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Miß Gloria hatte sich mit ihren sechs splinterneuen Monaten in der Tasche und ihren sechzehn Paaren splinterneuer Schuhe im Koffer glücklich über den Atlantischen Ozean hinübergelächelt und -geplaudert. Sie hatte sich fleißig in sämtlichen deutschen Geschlechtern und Fällen geübt und den Höhlenwurm-Professor zur Verzweiflung gebracht durch ihre Behauptung, daß sie ebensogut deutsch sei wie er. Als sie nach Bremen kam, hörte sie von einem Dampfer, der am nächsten Tage von Hamburg direkt nach dem Land der Mitternachtsonne abginge. Natürlich benutzte sie den Dampfer.
Die Mitternachtsonne war ihr eine Enttäuschung. Sie hatte sie sich eigenartiger gedacht. Sie glich ja nur einem Mittelding zwischen einem blassen Mond und einer übernächtigen Sonne. Ihre einzige Eigentümlichkeit bestand darin, daß sie zu einer verkehrten Zeit schien. Die Fjorde waren mit ganz gewöhnlichem Wasser angefüllt. Nebel und Salzwassergischt schmeckten da oben bei der Mitternachtsonne nicht einen Deut anders als draußen vor Sandy Hook, und seekranke Leute führten sich genau ebenso auf wie auf dem Amerikadampfer.
Obwohl sie nichts erlebt, was sie strenggenommen nicht auch in New Rochelle hätte erleben können, hätte sie doch um keinen Preis der Welt diese Reise entbehren wollen. Hätte es keine Mitternachtsonne gegeben, so würde sie keine Gelegenheit gehabt haben, Leutnant von Treschau zu photographieren, aus dem sie sich übrigens nicht das geringste machte. In ihrem Tagebuch behandelte sie ihn mit der größten Überlegenheit, schrieb aber doch alle seine kritischen Bemerkungen in Parenthesesätzen auf. Sein Freund Gaston le Lys war viel mehr Weltmann; aber der sah ja aus, als habe er irgendeine Lorelei in den verkehrten Hals bekommen. Glorias schönste Schuhe und ihre auffallendsten Kleider vermochten das Loreleibild nicht aus ihm zu verscheuchen.
In einem der norwegischen Fjorde, zwischen hohen, grünbekleideten Felsklippen, sagte Helwig von Treschau: »Wenn es im Himmel nicht eine Stelle gibt, die mich an Thüringen erinnert, mache ich mir nichts daraus, in den Himmel zu kommen!« Und er schilderte ihr Thüringen als einen schmalen Bergpfad zwischen hohen, zerklüfteten Felsen, von denen Bäche herabstürzten, und der Bergpfad selber war mit Menschen angefüllt, die Fußwanderungen machten. Er schilderte ihr den Sonnabend vor Pfingsten, wenn oben von Schwarzburg her die Kirchenglocken läuteten und die roten Kastanien blühten und die Vögel sangen, so daß man seine eigene Stimme nicht hören konnte. Er sprach von Ilmenau, und tief drinnen in seinen Augen zuckte ein Blitz auf, der Gloria eifersüchtig auf Ilmenau machte.
Sie erzählte ihm, daß ihr Großvater in Thüringen geboren sei, in einem Haus unter roten Kastanien, und daß sie jetzt ganz Thüringen durchwandern wolle, um das Haus zu finden. Er zog die Augenbrauen zornig zusammen, wie er es jedesmal tat, wenn Gloria ihn gefoppt hatte, und sagte, es gäbe gewisse Dinge, die sich eine Dame, die auf ihre Würde halte, nicht erlauben könne, und dazu gehöre das Herumstreifen auf der Landstraße ohne Begleitung. Eines weiteren bedürfte es nicht. Und wäre Thüringen mit Schlangenstacheln und Glasscherben gepflastert gewesen und hätte Gloria weder Schuhe noch Strümpfe besessen, die Fußwanderung hätte sie dennoch durchführen müssen.
Aber wenn Leutnant von Treschau so besorgt um ihren Ruf sei, könne er ja den Chaperon machen! Hierauf erwiderte er nichts und sprach nicht mehr mit ihr bis am letzten Tage, wo er um sie anhielt. Gloria fühlte sich verpflichtet, ihm einen Korb zu geben, hauptsächlich um zu sehen, wie er das aufnehmen würde. Er verneigte sich nur und bat sie zu vergessen, daß er das Unerreichbare gewünscht hatte.
In Hamburg kaufte sie sich einen Ranzen und packte ihn voll von Dingen, die sie später im Hotelzimmer und an Grabenrändern in Thüringen liegen und umhertreiben ließ.
Da waren keine Räuber in Thüringen. Da waren kleine süße Walderdbeeren und kleine Bäche, die sich dazu eigneten, daraus zu trinken und hinterher die Füße hineinzustecken und einen Mittagsschlaf daran zu machen. Da waren keine mächtigen Wälder und keine Berge mit ewigem Schnee und Bernhardiner Hunden, um den Wanderer aufzustöbern, der sich im Schneesturm verirrt hatte; aber da waren liebliche Hügel, auf die man hinaufklettern konnte, und von wo aus man über andere liebliche Hügel blickte. Da waren Kühe mit klingelnden Glocken und Wege, die mit kleinen hölzernen Gasthäusern besetzt waren, in denen man blaue Forellen essen konnte. Da waren Kreuzwege, an denen blinde Männer saßen und Violine spielten. Da waren kleine Städte mit spitzgiebeligen Häusern. Da waren Gewitter mit brüllenden Echos von allen Seiten, als wenn jede kleine Klippe ihren privaten Donnerapparat in sich trage. Gloria hielt Ausguck nach roten, blühenden Kastanien mit Häusern darunter; aber da sie den Namen des Ortes vergessen hatte und die Kastanien abgeblüht waren und das Haus sicher niedergerissen war, so fand sie es merkwürdigerweise nicht.
Sie hatte die größte deutsche Grammatik gekauft, die zu haben war, und übte sich in Verben und Adverbien mit derselben Ausdauer wie seinerzeit in Ju-Jitsu. Sie plauderte mit jedem wandernden Handwerksburschen und jedem Fabrikmädchen oder Studenten oder Bettler, die ihr in den Weg kamen, und sie war außerordentlich zufrieden mit ihren Fortschritten im Deutschen.
Eines Tages lag sie am Rande eines Baches und schlief. Sie hatte sich Blasen an den Hacken gelaufen und hatte in Ermangelung von Salbe die Füße mit Streifen umwickelt, die sie von ihrem einzigen Taschentuch abgerissen hatte. Sie erwachte mitten in einem schönen Traum, daß Leutnant von Treschau oben bei der Mitternachtsonne Kirschen pflückte und sie ihr in den Mund steckte.
Als sie sich erhob, fiel ihr ein Kirschkern aus dem Mund. Sie untersuchte ihn. Er war frisch, und sie spürte noch seinen Geschmack. Sie griff nach ihren Schuhen, – da lag ein Bündel Kirschen in jedem Schuh und in dem einen unter den Kirschen ein Papier, das wie ein kleiner Brief geschlossen war. Wohl eine Liebeserklärung von »ihm«, der ihren Schlaf belauert hatte! Aber es war ein Heftpflaster und nichts weiter. Er stand wohl verborgen hinter irgendeinem Baum. Auf einem Steinhaufen, ein wenig weiter hin, lag wieder ein Bündel Kirschen. Und wieder ein wenig weiter hing ein Bündel an einem Nähfaden von einem Baum herab. Gloria wurde glühendrot … Vielleicht hatte Leutnant von Treschau sich geängstigt, daß jemand sie überfallen würde, und war ihr zugleich als Schatten und Ritter nachgeschlichen!
Da sah sie in einiger Entfernung vor sich zwei große Frauengestalten. Es währte nicht lange, bis Gloria sie eingeholt hatte. Die eine hatte rabenschwarzes Haar, die andere war rotblond. Ihre kittgrauen leinenen Kleider waren mit einem blanken Ledergürtel zusammengehalten, sie hatten lange, schmale Füße, Rucksäcke über dem Rücken und aßen im Gehen Kirschen.
Gloria machte nicht viel Umstände. Sie fing an, mit ihnen zu plaudern, als habe sie sie viele Jahre gekannt, und nach kurzer Zeit wußten sie alles von ihren sechs Monaten und der Mitternachtsonne. Plötzlich entschlüpfte Leutnant von Treschaus Name ihrem Munde. Da lachten die jungen Mädchen im Chor: »Dann sind Sie es also, die ihn zusammen mit der Mitternachtsonne photographiert hat?« Gloria neckte: »Ach, dann sind Sie es also, die mit Petroleum handeln!«
Sie entsann sich, daß Leutnant von Treschau ihr von seinen Cousinen erzählt hatte, in Verbindung mit Petroleum. Sie lachten noch mehr, und die Dunkle sagte: »Ich stehe im Laden, meine Schwester führt die Bücher!«
Als Gloria hörte, daß Helwig seinen Besuch angekündigt hatte, sobald sie von dieser Fußwanderung zurück sein würden, und daß sein Freund mitkommen werde, war sie nahe daran, sich auch eine Einladung auszubitten, dachte aber, daß sie wohl nicht genügend Platz für so viele Gäste hätten.
Gegen Abend kamen sie nach einem Dorf, wo ein reicher Hofbesitzer seinen einzigen Sohn verheiratete. Man hörte die Musik schon aus der Ferne, und die drei jungen Mädchen konnten sich nicht enthalten, dem Klang zu folgen, bis sie gerade vor dem Hochzeitshaus waren, wo man sie höflichst aufforderte, näherzutreten und einen Bissen Brot und einen Tanz mitzunehmen. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Gloria vergaß ihre wunden Hacken und ihr Sportkleid und tanzte amerikanisch mit den deutschen Bauern, bis die Sonne aufging. Die andern tanzten auch mit. Jetzt war es zu spät, um ein Gasthaus zu suchen; so nahmen sie denn auf dem Heuboden fürlieb, wo die übrigen Gäste ihre Müdigkeit ausschliefen.
Im Laufe des Nachmittags gingen sie weiter. Mitten auf der Landstraße spazierte eine Henne mit ihrer Schar Küchlein. Eine Automobilhupe tutete unheilverkündend, und die Henne gluckste erschreckt von einer Seite des Weges auf die andere. Die drei jungen Mädchen versuchten, die Küchlein in Sicherheit zu bringen, aber es gelang ihnen nicht, und das Automobil sauste über zwei von den Küchlein hinweg. Gleich darauf hielt es an, und ein Herr sprang heraus und fragte, ob sie wohl wüßten, wem die Küchlein gehörten, damit er den Schaden wieder gutmachen könne. Die Dame an seiner Seite sammelte die toten Küchlein auf und fing an zu weinen. Gloria hatte niemals jemand über ein totes Küchlein weinen sehen, sie selbst kannte nur Tränen der Wut; so sah sie denn die Dame unverwandt an, bis sie beide lachen mußten. Dann fragte der Herr, ob sie mitfahren wollten, und das wollten sie gern. Als Gloria hörte, daß sie nach Ilmenau wollten, mußte sie wieder an Leutnant von Treschau denken, und sie versicherte, daß auch ihr Reiseziel die ganze Zeit hindurch Ilmenau gewesen sei.
Nach dem Mittagessen im Gasthof in Ilmenau scharte man sich draußen im Garten um eine Erdbeerbowle. Natürlich kam die Rede auf Reisen, wie das bei Menschen, die sich auf einer Reise begegnen, stets der Fall ist. Und Gloria nannte zufällig Gaston le Lys' Namen. Fränze Vogt, denn sie war es, sah verstohlen zu ihrem Gatten hinüber, aber er nickte liebevoll, als gäbe er ihr Erlaubnis, nach Herzenslust zu fragen und zu forschen. Als Gloria dann sagte: »Er sah so aus, als habe er die Lorelei gesehen und könne sie nie wieder vergessen,« da wurde Fränze so rot, wie Aglaja bleich wurde. Sie starrten einander an, und langsam kehrte die natürliche Farbe in ihre Wangen zurück. Aber Fränze erfuhr aus Aglajas Erbleichen, daß der Lorelei-Ausdruck nicht mehr ihr galt, und sie war sich im selben Augenblick klar darüber, daß sie ihrer Nachfolgerin gegenüber saß.
Fränze beeilte sich, über andere Dinge zu reden, und das Zunächstliegende war der Zweck ihrer und Alberts Reise. Sie wollten Alberts Fabriken in Thüringen besichtigen, was zweimal im Jahre geschah, und jede Reise währte drei Wochen. Hinterher mußte sie dann immer eine Woche zu Bett liegen, so übermüde war sie von all dem Reden und Tanzen. Ihr Mann fiel ihr ins Wort und erklärte, sein Anteil an der Arbeit sei nichts im Vergleich zu dem ihren. Sie sei nicht nur die Freundin jeder Fabrikarbeiterin und der Arbeiterfrauen, sie besitze auch ihr Vertrauen. Zu ihr kämen sie mit ihren Sorgen, ihr offenbarten sie ihre Liebesgeschichten, sie müßte ihnen Rat erteilen und Ordnung in allen Wirrnissen schaffen. Aber jeden Abend, nachdem eine Fabrik besichtigt war, würde bis spät in die Nacht hinein getanzt, und dann müßte Fränze mit jedem einzelnen Arbeiter tanzen, vom ältesten bis zum jüngsten, um keinen Unterschied zu machen oder Eifersucht zu erregen.
Die Folge des Abends und der Erdbeerbowle war, daß Vogt Gloria und die beiden Schwestern bat, den nächsten Tag mit ihm und seiner Frau zu verbringen; dann könnten sie sehen, wie man Zigarren mache, und wie eine Fabrik geleitet werde. Und ehe der nächste Abend gekommen war, flehte Fränze sie an, die ganze Reise mit ihnen zu machen. Wenn die Fabriken sie langweilten, könnten sie sich während des Tages das Automobil und den Schofför leihen, auf eigene Hand herumfahren, um dann am Abend an dem Essen teilzunehmen und beim Tanzen zu helfen.
Erst als die Reise wieder nach Berlin ging, wo Albert und Fränze wohnten, gaben sich die Schwestern zu erkennen, ein wenig verlegen, weil sie so lange unter falscher Flagge gesegelt waren, und fragten, ob Fränze und Albert sie nicht auf ihrem Gut besuchen wollten. Gloria wollten sie gleich mitnehmen. Gloria dachte weniger daran, daß die beiden Schwestern, die sie sich als hinterm Ladentisch stehend und Petroleum in Flaschen verkaufend vorgestellt hatte, Prinzessinnen waren, als daß Helwig von Treschau binnen kurzem wieder in ihrer Nähe weilen würde.