon gewesen, sie zu beneiden. Auf Reisen hatte sie Albert immer geplagt, sie an solche Orte zu führen, wo sie in Mengen auftraten; und ihre Augen waren ganz bezaubert gewesen bei ihrem Anblick. Alles, was Albert von der Kehrseite ihres Daseins erklärte und erzählte, begriff sie nicht. Für Fränze war eine Dame der Halbwelt eine Frau, die verschiedene Männer liebte und das offen zugab.
Einmal wurde ihr die Binde auf eine so brutale Weise von den Augen gerissen, daß sie monatelang im Schlaf auffahren und die Hände gegen ihre Augen schlagen und laut jammern konnte. Sie hatte – gerade in dem Winter, ehe der Krieg ausbrach – Albert zu bereden gewußt, sie zusammen mit einigen Freunden nach dem » Palais de danse« zu führen. Man hatte an kleinen Tischen gesessen und Champagner getrunken, während die Damen der Halbwelt in der Versenkung vor den Tischen tanzten. Fränze und die Damen ihrer Gesellschaft waren ganz erfüllt davon. Hinterher wünschte Fränze ein anderes vielberufenes Nachtlokal zu sehen, das in Schatten versenkt war, seit das » Palais de danse« die große Frauenbörse wurde.
Widerstrebend gab Albert nach. Die Gesellschaft trat in den spärlich erleuchteten Saal. Hier und da saßen ein paar »Damen« halbschlafend über einem Glas Bier. Kein einziger Mann war zugegen.
»Wir müssen Champagner trinken!« sagte Albert. »Neugierigen Gästen wird nichts anderes verabreicht.« Der Champagner wurde gebracht und eingeschenkt, aber niemand hatte Lust zu trinken. Fränze gewahrte ein junges Mädchen, das sehnsüchtig nach ihrem Tisch hinüberlugte, und ein unbesonnener Gedanke stieg in ihr auf. Sie flüsterte Albert zu: »Gib ihr ein Glas Champagner!« Albert wollte gerade den Kopf schütteln, als ihn Fränzes flehender Blick entwaffnete. Er gab dem jungen Mädchen ein Zeichen, und Fränze reichte ihr ein gefülltes Glas Champagner hinüber. Das junge Mädchen erhob sich, sah die Gesellschaft starr an, sah auf das Glas, ohne es zu nehmen, und fauchte Fränze ins Gesicht: »Ich danke! Sie haben natürlich vorher hineingespuckt!«
Einen Augenblick war Fränze wie gelähmt, dann begriff sie. Tränen stürzten ihr aus den Augen. Sie hob das Glas an ihre Lippen, nahm einen Schluck und gab es dann ohne ein Wort dem jungen Mädchen, das noch immer dastand und die Gesellschaft gehässig anstarrte, der sie einen gemeinen Scherz zugetraut hatte. Jetzt nahm sie das Glas aus Fränzes Hand, als sei es eine köstliche Gabe. Sie nippte nur daran und sagte in einem herzzerreißenden Ton: »Verzeihen Sie … Es passiert mir und meinesgleichen nicht jeden Tag, daß man uns wie Menschen behandelt …«
Als Fränze den Saal verließ, erhob sich das junge Mädchen. Fränze wollte ihr die Hand reichen, sie aber führte sie mit einer Ehrerbietung an die Lippen, die Fränze in wildes Weinen ausbrechen ließ; sie umarmte das Mädchen, und ehe jemand sie daran hindern konnte, hatte sie sie auf den Mund geküßt.
Fränze wollte gern eine Strecke gehen, allein mit Albert gehen. So verabschiedete sich denn die übrige Gesellschaft von ihnen, halb Vogt wegen seiner sentimentalen Frau bemitleidend, halb gerührt über ihre Naivetät. Fränze und Albert gingen langsam und wortlos durch die selbst bei Nacht von Menschen wimmelnde Friedrichstraße. Ein feiner Sprühregen fiel. Fränze sah sich um, als sei ihr der Star gestochen. Zu beiden Seiten des Bürgersteigs gewahrte sie denselben Anblick: geschminkte und aufgeputzte junge Frauenzimmer mit zerzausten Straußenfedern und beschmutzten Ballschuhen.
»Warum gehen die hier? Jetzt?«
Albert antwortete: »So sind sie hier wahrscheinlich auf und nieder getrabt, seit die Theater geschlossen wurden. Es gilt den Tagelohn verdienen, ehe der Morgen anbricht!«
»Glaubst du, daß hier viele von ihnen jeden Abend gehen?«
»Die Glück haben, nicht. Die haben das nicht nötig, aber es gibt verhältnismäßig so wenige, die Glück haben …«
»Kann man denn aber gar nichts für sie tun?«
In der Nacht bekam Fränze Weinkrämpfe, und ihr Mann mußte schließlich, obwohl ihm das Herz beim Anblick ihrer Verzweiflung blutete, versuchen, hart mit ihr zu reden, damit das Weinen aufhörte.
Noch lange nachher weigerte sich Fränze, des Abends nach Berlin hineinzufahren. Alle Vergnügungen waren ihr wie vergiftet. Überall sah sie jene armen weiblichen Wesen der Nacht und der Finsternis mit zerzausten Federn und beschmutzten Schuhen umherirren – um den Tagelohn zu verdienen, ehe der Morgen anbrach.
Aber die Sommerreise, das Erlebnis, das die Begegnung mit Nadja und Aglaja zur Folge hatte, und später die strahlende Zeit bei der Fürstin und schließlich, aber nicht zum mindesten, die Gewißheit von Aglajas Verlobung mit Gaston le Lys lenkten ihre Gedanken von allem Traurigen ab.
Sie hatte die Angelegenheit fast vergessen. Und nun kam der Krieg. – –
Fränze war im Reichstagsgebäude gewesen und hatte alles gesehen, was menschliche Klugheit und Liebe im Verein vermocht hatten, um wieder gutzumachen, was der Krieg verbrach. In stummem Staunen und stiller Bewunderung war sie von einer Abteilung zur anderen gegangen. Nichts aber hatte einen solchen Eindruck auf sie gemacht wie die von Professor Biesalski, dem Vorsteher des Krüppelheims in Zehlendorf, geleitete Abteilung. Er führte sie selbst, und erst als sie sich entfernte, erfuhr sie, wer er war. Sie beschloß, Albert noch am selben Tage zu bitten, ob sie nicht einen Kursus unter seiner Leitung durchmachen könne. Sie wußte gar nicht, ob es einen solchen Kursus gab, aber es schien ihr, als sei dieser Mann einer der größten Wohltäter der Menschheit, und sie war der Meinung, daß sie das Wenige, was sie besaß, am besten unter seiner Anleitung fruchtbringend machen könne.
Ganz erfüllt von diesen Gedanken ging sie die Straße entlang, als sich plötzlich eine Hand auf ihren Arm legte. Es war Hilda Fersen – Hilda Fersen, ganz in Schwarz und mit einem Witwenschleier. Es geschah so viel, daß Fränze es nicht beachtet hatte, daß Artur Fersen von einem der französischen Brandpfeile getroffen worden war.
Hilda war verändert. Es war kein Klang in ihrer Stimme, es war kein Glanz in ihren Augen, aber sie klagte nicht. »Ich habe ja so viel Schönes, woran ich denken kann, und nicht eine einzige häßliche Erinnerung … Des Abends, wenn die Kinder schlafen, und ich finde, daß ich nun Zeit habe zu weinen, ist es mir immer, als strecke Artur die Hand nach mir aus und sagte: ›Hast du auch dein Abendgebet nicht vergessen, kleine Maus!‹ Und dann weine ich nicht …«
Fränze versuchte sie zu überreden, mit ihr nach dem Grunewald hinauszukommen. Hilda schüttelte den Kopf: »Ich muß nach Hause zu den Kindern … Und dann habe ich einen Patienten, der gepflegt werden muß!« Auf Fränzes fragenden Blick erwiderte sie: »Komm' mit, dann will ich dir unterwegs von ihm erzählen!«
Fränze begleitete sie, obwohl sie Gefahr lief, selbst zu spät zu kommen. Hilda wohnte weit draußen in Wilmersdorf in demselben Atelier, das sie bewohnt hatte, seit ihr Mann nach Davos reiste. Sie hatte keine Hilfe und hatte trotzdem in diesen Jahren sich und die Kinder fast ausschließlich durch Handarbeit ernährt, denn Artur Fersens Gehalt reichte nicht viel weiter als zur Bezahlung des Aufenthalts im Sanatorium. Fränze hatte ihr die größte Bestellung verschafft, die sie jemals gehabt hatte: eine ganze Deckenbekleidung für ein Turmzimmer in einer der Nachbarvillen im Grunewald. Und einmal hatte sie Hilda besucht, um zu sehen, wie die Arbeit fortschritt.
Nie würde sie den Tag vergessen. Die Sonne schien, und die Türen im Atelier, die auf einen von den Bäumen eines alten Gartens fast versteckten Balkon führten, standen weit geöffnet. Der ganze Fußboden des Ateliers war mit der Stickerei bedeckt. Hilda arbeitete ohne Vorzeichnung. Sie stickte, scheinbar aufs Geratewohl, Pflanzen, phantastische Riesenblumen, Vögel mit goldglitzernden Schwingen, Röhricht und blaue Wasser. Die Seide lag da in großen Haufen, in Hunderten von Nuancen. Draußen auf dem kleinen Balkon tanzten die Kinder miteinander, selbsterfundene Tänze, zu denen Hilda die Melodie summte.
»Wie viele Stunden am Tage arbeiten Sie?« hatte Fränze gefragt. »Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, mit Ausnahme der Zeit, die ich nötig habe, um das Essen für die Kinder zu bereiten. Des Abends mache ich rein und sehe ihre Kleider nach.« Sie hatte die prachtvolle Handarbeit zusammengerollt und erfüllte Fränzes Wunsch, die Kinder nach Musik tanzen zu sehen. Irma Dorothee trug ein mausgraues Kleidchen mit schwarzen Achselbändern und hatte Kreuzbandschuhe an den kleinen lebendigen Füßen. Der Junge war in schwarzem Sammet. Hilda begann mit einem Chopinschen Notturno, und die Kinder bewegten sich lauschend und sich wiegend umher, als suchten sie nach etwas, als berührten sie die Töne und liebkosten sie mit den Händen und dem Gesicht. Hilda ging zu einem Tschaikowskischen Walzer über, und mit wiedererkennendem Lächeln folgten die Kinder. Sie wechselte, jetzt war es ein Csardas, und plötzlich warf die sechsjährige Irma Dorothee den Kopf zurück, streckte den Oberkörper vor und fuhr umher wie eine kleine, berauschte Bacchantin, während der Junge sie mit fliegenden Sprüngen umtanzte. Fränze hatte nie ein schöneres Schauspiel gesehen. Der Schatten der grünen Bäume fiel auf den Fußboden und wirkte wie flatternde Schleier. Irma Dorothees Füße streckten und krümmten sich wie Katzenpfoten in den dünnen Kreuzbänderschuhen. Beide Kinder hatten einen sonderbar abwesenden, fast überirdischen Ausdruck in den Augen, während sie tanzten. Sicher hatten sie ganz vergessen, daß da eine Fremde zugegen war. So würden sie draußen auf offener Straße getanzt haben, wenn die Mutter dazu gespielt hätte.
Als aber Fränze staunend fragte: »Warum lassen Sie die Kinder nicht zum Ballett gehen?« da erwiderte Hilda, indem sie beschützend die Kinder in die Arme schloß: »Ich habe sie zu lieb! Jetzt tanzen sie nur, weil es ihnen Freude macht, weil es ihre Natur ist. Kämen sie zum Ballett, so würde der Ehrgeiz die Triebfeder werden. Es soll stets nur eine reine Freude für sie sein! …«
Fränze konnte sich nicht überwinden zu fragen, ob die Kinder sehr über den Tod des Vaters trauerten. Aber Hilda sagte, als hätten ihre Gedanken sich gekreuzt: »An dem Abend, als ich die Gewißheit erhielt, daß wir Artur nie wiedersehen würden, bat Irma Dorothee mich, Beethovens Trauermarsch zu spielen … Und ehe ich mich's versah, tanzten die Kinder dazu. Es war so schön. Sie tanzten mit Tränen in den Augen und mit einem Ausdruck von Schmerz, als verstünden sie außer ihrer eigenen Trauer auch die meine. Und als ich endete, flüsterte Irma Dorothee mir zu: ›Nun haben wir Papa in den Himmel hineingetanzt!‹ Erich aber machte stramm Honneur und sagte: ›Wir haben Leutnant Fersen in den Himmel hineingetanzt!‹
Sie zog den Schleier vor das Gesicht, um die hervorbrechenden Tränen zu verbergen: »Aber mein Patient! … Die Kinder fanden ihn, als sie hinuntergingen, um Milch für mich zu holen. Er lag unter dem Baum, wo im Sommer der Hund zu liegen pflegte, wenn die Sonne zu stark schien. Wir kannten ihn. Er wohnte nur drei Häuser von hier in der nächsten Straße. Wir wußten, daß der Hund tot war, aber er war so alt, und wir dachten, er sei an Altersschwäche gestorben. Erich bat mich, ob ich ihm nicht helfen wolle, den alten Mann hinaufzutragen, ›damit du, Mama, und Irma Dorothee ihn wieder gesund machen könnt!‹ Aber wir mußten einen Nachbar holen, der uns half, obwohl Erich alle Kräfte daransetzte. Der Arzt sagte, er sei fast verhungert, und meinte, er würde die Nacht nicht überleben. Ich wollte ihm erst ein wenig Suppe geben, aber er wollte nichts nehmen. Er bat nur, in Ruhe sterben zu dürfen. Aber als Irma Dorothee mit all ihrem Spielzeug zu ihm kam und weinte, weil er nicht essen wollte, da lächelte er sie an: ›Du hast Jason gekannt! War er nicht ein treuer Hund?‹ Und währenddessen brachte ich ihm etwas Suppe bei.
Als dann die Kinder schliefen, sagte er: ›Ich will am liebsten sterben! Lassen Sie mich in Ruhe sterben! Ich bin so lebensmüde‹ … Und ich meine, man hat nicht das Recht, einen Menschen am Sterben zu hindern, wenn er lebensmüde ist, nicht wahr? So versprach ich es ihm denn. Ich wollte nicht schlafen … er lag ja auch in meinem Bett, so setzte ich mich denn hin und nähte. ›Was machen Sie da?‹ fragte er. Ich erzählte, ich stickte, um Geld für die Hausmiete und für die Kinder zu verdienen. Und als ich dann von Artur erzählte, und wie glücklich wir gewesen waren, mußte ich weinen. Da sagte er: ›Legen Sie Ihre Hand hierher, dann kann ich die meine darauf legen, und dann will ich Ihnen von zwei anderen erzählen, die ebenso glücklich waren.‹ Und da erzählte er von Jason. Er hatte ihn zwölf Jahre gehabt, und der Hund war sein einziger Freund. Er verstand jedes Wort, das er zu ihm sagte. Wenn die Sonne schien, war er ebenso froh wie sein Herr, und wenn es regnete, schüttelte er den Kopf. Der Alte hatte gerade so viel Geld, daß er ein kleines Zimmer mieten und mit dem Hund leben konnte. Der war ja jetzt alt und konnte nichts weiter essen als in Milch aufgeweichtes Brot, aber wenn das Geld knapp war, wie einmal, als er einen Tierarzt für ihn hatte haben müssen, da wollte der Hund nur noch die halbe Portion essen, um auf die Weise das Geld wieder einzubringen. Er mochte gern Zeitung lesen. Sein Herr bekam die Zeitung immer am nächsten Tage von der Frau, wo er seine Milch holte. Und der Hund verstand jedes Wort. Am liebsten hörte er ausländische Politik und die Sterbeliste, denn er kannte ja einige von den Namen aus alten Zeiten. Aber als der Krieg ausbrach, da bekam er das kalte Fieber, so unglücklich war er. Er war bange, daß die Russen bis Berlin marschieren würden. Später, als alle die Siege gemeldet wurden, trug er den Kopf hoch vor Stolz. Er hatte nur einen Kummer, daß er zu alt war, um als Sanitätshund mitzugehen. Blind war er ja auch, aber er konnte seinen Herrn mit den blinden Augen sehen. Sonst sah er nichts. Er wollte so gern etwas für sein Land tun, aber er war ja arm, und alles wurde teurer. Aber eines Tages sagte die Wirtin – sie konnte den Hund nicht leiden, weil sie eine Katze hatte –, es sei eine Sünde und Schande von ihm, das faule Tier mit Brot und Milch zu füttern, wo da doch so viele kleine Kinder wären, die keine Milch bekommen könnten, und wo doch das Brot so knapp sei, daß vielleicht Hungersnot ausbrechen würde. Das hörte der Hund, und seither war er nicht zu bewegen, Nahrung zu sich zu nehmen. Er wollte den kleinen Hindern nichts wegessen. Der alte Mann sprach mit ihm und erklärte ihm, daß er, wenn er nicht äße, sterben müsse. Aber er wollte nicht essen. Da dachte er, wenn der Hund so klug war, nützte es ja nichts, sich dagegen aufzulehnen, und da ging er zum Tierarzt und bat ihn, er möge dem Hund etwas geben, damit er einschlafen könne. Aber von der Stunde an erging es ihm geradeso wie dem Hund. Er konnte nicht essen. Fortwährend mußte er daran denken, daß er den kleinen Kindern nichts wegessen wollte; das sei nun seine Weise, sein Leben für das Vaterland zu opfern. Und nun mache er sich auch nichts mehr daraus zu leben. Höchstens möchte er noch den Tag erleben, wo der Krieg vorbei war und Deutschland über alle seine Feinde gesiegt hatte – nur, um es Jason erzählen zu können. Aber dann dachte er wieder, da wo der war, bekäme er es schon zu wissen … Ich glaube, er erzählte von dem Hund, bis der Morgen dämmerte; er erzählte so langsam, und jetzt ist es mir, als hätte ich das alles erlebt. Ich quäle ihn nicht mit dem Essen, aber jeden Tag überreden die Kinder ihn, ein weich gekochtes Ei zu essen und etwas Suppe zu trinken. Ich glaube freilich nicht, daß er wieder gesund wird. Er sehnt sich zu sehr nach seinem Hund …«
Sie waren am Hause angelangt. Als sie die vielen Treppen hinaufgingen, kam ihnen Irma Dorothee entgegen. Sie legte den Finger auf den Mund: »Geh leise, Mama, der alte Mann schläft so sonderbar. Er sieht so aus wie Papa, als wir ihn in den Himmel hineintanzten … das sagt Erich auch.«
Hilda legte warnend die Hand auf Fränzes Arm: »Laß die Kinder nichts merken, falls …« Sie vollendete den Satz nicht.
Als sie hineinkamen, lag der alte Mann friedlich lächelnd da. Er war bereits kalt.
Erich sagte: »Mama, ich habe einen neuen Wärmebeutel gemacht und ihn an das Fußende gelegt, aber er ist noch immer so kalt …« Da flüsterte er Hilda zu: »Mama, er sagte, Jason wäre so betrübt über die vielen Russen, die in den masurischen Sümpfen ertrunken seien … War das denn so schlimm? War das schlimmer als die Pfeile, die Papa trafen?«
Fränze hatte niemals eine Leiche gesehen und wunderte sich darüber, daß der Anblick so friedlich war und gar nicht furchteinflößend. Sie wollte von dem Kaufmann an der Ecke an Albert telephonieren, daß er kommen sollte. Aber Hilda wollte nichts davon hören. »Schicken Sie mir nur einen Arzt, denn hier kann er ja über Nacht nicht bleiben. Das ist alles, was ich nötig habe!« Plötzlich wurde sie dunkelrot: »Wollen Sie mir nicht etwas Geld leihen? Ich habe nicht mehr viel … Er war so arm, und ich möchte nicht, daß sie ihn auf dem Armenfriedhof begraben …«
Fränze bat, um Jasons willen, für das Begräbnis des armen Mannes sorgen zu dürfen.
Es war dunkel, als sie auf die Straße hinabkam, und sie mußte lange warten, ehe sie einen Wagen fand, der sie nach Hause bringen konnte. Als sie einsteigen wollte, trat ein junges Weib mit ausgestreckter Hand auf sie zu: »Ich bin hungrig …«
Das war das junge Mädchen von jenem Abend.
Fränze faßte sie bei der Hand: »Kommen Sie mit!« Ein wenig scheu, ein wenig unwillig ließ sie sich in den Wagen hineinziehen, und nun wußte Fränze nicht, was sie sagen oder tun sollte. Was würde Albert zu einem solchen Gast sagen? Einen Augenblick dachte sie daran, sie oben in einem der leeren Fremdenzimmer zu verstecken, schob aber den Gedanken von sich. Das hatte Albert nicht verdient.
Der Anblick der großen, roten Villa, die hinter einer mächtigen Mauer lag, schreckte das junge Mädchen offenbar ab: »Geben Sie mir lieber etwas Geld …« Aber Fränze zog sie mit sich hinein.
Alinda nannte sie sich.
Worüber Albert eigentlich mit ihr sprach, als sie zu Mittag gegessen hatten und er sie mit sich in das Herrenzimmer nahm, erfuhr Fränze niemals. Aber die Alinda, die eine Stunde später herauskam, war eine andere als das scheelsehende, verhärtete, bedauernswerte Weib, das hineingegangen war. Fränze lieh ihr ihre langärmelige schwarze Schürze, und sie fuhr am nächsten Morgen mit Albert nach dem Kontor. Fränze war nahe daran, vor Ungeduld zu vergehen. Um die Mittagszeit konnte sie die Ungewißheit nicht länger ertragen und machte sich auf, um zu sehen, was aus Alinda geworden war.
Albert tat ganz unbefangen, als sie erschien. Er fuhr fort, in seinen Papieren zu blättern und seinen Namen zu unterschreiben. Und Fränze wußte, daß Fragen nicht half. Eine kleine halbe Stunde war vergangen, da blickte Albert empor, als habe er Fränze erst jetzt gesehen. »Richtig, ich habe dir etwas zu zeigen!« Und er führte sie durch eine Reihe von Kontoren, bis er vor einem Pult haltmachte: »Darf ich dir unsere neueste Erwerbung vorstellen: Fräulein Bluhme!« Alinda erhob sich strahlend und verlegen. Albert beugte sich über das Pult und untersuchte ihre Arbeit: »Hm, der Anfang ist ja nie amüsant. Ich könnte mir auch eine angenehmere Arbeit denken, als vom Morgen bis zum Abend Adressen auf Briefumschläge zu schreiben, aber es hilft ja immerhin, wenn man eine gute Schrift hat …!«
»Ich habe Fräulein Bluhme gesagt, daß sie in einem der Fremdenzimmer wohnen kann, bis sie ein Zimmer in der Nähe des Geschäfts gefunden hat …« Bedeutungsvoll fügte er hinzu: »Bei einer netten Familie!«
Und er ging weiter mit Fränze, als sei diese Unterhaltung ganz zufällig gewesen.
Fränze verstummte, wie immer, Alberts schnell entschlossener Handlungsweise gegenüber. Sie wollte gern etwas sagen, aber sie vermochte es nicht herauszubringen. Erst am Abend, als sie im Bett lag, kam es: »Albert! …« »Ja, Herzblatt!« »Glaubst du nicht auch … daß da viele von … von Alindas Freundinnen sind … die …«
Albert schob den Arm unter ihren Kopf: »Sind wir uns nicht einig darin, daß es am besten ist, wenn ich das Geschäft noch ein paar Monate leite, ehe ich meiner süßen kleinen Frau die Zügel übergebe?«
Fränze schnappte nach Luft. Wo wollte er hinaus? Ja, jetzt kam es. »Fräulein Bluhme und ich haben diese Frage miteinander erwogen, und sobald es sich machen läßt, schaffen wir Platz für mehrere von ihren … Freundinnen. Aber du wirst verstehen, daß es sich darum handelt, taktvoll zu Werke zu gehen, wenn wir es nicht bereuen sollen. Die meisten Alindas haben keine gute Handschrift, und die wenigsten Alindas würden sich gleich dazu eignen, in ein Kontor zwischen andere Menschen gesetzt zu werden. Aber ich habe meinen eigenen Plan. Wir lassen die Mädchen kommen und sehen sie uns an. Wer Lust hat, wird in die Fabriken nach Thüringen geschickt. Für die übrigen läßt sich hier wohl etwas finden. Wenn nichts anderes, so können sie auf dem großen Boden sitzen, auf dem du deine Verwundeten unterbringen wolltest, und dort Decken und Kissen für die Soldaten machen …«
Fränze sah aus, als höre sie Engel singen: »Ja, aber wenn … wenn da nun viele kommen … viele … mehr, als wir Platz haben?«
Albert lächelte ruhig und selbstbewußt: »Hast du den obersten Boden über den Kontoren gesehen? Wir haben ihn früher zu Lagerräumen benutzt, aber augenblicklich werden alle Waren weggeschickt, sobald sie fertig sind. Glaubst du nicht, daß da Platz genug ist für eine ganze Schar?« »Woher sollen sie denn Essen bekommen?« »Das können sie sich im Keller kochen, die Tüchtigsten müssen für die kochen, die es nicht können. Und wenn das Essen auch nicht ganz so gut wird wie im Adlon, so glaube ich doch nicht, daß sie deswegen streiken werden …«
Mit einem fast hörbaren Herzklopfen erwiderte Fränze: »Aber wenn … wenn nun … die anderen jungen Mädchen böse werden, weil du … diese Art dahin nimmst?«
Albert Vogt richtete sich auf dem Ellbogen auf und sah Fränze erstaunt an: »Denkst du etwa, daß ich ihnen große Plakate auf den Rücken kleben will, so daß ein jeder sehen kann, woher sie kommen? Oder meinst du, daß ich mein Personal frage, wen ich beschäftigen darf? Ich merke, meine kleine Fränze hat gar nicht gesehen, daß sich ihre liebe Stadt seit Anfang des Krieges verändert hat. Früher konnte man meilenlang in den Straßen Berlins treppauf und treppab wandern, ohne auch nur eine Frau zu finden, die etwas Nützliches vornahm. Jetzt möchte ich eine Prämie auf jede Dame innerhalb und außerhalb der Gesellschaft setzen, die nicht daran denkt zu helfen – – nach Kräften. Geht die Sache so, wie ich denke, dann werde ich nach dem Kriege noch ein paar neue Fabriken in Thüringen oder im Harz errichten. Ist meine kleine Fränze nun zufrieden?«