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Glorias erster Brief

Liebe, allerliebste Evelyn!

Kaum kann ich es begreifen, daß es Wirklichkeit ist, lebende, leibhaftige Wirklichkeit, daß ich Erlaubnis habe, allein in der Welt umherzustreifen, ein ganzes halbes Jahr, sechs dicke, fette Monate … Evelyn, das ist zu schön, um Wirklichkeit zu sein. Aber Du bist die beste und süßeste Schwester, die jemals erschaffen wurde, und wenn ich mich einmal allen Ernstes in einen Mann verliebe und mich mit ihm verheirate, und Du findest, daß er klüger oder smarter ist als Dein Harold (den ich ja weder das eine noch das andere finde), dann, bitte schön, ich schenke ihn Dir mit Haut und Haar. Und alle unsere zwölf Kinder, die mir einmal prophezeit sind, kannst Du mit in den Kauf bekommen! Und dann sage noch, daß ich nicht dankbar bin!

Die Rosen welkten den allerersten Tag. Aber was konnte ich auch erwarten bei der Wärme? Das war auch ebensogut für sie, als von meinen Fingern zerpflückt und ins Meer geworfen und von Haifischen und anderen Krokodilen verschlungen zu werden. Übrigens – wenn mir ein junges in den Weg läuft, kaufe ich es und breche ihm die Giftzähne aus (denn es hat doch wohl Giftzähne, oder haben die nur die Schlangen?) und zähme es. Ich sehe mich schon im Geiste im New Rocheller Park mit einem Krokodil an einem blauen Band um den Hals herumziehen.

Über Nacht mußte ich plötzlich an etwas denken. Harold hat doch nicht etwa eine Schar von Detektivs gedungen, die mir auf den Fersen folgen und Berichte heimsenden sollen? Seiner Vorsicht könnte das ähnlich sehen, aber mir würde es den ganzen Spaß verderben, und dann wäre ich erst gezwungen, vom Morgen bis zum Abend tolle Streiche zu machen, um ihnen etwas zu tun zu geben. Grüß' ihn von mir und bestell' ihm das! Sonst ist er gut genug für einen Schwager, der die Verantwortung für seine verwaiste, arme Schwägerin hat. Bestell' ihm auch das von mir!

Jeden Morgen bringt mir der Steward zusammen mit meiner grape fruit in einen Eisblock eingefrorene rote Nelken. Er setzt den Block gerade vor mich hin, und alle Leute sehen mich an, als wollten sie sagen: Daß jemand so verliebt in das Mädel sein mag! Natürlich sind die Nelken von Bob, aber das nützt ihm nichts. Ein Mann, der zu faul ist, um Golf zu spielen, und sich nicht dazu bequemen kann, sein Auto selbst zu lenken, liegt außerhalb meines Horizonts. Ich habe erzählt, sie wären von grandpapa, aber niemand glaubt mir. Darf ich fragen, warum sollte ein alter Herr nicht galant sein können? Daß grandpapa tot ist, geht sie nichts an.

Den Fall gesetzt, Du hättest einen armen Mann geheiratet! Was wäre dann aus mir geworden? Das einzige, wozu ich zu gebrauchen bin, wäre wohl, daß ich an Stelle eines Papageis von irgendeiner alten Dame angenommen würde, die in Schlaf geplaudert werden müßte. Denn plaudern kann ich. In der Beziehung bin ich ein Perpetuum mobile. Was hab' ich doch während dieser Tage hier an Bord geredet! Ich bin besorgt, auch nur eine einzige Minute von meinen kostbaren sechs Monaten zu vergeuden. Ich habe mir vorgenommen, so viel zu erleben, daß ich mich während der ersten Million von Jahren in meinem Grabe nicht langweilen werde. Im Grunde beruhigt es mich, arm zu sein – mit einer Evelynschwester im Hintergrund – denn dann hat man weit mehr Möglichkeiten, etwas zu erleben. Was erlebst Du etwa?

Ich denke daran, im Zwischendeck zurückzureisen. Da schlafen sie in zwei Schichten wie in Käfigen, ich bin da unten gewesen und hab' es allzusammen gesehen. Sie holen das Essen in Blecheimern, und die meisten essen im Liegen. Da ist eine italienische Familie, denk' nur, der Mann war mit bei den Erdsprengungen in New Rochelle, damals, als die Steine in die Luft flogen und das Dach bei uns zertrümmerten. Ist das nicht ein Zufall! Sie spielen alle Mandoline und Gitarre und singen. Sie essen Knoblauch und Apfelsinen zusammen. Was würdest Du sagen, wenn ich, bloß aus Unsinn, Mandoline spielen lernte und anfinge, auf den Straßen zu singen?

Du brauchst nicht gleich Schüttelfieber zu bekommen. Ich will mich schon durchschlagen. Nicht für eine Lustjacht mit seidenen Segeln oder einen englischen Herzog mit hundert Ahnen wollt' ich meinen Ju-Jitsu-Griff vertauschen. Du hättest mich bloß sehen sollen, wie ich sie gestern an Deck einen nach dem andern abfertigte, den Doktor, Offiziere, Fahrgäste. Einer von den Offizieren mochte es nicht, er hatte eine Ader an der Stirn, die sah aus wie ein Regenwurm. Und nun bin ich dabei, alle Damen Ju-Jitsu zu lehren, Du weißt, die ersten Anfangsgründe, indem man mit der Hand gegen eine Stuhllehne schlägt, bis der Muskel hart wird wie ein Stein.

Sag' mal, kennst Du einen Höhlenwurm? Ich auch nicht. Er wohnt in Höhlen und hat keine Augen, weil er blind ist. Hier ist ein Professor, der Höhlenwürmer studiert und ihnen Augen wiedergibt, womit sie sehen können. Er füttert sie selbst, wenn er in Deutschland ist. Wenn sie Junge bekommen, flascht er sie wohl selbst auf. Wir können nicht zwei Minuten Frieden halten. Er nennt mich ein oberflächliches, verhätscheltes Kind. Reizend, nicht?

Im Salon hängt ein Bild der Kronprinzessin. Wenn sie nicht mit dem Kronprinzen verheiratet wäre, würde ich sie besuchen und sie nach La Rochelle einladen. Hier ist ein junger Schotte – er baut Brücken – der wird jedesmal dunkelrot, wenn er an dem Bild vorübergeht. Der Ärmste, er sollte sich doch lieber mit mir verloben.

Im Salon steht ein Klavier, das von selbst spielt. Nicht die Art, die ich hasse, wo man davor sitzt und mit zwei Pedalen trampeln muß, ich denke mir, wie in der Tretmühle in einem englischen Gefängnis. Nein, ein Steward steckt eine Rolle hinein und geht seiner Wege, und dann spielt irgendein Künstler, ohne sich erst auf dem Sessel herumzudrehen oder die Hände im Taschentuch abzutrocknen. Paderewski erkannte ich sofort, obwohl ich seine rote Perücke vermißte. Mein Höhlenwurm-Professor wurde förmlich rasend, weil ich sagte, wenn ich mich nur entschließen wollte, täglich fünf Stunden zu üben, könnte ich wohl ebensogut spielen lernen wie Paderewski. Weiter fehlte mir nichts, mit meinen langen Fingern und meinem losen Handgelenk. Er sagte, ich wäre unwissend. Ich vertraute ihm an, daß ich sowohl Ruskin als auch Nietzsche und Walt Whitman studiert hätte, aber das imponierte ihm nicht. Die Deutschen sind so eingebildet. Er wollte nicht einmal glauben, daß grandpapa wie auch seine Frau richtige Deutsche waren. So amerikanisch muß ich aussehen. Und kann ich vielleicht nicht Sonette dichten?

Ich habe eine Entdeckung gemacht. Leute auf See sind unglaublich neugierig. Sie fragen nach Dingen, daß einem förmlich der Atem wegbleibt, wie wenn man im Zuge sitzt und ein anderer Zug vorbeifährt. Das ist am Ende eine Art Seekrankheit. Ich habe erzählt, daß mein Vater in Sing-Sing gestorben sei, und daß ich eine Empfehlung an den Papst hätte, weil einer von seinen Söhnen zusammen mit meinem Schwager in Cambridge studiert habe, daß ich von dem »Journal« beauftragt sei, alle Könige und Kaiser und Anarchisten in ganz Europa zu interviewen, zu einem Dollar das Wort. Was soll ich nur machen? Wenn die Leute fragen, wollen sie eine Antwort haben, und es hat doch keinen Zweck etwas zu sagen, was sie selbst erraten können.

Ich sitze am Tisch des Kapitäns – oh, ich merke sehr wohl, daß Harold ihn gebeten hat, sich meiner besonders anzunehmen! Auf der einen Seite, nur mit einem gleichgültigen Mann dazwischen, der sich Notizen auf den Manschetten und dem Tischtuch macht, habe ich eine spanisch-französische Dame, die wie die ägyptischen Prinzessinnen auf den vergoldeten Sargdeckeln im Metropolitan-Museum aussieht. Ihre Augen sind so groß wie zwei von meinen. Wenn sie böse würde, könnte sie, davon bin ich fest überzeugt, auch mit den Augen beißen. Aber wenn sie des Abends »La Paloma« mit einem spanischen Schal um die Schultern singt und mit den Absätzen dazu klappt – große Füße hat sie – dann ist es, als wenn die Feuerfliegen im Park schwärmen, und ich sterbe, wenn ich nicht tanzen kann.

In der zweiten Kajüte ist ein Tanzlehrer, der Tangostunden gibt, von sieben Uhr morgens an! Und ein Pfarrer, der behauptet, daß man in Sodom und Gomorrha auch Tango getanzt habe. Du, sie waren so vorgeschritten im Alten Testament! Aber, Evelyn, des Abends sind da so viele Sterne und Meerleuchten und Monde und Delphine, daß ich wirklich verstehen kann, daß sich alle Fahrgäste trotz Salzsäure und Soda und Pfarrer erst müde tanzen.

Mir gegenüber bei Tische sitzt ein Baltimore-Mädel, das hundertmal so arg flirtet wie Deine Schwester. Sie hat einen ganzen Koffer voll von Trauerkleidern, zum Gebrauch in Hamburg, weil sie mit einem deutschen Ingenieur verlobt war, der starb. Jetzt will sie hinüber und der Familie trauern helfen. Vorläufig erstrahlt sie in allen Farben des Regenbogens.

Ich glaube, ich bin die einzige an Bord, die nicht verliebt ist. Ich mache wirklich die redlichsten Anstrengungen. Vielleicht denke ich zuviel an die Reise. An meine ganz alleinigen sechs Monate. Ich habe eine Menge Bekanntschaften gemacht und habe nicht einen einzigen Einführungsbrief weggeworfen. Du kannst Dich darauf verlassen, ich werde in jeder Stadt, wohin ich komme, Leute besuchen.

Jede Nacht mache ich nun neue Pläne. Erst die Nordlandreise mit der Mitternachtsonne, dann Italien und die Pyramiden (dumm, daß sie nicht in Europa liegen, was haben sie im Grunde mit Ägypten zu schaffen!) und Konstantinopel. Ich habe halbwegs daran gedacht, die Frauenfrage in der Türkei gründlich zu studieren und später ein Buch darüber zu schreiben. Auf Paris freue ich mich am allermeisten. Ich will Bekanntschaften machen – natürlich durch den Gesandten – will den Präsidenten kennen lernen und Rodin und Henry Bergson, von dem im vorigen Jahr so viel geredet wurde, und Sarah Bernhardt. Wäre es nicht ein guter Gedanke, ein paar Stunden bei ihr zu nehmen? Wer weiß, vielleicht habe ich großes Schauspieltalent – in der Schule war ich wenigstens eine von den Besten. Ich hätte auch wohl Lust, ein wenig bei der Duncan zu tanzen, aber ich weiß nicht, ob die Zeit ausreicht. Ein Monat in Paris ist das allerhöchste! Dann ein Abstecher nach Deutschland, meinem »Vaterland«, wie grandpapa zu sagen pflegte; aber da ist wohl nicht viel zu sehen. Ja, in Wien soll ja ein berühmter Dom sein, und in Berlin wohnt der Kaiser, aber vielleicht ist er mit auf dem Schiff nach der Mitternachtsonne, er reist so viel, und dann könnte ich Berlin überschlagen. Nicht wahr? Moskau und Petersburg sollte man wohl am liebsten im Winter im Schlitten sehen, und ich bin ja so verfroren. Aber London … Ich will Bernard Shaw aufsuchen, um mit ihm über mein Kubistendrama zu reden. Wenn er nur nicht zu alt ist, um es zu verstehen. In London sollen so viele Anarchisten sein. Es würde mich amüsieren, die zu sehen. Ich stimme nicht mit ihren Grundsätzen überein, obwohl ich ja einsehe, daß es ungeheuer spannend sein muß, Bomben zu werfen.

Aber Evelyn, eines ist sicher: Ich heirate nie einen Europäer. Nie im Leben. Stell' Dir nur vor, Höhlenwürmer aufflaschen zu müssen! Oder mit einem Schlüsselbund am Gürtel gehen zu müssen wie die deutschen Frauen! Ein Europäer ist eleganter als die Herren bei uns und amüsanter zum Zanken, denn er nimmt alles viel ernsthafter, aber sich mit ihm zu verheiraten und kommandiert oder geprügelt oder betrogen zu werden – nein, ich bedanke mich bestens.

Das nächste Mal mehr. Die Augen werden mir so klein. Gute Nacht, Evelynschwester. Gruß und Kuß von Deiner Dich liebenden

Gloria.


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