Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Blätter fallen von dem Baum des Lebens, sie fallen und fallen. An fernen Landstraßen und auf niedergetretenen Feldern schlafen unter dem milden Schein der Sterne die Toten mit offenen Augen. Von Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du werden …
Dreimal vier Wochen wartete Marylka jeden Tag auf Nachricht von Hans Rudner. Die Minuten wurden lang wie die Schatten des Abends. Man hatte gesagt: »Tot oder in russischer Gefangenschaft.« Mehr konnte man nicht sagen, mehr wußte man nicht. Aber Marylkas Herz wußte mehr. Es schlug, es war nicht stehen geblieben. Also lebte er, also war er in Gefangenschaft in Rußland.
Rußland ist groß. Ganze Nächte las Marylka in ihrem Lexikon von dem mächtigen Reich, oder sie saß, den Globus zwischen den Händen, und ließ die Finger suchend über die Fläche hingleiten, die glatt war wie die Stirn eines Kindes. Es war, als fühlten ihre Fingerspitzen die Kälte der Schneefelder, als hörten ihre Ohren das Klirren von Ketten und das schwere Stöhnen todesmüder Wanderer. Es war, als sähe sie vor sich die gefangenen Soldaten in ihren zerlumpten Mänteln, mit wunden Füßen in sohlenlosen Schuhen, vorwärtsgetrieben, bis sie stürzten. Und Hans Rudner war einer von ihnen …
Das Urweib in ihr erwachte. Das Wesen, das aus des Mannes Rippe geschaffen wurde, sehnte sich zurück nach seinem Ursprung. Konnten die Sterne, die stummen, leblosen Dinger, den Weg über den Himmelsraum finden, zwischen Myriaden von anderen Sternen, die einander glichen wie ein Wassertropfen dem anderen, so konnte sie wohl auch den einzigen Hans Rudner finden, ihn, der keinem anderen Mann in der Welt glich!
Sie vergaß, daß sie am Tage in dem Stuhl und an der Stelle des Schulmeisters saß, daß sie sich aus eigenem, freiem Willen verpflichtet hatte, die Kinder so viel oder so wenig zu lehren, wie sie selber wußte; sie vergaß, daß sie keine Ahnung hatte, in welcher Gegend man den Gefangenen Hans Rudner verborgen hielt, daß sie kein Wort der russischen Sprache konnte, daß es ihr unmöglich sein würde, nur über die Grenze zu gelangen, geschweige denn weiter. Die Törin in ihr, die liebende, wilde Frau triumphierte. Die Törin in ihr lächelte und hoffte. Die Törin in ihr zog schwere Schuhe an, schnürte einen Ranzen und hielt sich bereit, das Unausführbare auszuführen.
Dies war in der Nacht, mit dem Tageslicht aber schlug die Vernunft ihre eisernen Klauen in sie und sagte: Du kannst leichter eine Schneeflocke finden, die ins Meer hinabschmolz, als Hans Rudner im russischen Reich!
Aber eines Tages kam der Brief. Der Brief von Hans Rudner, dem Gefangenen. Die Schulkinder sahen den Postboten an das Fenster kommen und den Brief hineinwerfen. Sie sahen die Schulmeisterin Marylka ihn öffnen und darauf starren und in die Luft hinausstarren und lächeln. Zuerst sahen sie ganz still, um sie nicht zu stören. Sie versuchten, nicht zu atmen. Sie hielten sich den Mund zu und zwinkerten vorsichtig mit den Augen, als seien sie bange, daß selbst das Lärm machen könne. Dann wurde die Stille zu beschwerlich. Ein kleines Barfüßle raschelte mit dem Sand auf dem Fußboden, eine kleine Faust kratzte auf der Tafel. Eine kleine Seele räusperte sich. Marylka rührte sich nicht. Sie sah nicht in den Brief hinein, sie sah gerade in die Schulstube hinaus, die so hell war mit ihren drei Fenstern nach Osten und den drei Fenstern nach Westen. Die Kinder merkten sehr wohl, daß sie sie nicht sah.
Niemand gab ihnen ein Zeichen zu gehen. Leise, leise, eins auf den Fersen, eins auf den Zehen, schlichen sie sich an die Tür, klinkten sie auf und schlichen hinaus. Flüsternd gingen sie miteinander über die Heide, bis sich die Wege schieden, fest davon überzeugt, daß sie nicht vermißt wurden.
Und sie hatten recht. Marylka ahnte nicht, daß die Kinder fort waren. Sie ahnte nicht, daß sie jemals dagewesen waren. Sie saß mit dem Brief vor sich da. Die Bleifederstriche auf dem schmutzigen, groben Papier zogen ihre Linien zwischen zwei lebenden Herzen. Marylka fühlte die Liebkosungen und lächelte in die Luft hinaus.
Viel schrieb Hans Rudner nicht. Er bat sie nur, ein paar warme Strümpfe von ihrem eigenen selbstgezwirnten Garn zu schicken, und dann nannte er die Namen von drei anderen Männern von der Insel, die sich unter seinen Mitgefangenen befanden.
Marylka wurde durch den jungen Telegraphisten wachgerufen. Er konnte es nicht länger aushalten, hier zu sitzen. Er wollte mit dabei sein, dort, wo man tötete und getötet wurde. Er weinte vor Eifer. Marylka mußte ihm helfen. Und Marylka, die die schweren Schuhe angezogen und ihren Ranzen geschnürt hatte, um in die Welt hinauszugehen und Hans Rudner zu finden, Marylka, die erst in dieser Stunde erfahren hatte, wo sie ihn suchen sollte, beugte den Kopf und schmiedete selbst die Kette um Hand und Fuß. Sie reichte telephonisch ein Gesuch ein, ob sie nicht die Station übernehmen dürfe. Es lieh sich machen, daß sie das Amt zusammen mit der Schule versah. Die beiden Gebäude waren ja so gut wie eines, und von der Schulstube aus hörte sie deutlich jede Meldung von der Station am anderen Ende der Insel.
Marylka band den Schal um den Kopf und Schultern und wanderte über die Heide, um den drei Frauen, die wie sie gewartet hatten, ohne zu wissen, welches von den Worten »tot« oder »gefangen« das richtige war, die gute Botschaft zu bringen. Als sie heimkehrte, trug sie eine kostbare, aber unsichtbare Last. Sie hatte so viel Wissen, wie sie nur vermochte, von den drei Frauen über Haus und Kinder eingesammelt, aber sie hatte nicht gesagt, wozu es verwendet werden sollte. Sie wagte nicht, jemand das Geheimnis mitzuteilen, das mit »Strümpfen aus selbstgezwirnter Wolle« in Zusammenhang stand.
Sie mußte vorsichtig zu Werke gehen, damit die Strümpfe keinen Verdacht erregten. Draußen im Tageslicht verglich sie Merktinte und Faden. Nein, auch nicht das schärfste Auge konnte einen Unterschied in der Farbe erkennen. Dann setzte sie sich hin und ritzte mit Merktinte und in Telegraphensprache die Runen ihres Herzens und alle ihre Neuigkeiten in das weiße Garn hinein, das ursprünglich aus weiß und grün gezwirnt war. Es ward Nacht, ehe sie zum Stricken kam, und es ward Tag, als sie die Zehe an dem zweiten Strumpf zumaschte.
Was führen sie im Schilde, die fremden, grauen Männer, die auf Marylkas Insel landen? Was haben sie auf den schweren, leinwandüberspannten Lastwagen, die von den Pferden über die Heide geschleppt werden? Die Männer tragen die Kleider des Kaisers, folglich verrichten sie des Kaisers Befehle, aber etwas anderes oder mehr wissen weder Marylka noch die Kinder.
Schon am ersten Abend haben die Männer eine Schar kleiner, spitzer Zelte aufgeschlagen, die fast aussehen wie Sandhaufen, die der Wirbelsturm zusammenweht. Aus einigen davon steigt Rauch auf. Die Männer holen Wasser aus Marylkas Brunnen, aber sie erzählen, daß sie selbst damit beschäftigt sind, einen Brunnen zu graben. Sicher haben sie die Absicht, lange Zeit dazubleiben.
Sie ziehen eine Hecke aus Pfählen und vielen Reihen Stacheldraht, und innerhalb der Hecke bauen sie Schuppen. Einer von den Schuppen ist höher und länger als die Kirche. Die Schulkinder fragen Marylka, ob die Arche Noah größer gewesen ist.
In der dritten Nacht nach der Ankunft der Männer erwacht Marylka. Ein seltsamer Laut erfüllt die Luft. Es saust und braust da oben, als ob Seeadler von unendlicher Flügelweite unter den Wolken kämpfen. Marylka liegt und lauscht, dann erhebt sie sich und tritt an die Tür der Hütte. Träumt sie oder ist sie wach?
Die Riesenvögel – kein Königsadler hatte eine solche Flügelweite – steigen zum Mond auf, umeinander und übereinander kreisend. Sie sieht die ausgebreiteten Flügel auf und nieder schlagen, sie hört fauchende, wütende Laute aus ihren Kehlen. Die Vögel heben sich schwarz von dem Mondhimmel ab, schwarz wie die kahlen, durchsichtigen Bäume des Winters. Jetzt stürzt sich der eine zur Meeresküste hinab, als wolle er einen Fisch im Fluge ergreifen, die anderen folgen ihm. Jetzt steigen sie wieder, hoch, hoch empor, höher als Falke und Adler. Die Wolken sinken unter sie hinab, sie verschwinden. Das wütende Fauchen ihrer Kehlen entschwindet dem Bereich des Ohres. Marylka steht wie verzaubert da. Hat sie einen Geisterspuk gesehen? Sind dies die Ungeheuer der Vorwelt, die plötzlich wiederauferstanden sind? Die, deren Namen der allwissende Schulmeister kannte? Deren tausendjährige Skelette sie auf der Sommerreise gesehen hat? Ist es ein Traum? Aber jetzt wird das Geräusch wieder stärker. Schwarze Schatten verdunkeln den Mond. Die Vögel werden wieder sichtbar. Angst herrscht in Marylkas einfältiger Seele. Dieselbe Angst macht sie erbeben, die ihrerzeit Marylkas Mutter veranlaßte, unters Bett zu kriechen, wenn der Donner über die Insel hin dröhnte. Aber sie sammelt all ihren Mut und starrt unverwandt zu den seltsamen Vögeln empor, die über ihrer Hütte kreisen, als röchen sie Menschenfleisch. Da gewahrt sie, daß auf dem Rücken des Vogels eine Gestalt reitet; ein jeder Vogel hat seinen Reiter. Und plötzlich lächelt sie über sich selbst. Plötzlich weiß sie, warum die grauen Männer auf ihrer Insel gelandet sind, warum sie Mauern errichtet und ein Dach gebaut haben. Sie sind ja da, um Nester zu bauen für die allergrößten Vögel des Himmels, für die künstlichen Vögel, die keine Seele haben, in deren Adern kein Blut fließt, die aber trotzdem höher und schneller stießen als der Königsadler, wenn er auf Beute aus ist. In den Nestern unten auf der Erde können die künstlichen Vögel ausruhen, wenn die Flügel müde sind, und dort können sie Schutz suchen, wenn ein großes Unwetter rast. O, Marylka weiß ja gar vieles von diesen künstlichen Vögeln, wenn sie nachdenkt. Aber in einer Beziehung stehen sie zurück gegen den Seeadler: der kann hinausgehen und dem härtesten Sturm trotzen. Während der künstliche Vogel Schutz sucht, reitet er auf dem Rücken der Wolken ohne Furcht oder Gefahr.
Marylka sieht die Vögel hinter der Hecke hinab schweben und zwischen den spitzen Zelten verschwinden, und sie kehrt zu ihrem Bett zurück. Aber am nächsten Tage schlägt sie in allen Bänden des Lexikons nach und liest jedes Wort, das über Vögel geschrieben wurde, die von Menschenhand geformt sind, und denen Menschenklugheit Leben eingeblasen hat. Den Schulkindern liest sie vor, und ihre klaren Augen werden größer und größer, gleich den blauen Blumen, die sich auftun, um alle Strahlen der Sonne einzufangen. Und als sie ihnen vorgelesen und erklärt hat, so gut sie es vermag, wendet sie sich um und zeigt den Kindern die Umfriedigung der grauen Männer und erzählt ihnen, was sie im Laufe der Nacht und im Lichte des Mondes gesehen hat. Die Kinder wissen nicht, ob sie glauben oder zweifeln sollen, aber im selben Augenblick durchzuckt es sie, und sie lauschen angespannt. Das ist nicht das Brausen des Meeres, das ist nicht das Rasseln des Webstuhles, das ist nicht das Schnurren eines Wagens. Marylka zieht sie mit sich hinaus vor die Schulstube, und siehe, es ist, als hätten die grauen Männer keinen anderen Gedanken gehabt als die Kinder, als hätten sie durch einen Spalt in der Mauer Marylkas Vorlesung mit angehört. Sie lassen in diesem Augenblick einen der Riesenvögel sich vom Nest erheben. Gleich einem Rebhuhn rennt er über das Heidekraut, aber während die Kinder ihm nachstarren, sehen sie, daß er die Erde nicht berührt. Er flattert, er schwebt, er fliegt. Marylka weiß ganz genau, was in allen diesen kleinen Seelchen vor sich geht. Kaum können sie die Mittagstunde erwarten; sie sehnen sich nach Hause, um sofort mit dem Bau eines Drachen aus Papier und Weidenzweigen zu beginnen, der groß ist und stark wie dieser Vogel, eines Drachen, auf dessen Rücken sie in die Wolken hinauf und über das Meer fliegen können. Nicht eines von ihnen zweifelt ja, daß es gelingen wird. Und der Glaube gewährt ihnen dieselbe Freude, als kämpften sie schon auf dem Rücken des Drachen mit Adlern und Raben um die Herrschaft der Luft.
Und der Krieg geht seinen Gang …
Die Luft ist warm und lind, die Erde ist weich … die Zeit ist da, wo die scheckige Fläche der Insel mit Kartoffeln gefüllt wird. Die Schulkinder sind mit der Sonne auf, und während die grauen Männer über ihren Köpfen in der Luft Übungen abhalten, liegen Knaben und Mädchen krummgebeugt und schweißtriefend an der Erde und stopfen Kartoffeln in den Sand hinein. Müde? Nicht müde, aber hungrig wie die Wölfe. Die Sache ist nur die, daß sie keine Zeit haben, ihren Hunger zu stillen. Sie sind beschäftigt, ihrem Vaterland zu helfen, die kleinen tapferen Krieger. Ob jeder rundlichen, fehlerfreien Kartoffel, die sie in den Sand hineinlegen, schwellt sie ein Gefühl des Stolzes, als sei es ein Feind, dem sie den Kopf abschlagen. Sie sind blutdürstig, die kleinen Kinder. Es ist Krieg über dem Lande.
Und sie helfen. Schon freuen sie sich bei dem Gedanken an kommende große Tage, wenn Schiffsladungen von weißen, festen Kartoffeln von der Insel abstoßen: das Geschenk der Schulkinder an ihren vergötterten Kaiser.
Als alle Kartoffeln eingesetzt sind, und das währte ja mehr als einen Tag, wie sie ursprünglich gemeint, fragen die Kinder Marylka, ob sie nicht anfangen sollen, sie zu begießen. Marylka lacht und antwortet, daß die Kartoffeln keinen Durst kennen, aber die Kinder glauben ihr nicht so recht. Sie haben gesehen, wie sie selbst Wasser für ihren Garten geschleppt hat, eimerweise – so viele Eimer, daß man wirr im Kopf werden würde, wenn man sie nur zählen wollte. Wenn nun die Schule aus ist und die kleinen Mägen gesättigt sind, laufen sie nach dem Brunnen und winden Wasser herauf und tragen es lange, mühselige Wege, um den Durst der Kartoffeln zu löschen. Marylka muß ihnen ernstlich zureden. Wenn sie so fortfahren, kann es geschehen, daß die Brunnen austrocknen und die Kartoffeln verfaulen. Seufzend gehorchen sie und überlassen die Kartoffeln der Bewässerung des Himmels.
Und der Krieg geht seinen Gang …
Es ist ein Tag, ein Tag wie so viele andere. Einer von den Tagen, wo der Himmel voll von schwarzen Wolken ist, so daß die Sonne nicht hindurchscheinen kann. Aber den Schulkindern sind das die liebsten Tage. Sie hoffen nur auf Regen, Regen für ihre Kartoffeln, die jetzt im Begriff sind, zu blühen.
Längst haben sie sich an den Lärm von den künstlichen Vögeln der grauen Männer gewöhnt, längst haben sie die Enttäuschung überwunden, daß ihre eigenen Drachen sie nicht auf dem Rücken zu den Wolken emportragen wollen, hinaus auf das Meer. Längst haben sie erfahren, daß die grauen Männer, wenn sie fliegen, mit ihren künstlichen Vögeln hinausflattern über die feindlichen Lager und Bomben hinabwerfen. Ach, wie gern möchten sie nicht mit dabei sein! Vielleicht am liebsten an Bord des gewaltigen Luftschiffs, das gleichsam in dem mächtigen Schuppen wohnt, den sie mit der Arche Noah verglichen haben. Jedesmal, wenn es über das Meer hinausfährt, springen sie von den Schulbänken auf und stürmen hinaus, um Hurra zu rufen, und Marylka hindert sie nicht daran. Sie selber kann es nicht sehen, ohne daß sich ihre Augen mit Tränen füllen, aber ihre Gedanken formen sich zu einem besonderen Wunsch, zu einem Traum, von dem sie weiß, daß er niemals in Erfüllung gehen wird. Sie denkt: An einem einzigen Tage könnte dies Schiff über die Grenze fahren, hinein in das russische Reich, könnte in das Gefangenenlager hinabschweben und Hans Rudner zurückbringen …
Also ein Tag wie alle anderen Tage. Ein Tag mit vielen treibenden Wolken und einem Himmel wie Blei.
Marylka ist damit beschäftigt, die Kinder in der Geographie zu unterweisen. Die Karte von Europa hängt an der Wand, und die Kinder sind in einem dichten Haufen um sie geschart, während sie mit dem Finger die Grenzen zeichnet, wie sie waren, und wie sie jetzt sind, während der Krieg andauert. Sie erzählt ihnen von allen den kleinen Kindern ringsumher in den Ländern, wo Krieg geführt wird, und erklärt ihnen, wie jeder Sieg Tausende von vaterlosen Kindern bedeutet, und von Müttern, die nicht wissen, woher sie das Brot für ihre Kleinen nehmen sollen. Sie erzählt von den französischen Kindern und von den russischen und von den belgischen, erzählt so lange, bis die Kinder um sie her anfangen, die Tränen abzulecken, sobald sie in die Nähe des Mundes kommen. Da sagt ein kleines Mädchen: »Ich hab' drei Briefmarken!« Und ein anderes sagt: »Ich hab' siebzehn Pfennige, die gehören mir ganz allein!« Und ein kleiner Junge sagt: »Ich weiß, wie ›Guten Tag‹ auf französisch heißt!«
Das ist so ein kleiner Anfang, und der Anfang wächst und wächst, bis es ganz klar ist, daß das einzige in der Welt, was man gerade jetzt tun kann, ist, daß man sich an den langen Schultisch setzt und einen Brief an ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen schreibt, die ihren Vater im Krieg verloren haben und deren Mutter so arm ist, daß sie nicht weiß, woher sie das Brot für ihre Kinder nehmen soll.
Marylka zerschneidet Papier, so viel Stücke, wie Kinder da sind, und sie versprechen, daß sie sich Mühe geben wollen, nicht zu viele Kleckse zu machen.
Ob sie Deutsch verstehen, fragt dann eine Kleine. Marylka tröstet sie: »Das werden sie wohl in der Schule gelernt haben!« »Warum haben wir denn nicht Russisch gelernt?« fragt eins von den anderen Kindern. Und Marylka, die nicht weiß, was sie antworten soll, sagt: »Weil Russisch so schrecklich schwer ist. Das kann man nur lernen, wenn man ein Russe ist!«
Die Kinder setzen sich zurecht, und der kleine Junge, der weiß, wie »Guten Tag« auf französisch heißt, muß es auf die große Tafel schreiben, so daß alle die anderen es nachschreiben können. Marylka hat versprochen, die Briefe für sie abzuschicken; drei Briefmarken und siebzehn Pfennige sind reichlich, sagt sie, für alle die Briefe. Und es wird sicher Antwort kommen.
»Darf ich schreiben, daß ich gar nicht böse auf Frankreich hin, weil sie Franzosen sind; sie können ja nichts dafür, daß sie keine Deutschen sind!« sagt ein Junge. Und Marylka nickt. »Darf ich schreiben, daß ich, wenn ich groß bin, keinen Krieg führen will?« fragt ein anderer. Aber ein dritter sagt: »Man muß Krieg mit seinen Feinden führen, das weiß ich!« Und ein vierter sagt: »Wenn ich groß bin, will ich gar keine Feinde haben!« Und dann sagt ein fünfter Junge: »Mein Vater schlägt alle unsere Feinde tot!« Und ein kleines Mädchen mit einem schwarzen Band unterm Hals sagt: »Mein Vater schlug alle unsere Feinde tot, aber dann schossen sie ihn mit einer Kanone, bis er tot war!«
Marylka wollte gerade das Zeichen geben, daß sie anfangen sollten, als ihr etwas einfiel, das sie versäumt hatte. Und sie begann den lauschenden Kindern von dem Weihnachtsschiff zu erzählen. Keines von ihnen hatte davon gehört. Aber nun sahen sie vor sich das große Meer mit den schweren, schwarzen Kriegsschiffen, die dalagen und aufeinander lauerten mit Kanonen, die nach allen Seiten aufragten, wie die Stacheln eines Stachelschweins. Und über das Wasser dahin glitt ein großes Schiff mit wehenden Flaggen. Der Himmel war ganz schwarz von Pulverrauch wie bei den anderen Schiffen, aber der Himmel über dem Weihnachtsschiff war blau, und die Sonne schien gerade darauf herunter, und die Sonne schien in sein Kielwasser, und weiße Möwen flogen darum herum. Wohin es kam, klang es, als sei die Luft mit Musik angefüllt, und man hörte die Kanonen nicht. Die schwarzen Schiffe wurden ganz still, als es sich näherte, und wichen zur Seite, wie man zur Seite geht, um dem Kaiser Platz zu machen. Und die Kanonen konnten nicht schießen, solange das Weihnachtsschiff in Sicht war. Das ganze Meer war voll von Minen und Torpedobooten, aber das Weihnachtsschiff fuhr dahin, ohne sich daran zu kehren. Es fuhr hinweg über Minen, und sie taten ihm nichts zuleide. Sie lagen so still wie Mäuse und so friedlich wie junge Hunde. Aber sie wendeten sich um und sahen dem Weihnachtsschiff nach und seufzten. Sie wünschten, daß sie selbst dort an Bord sein könnten.
Die Kinder lauschten, man konnte fast das Klopfen ihrer Herzen hören. Was war das Weihnachtsschiff? Und Marylka erzählte von den amerikanischen Kindern, von denen da drüben an der Küste des Stillen Ozeans, und von denen an der Küste des Atlantischen Ozeans, und von denen mitten im Lande. Wie sie sich darüber gefreut hatten, daß ihre Väter nicht mit in den Krieg brauchten und totgeschlagen wurden oder andere totschlagen mußten, und wie sie dann an alle die kleinen Kinder in Europa hatten denken müssen, die keine Weihnachtsgeschenke bekamen, weil ihre Väter draußen in den Schützengräben lagen und kein Geld hatten, um ihnen etwas zu kaufen. Da beschlossen sie denn, Weihnachtsgeschenke an die Kinder in allen den Ländern zu schicken, die Krieg führten. Sie wußten ja freilich nicht, was sie schicken sollten, denn sie kannten die Kinder nicht und wußten nicht, was sie sich wünschten; aber dann kamen sie auf den Einfall, ihren eigenen Wunschzettel zu nehmen. Und der Wunsch, der ganz obenan auf dem Zettel stand, meinten sie, müßte doch etwas so Wunderschönes sein, daß sich alle Kinder freuen mußten, wenn er ihnen erfüllt wurde. So erstand denn der Junge, der sich selbst eine Trommel wünschte, für seine Sparpfennige eine Trommel für ein Kind, in Rußland oder Deutschland oder in Frankreich oder in Belgien, und das kleine Mädchen, das sich eine Puppe wünschte, die die Augen schließen konnte, kaufte für ihre Spargroschen eine Puppe für ein kleines Mädchen in Europa. Da waren viele Kinder, die sich am allermeisten ein Kleid oder einen Hut wünschten, und dann schickten sie ein Kleid oder einen Hut, und da waren andere, für die es nichts Schöneres gab als eine Trompete oder einen Drachen, und die schickten eine Trompete oder einen Drachen. Amerika ist ein schrecklich großes Land, auf der Karte wie auch in Wirklichkeit. Und in einem großen Lande sind viele Kinder, daher kamen denn auch so viele Geschenke zusammen, daß das allergrößte Schiff in ganz Amerika nur mit genauer Not Platz für sie alle hatte. Sie waren reizend eingepackt, in Seidenpapier mit einem seidenen Band herum, und in allen Paketen waren kleine amerikanische Flaggen. Und als das Schiff abfuhr, standen die amerikanischen Kinder am Ufer und winkten und wehten mit den Taschentüchern und riefen dem Schiff nach, es solle auch gut achtgeben auf die Minen und auf die Kanonen, damit keine Löcher in die Puppen und in die anderen Geschenke hineingeschossen würden. Und das Schiff versprach, gut achtzugeben. Aber das hatte es gar nicht nötig, denn die weißen Möwen und die Sonne und das Meer gaben acht. Die Wellen liefen voraus und sagten zu den Minen: Liegt still, rührt euch nicht, jetzt kommt gleich das Weihnachtsschiff mit Geschenken von den Kindern in Amerika! Und da lagen die Minen natürlich still. Und die Sonne beschien das Schiff und die Flaggen, so daß die schwarzen Kriegsschiffe nicht darüber im Zweifel sein konnten, daß es das Weihnachtsschiff war, und in der Nacht schimmerten die Sterne gerade über dem Schiff, so daß es aussah wie ein kerzenstrahlender Weihnachtsbaum. Und die Möwen umflatterten es wie kleine, weiße Engel. Und oben im Himmel saßen die richtigen Engel und bliesen die Flöte und spielten Violine und Harmonika, weil sie sich so über das Weihnachtsschiff freuten. Und es fuhr von dem einen Land nach dem anderen und brachte Geschenke für alle die kleinen Kinder, deren Väter im Kriege waren.
… Marylka schwieg, und die Kinder atmeten tief auf. Eine Frage lag auf aller Lippen: »Warum kam das Weihnachtsschiff nicht nach unserer Insel?« Marylka lächelte: »Das war nicht die Schuld des Weihnachtsschiffes und auch nicht die der amerikanischen Kinder. Aber der Hafen hier ist nicht tief genug für so große Schiffe!« Und die Kinder strahlten, als hätte jedes einzelne von ihnen sein seidenpapierumwickeltes Geschenk von den kleinen Kameraden in der Ferne bekommen. »Und nun könnt ihr schreiben!« sagte Marylka, denn sie wußte, jetzt hatten alle Gemüter Ruhe …
Die Kinder setzten sich, jedes vor sein Stück Papier und leckten die Feder ab und tauchten die Feder ein, legten den Kopf auf die Seite, dachten nach, lächelten und fingen an zu schreiben. Das Weihnachtsschiff fuhr drinnen in ihrem kleinen Gehirn, zwischen schwarzen Schlachtschiffen, sonnenbeschienen am Tage und wie ein kerzenstrahlender Weihnachtsbaum in der Nacht.
Ein Junge sagte zwischen Seufzen und Lächeln: »Wenn alle Kinder in der ganzen Welt einen Verein bildeten, dann käme doch niemals Krieg, nicht wahr?« Marylka nickte ernsthaft: »Nein, dann käme niemals Krieg!«
Wieder senkten die dunklen und die blonden Köpfe sich schräg auf das Papier herab. Einen Augenblick hörte man nur das Kratzen der Federn und das Keuchen der Kinder. Es war eine schwierige Arbeit, gleichzeitig schön zu schreiben und richtig zu buchstabieren und darüber nachzudenken, was man schreiben wollte – und dann noch, jedesmal wenn der Satz fertig war, einen Punkt oder ein Komma zu machen! Marylka ging hin, um nachzusehen, ob sie auch nicht vergessen hatten, die Tür nach der Hütte zu öffnen, wo der Telegraphenapparat wieder an seinem alten Platz aufgestellt war. Ja, die Tür war geöffnet. Die Federn kratzten …
Es war kein Donnergetöse, und es kam auch kein Blitz, aber die Fensterscheiben klirrten, und das Haus erbebte in seinen Grundfugen. Alle Kinder sprangen auf.
Eine sonderbar krankhafte Unruhe lähmte Marylka. Sie stammelte: »Setzt euch!« Sie hätte ebensogut sagen können: »Geht!« Aber die Kinder gehorchten. Ihre erschreckten Augen hingen an ihr. Sie mußte ihnen eine Antwort geben, und sie konnte es nicht. Sie wußte ja nicht, was es war. Im selben Augenblick hörte sie Schüsse: »Päng! Päng!« Schneller als man zählen konnte. Jeder Schutz klang wie ein Schrei.
Jetzt sah sie Flammen aus einem der Schuppen aufsteigen. Sie stürzte an die Tür. Die Kinder bildeten förmlich einen Klumpen um sie. Was war denn los, da oben in der Luft? Warum richteten die grauen Männer ihre Waffen in die graue Luft? Da dämmerte es ihr. Sie hatte ja in den Zeitungen davon gelesen.
Marylka zog sich in die Mitte der Schulstube zurück, die Kinder hingen an ihr wie ein Klumpen. In ihren Augen war noch der Abglanz von der Märchenfahrt des Weihnachtsschiffes, aber auch ein Funke von Angst vor dem Unbegreiflichen, das in ihrer Nähe und doch ihren Blicken verborgen vor sich ging.
… Die Bombe war ohne Schuld, und der Feind, der sie warf, wußte ja nicht, daß sich dicht neben den Nestern der Luftschiffe ein Nest voll kleiner, helläugiger Menschenkinder befand, die eben einen Händedruck und Gruß an fremde Kinder gesandt hatten … vielleicht an seine eigenen!
Die Bombe zersprengte Mauer und Dach. Zwischen den Steinbrocken lagen Hände und Füße. Keine Walstatt sah schrecklichere Bilder. Marylka war zwischen den kleinen verstümmelten Körpern umgestürzt. Dunkel empfand sie einen Schmerz, und sie sah, daß da, wo die zwei Hände gesessen hatten, mit denen sie Wasser für ihre Pflanzen zu tragen pflegte, zwei strömende, blutende Wunden saßen. Aber ihre Gedanken waren klar wie die Eisdecke über stillem Wasser. Ihre Gedanken galten nicht sich selber, nicht dem geliebten Gefangenen. Ihre Gedanken galten nur den Kindern. Sie hörte ihr Jammern. Es war, als fehle ihnen die Kraft, ihren Schmerz herauszuschreien.
Schwankend taumelte sie auf die Tür zu. Erst jetzt sah sie, daß eins von den Kindern von Flammen umsponnen war. Schwankend kehrte sie um, warf sich über das Kind, rollte sich über ihm hin und her, und mit Blut statt mit Wasser und mit der Wucht ihrer Kleider löschte und erstickte sie das Feuer. Sie schloß ihre Augen, sie waren gefüllt mit brennendem Feuer, so brannte und schmerzte der Anblick, der sich ihr bot, und wieder schwankte sie auf die Tür zu. Sie wollte rufen, schreien, die grauen Männer um Hilfe anflehen, aber sie war der Stimme beraubt. Blindlings tastete sie sich die wenigen Schritte bis zur Hütte hin. Die Tür war ja offen.
Dort stand der Apparat, ihr eigener, blanker Apparat. Aber wo waren die Hände, die um Hilfe rufen sollten? Marylka sank auf den Stuhl vor dem Apparat nieder. Ein Schmerz fing an, sie im Schoß zu stechen. Sie fühlte mehr, als sie sah, daß das Feuer von den Kleidern des Kindes die ihren ergriffen und angezündet hatte. Sie bohrte den einen blutenden Arm in den Schoß, mit dem anderen telegraphierte sie: »Arzt … gleich … Arzt …« Und sie sank um, während die Flammen ihr Werk vollendeten.
Als man sie fand, lag ein Lächeln um ihre toten Lippen.
Hatte Marylka in ihrer letzten Stunde Hans Rudner vor sich gesehen? Oder galt das Lächeln dem Gedanken, daß sie imstande gewesen war, zum letztenmal den Apparat zu berühren, zum letztenmal ihre Pflicht zu tun?