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Die ganze Stadt flaggte. Weit draußen in den Bergen wehten die Flaggen, und tief drinnen in den Wäldern und an den fernen Gewässern. In meilenweitem Umkreis gab es keinen Menschen, der nicht gewußt hätte, weshalb die Flaggen gehißt wurden. Fränze Rieber feierte ja Hochzeit. Fränze, die kleine Fränze, Hermann Riebers einziges Kind. O, das fehlte auch noch, daß man nicht flaggen sollte!
Es war kurz vor Pfingsten, und deshalb paßte es so gut, Maienlaub über Türen und Fenster zu hängen und junge Birken vor den Häusern aufzustellen. Ehre, wem Ehre gebührt. Und Fränze hatte nicht einen einzigen Feind. Nicht einen einzigen, und hatte auch nie einen gehabt. Nein, lauter treue Freunde und nicht einen Feind. Woher das wohl kommen mochte? Nicht nur weil sie Riebers Tochter war, obwohl das an und für sich schon gut genug sein mochte. Auch nicht nur, weil sie selber alle Menschen lieb hatte. Aber vielleicht kam es von ihrem Lächeln. Eine alte Frau sagte einmal: »Wenn Fränze einen ansieht, muß man an das Lamm denken, das der ganzen Welt Sünde trägt!«
Man glaube deswegen aber nicht, daß Fränze ein betrübtes Gesicht hatte oder ein Lächeln, wie es kranke Kinder haben, wenn man ihnen eine Blume schenkt. Fränze war eins von den glücklichsten Menschenkindern, die jemals erschaffen worden sind. Aber mitten in all dem Glück hatte sie einen kleinen Fleck, wo der Kummer wohnte. Nicht ihr eigener; sie hatte ja keinen, aber der Kummer der anderen. Aller der anderen. Und wenn auch die Stadt klein war, konnte da doch genug Kummer sein, um Fränze damit anzufüllen.
So hatte sie sich einmal in den Kopf gesetzt, daß die Toten unten in den Gräbern fürchteten, vergessen zu werden, ja, daß sie nur dalägen und darauf warteten, daß jemand an sie dächte. Anfangs rieselten die Gedanken auf sie hinab wie Kirschenblüten oder wie die Veilchen im Mai; es war unmöglich, sie zu zählen. Später aber wurden sie so spärlich, daß viele Wochen zwischen jedem kleinen Gedanken vergehen konnten, und dann trauerten die Toten. Diejenigen, die gute Freunde waren, teilten die Gedanken unter sich, wie Kinder einen Apfel teilen, indem sie abwechselnd hineinbeißen, aber diejenigen, die sich nicht vertragen konnten, oder die sich nicht kannten, die hielten gleichsam die Gedanken fest, die zu ihnen kamen, wie ein Geizhals seine Geldstücke festhält. Zuweilen, wenn ein Gedanke in die Nähe des Friedhofes kam, lagen alle Toten da und streckten die Hände danach aus und hofften, daß er für sie sei; und dann hinterher, wenn sich ein einziger darüber freute, daß er nicht ganz vergessen war, lagen alle die anderen da und seufzten. Am schlimmsten war es im Winter, wenn Schnee über den Gräbern lag. Dann gingen die Menschen gar nicht auf die Friedhöfe, und daheim in den Stuben waren sie so geschäftig, daß sie keine Zeit hatten, an die Toten zu denken. Im Sommer machte man ja Spaziergänge nach dem Friedhof hinaus, weil da Schatten war und Vogelgesang, und da waren Blumen und Bänke, und dann las man die Namen, und es kam ganz von selbst, daß man an die da unten dachte. In der Nacht nach solchen Tagen lagen die Toten da und zählten an den Fingern ab, wer am meisten Gedanken bekommen hatte; und zuweilen gaben die Reichen den Armen ein paar Stück ab. Wer aber zwanzig Jahre lang im Grabe gelegen hatte und weder Freunde noch Verwandte besaß, die seine Grabstätte erneuerten, der zählte gar nicht mehr mit. Es wurde ohne weiteres ein neuer Toter in sein Grab hineingelegt. Für ihn war es gleich trübselig, ob es Sommer war oder Winter. Nur ganz, ganz ausnahmsweise einmal, wenn ein schrecklich alter Mann oder eine schrecklich alte Frau, die seit undenklichen Jahren aus der Stadt fortgewesen waren, zurückkamen und auf den Friedhof hinausgingen, um nach bekannten Namen zu suchen, konnte es wohl geschehen, daß ein Gedanke zu einem der zuunterst Liegenden hinabtropfte.
Fränze ging jeden Tag, den Gott werden ließ, da hinaus und streute Gedanken aus, wie sie im Winter den Vögeln Korn hinstreute, und auf alle die Gräber, die »verfielen«, wie man es nannte, pflanzte sie ein Stiefmütterchen, damit der zuunterst liegende Tote sich darüber freuen sollte.
Und dann war da ja auch das, daß sie keinen Unterschied zwischen arm und reich, zwischen gut und böse kannte. Für sie gehörten sie alle miteinander zu ihrer Stadt und zu ihrem Leben. Sie liebte sie alle.
Fränze! Niemand sonst in der kleinen Stadt hieß Fränze. Wenn jemand »Fränze« sagte, dann lächelte ringsumher alles. Fränze war das Spielzeug der ganzen Stadt, der Schelm der ganzen Stadt.
Wer hatte sie nicht als kleines Kind rittlings auf dem Pferderücken durch alle Straßen galoppieren oder auf einem Bein tanzen sehen, indem sie mit den Armen schwenkte wie ein Zirkuskind? Wer hatte sie nicht mit einer räudigen Katze auf dem Arm herumlaufen sehen? Wer hatte sie nicht auf dem Fluß rudern sehen, so daß die Ruder sausten und das Boot in das Wasser hineinschnitt wie das Messer in ein Brot? Wer hatte nicht am Fuß der Hügel gestanden und den roten Schlitten mit Fränzes kleiner Person beobachtet, wenn er vorüberglitt, während sie mit den steuernden Beinen grüßte? Wer hatte sie nicht auf dem gefrorenen Fluß dahinfahren sehen, um die Wette mit den Fischschwärmen unter dem Eise? Und wer hatte sie nicht bei den großen Skirennen siegesstolz über den Teufelhügel springen und, wie ein weißer Vogel, in die Tiefe hinabschweben sehen? Da mochten die Skiläufer der ganzen Welt mit ihren Prämien und ihrer Meisterschaft kommen! Wo Fränze sprang, da brachte sie den Sieg mit heim.
Und wer hatte sie nicht an Sommernachmittagen wie eine Katze an den Dachrücken entlangschleichen und Kirschen durch die Schornsteine in den alten Häusern mit den offenen Feuerherden hinabwerfen sehen? Vor allem aber, wer hatte nicht – wenn er nicht stocktaub war – Fränze durch die ganze Stadt Wirbel auf der Trommel schlagen und ihre Neuigkeiten in alle Winde hinausrufen hören, wie damals, als ihre weiße Maus Junge bekommen hatte, oder damals, als sie mit Maja Worm die Namen austauschte?
Und doch, das war es nicht, was den Leuten einfiel, jetzt, während die Hochzeitsglocken läuteten. Nein, sie dachten an jenen Sonntag im Mai, als Herr Nieder zur Kindtaufe in Eisenach war. An jenen schrecklichen Tag …
Es wurde im Grunde niemals aufgeklärt, wie das kleine Küken – sie war damals nicht mehr als elf Jahre alt – in der stockfinsteren Nacht, nein, die Nacht war hell, denn es war ja im Mai, aber sie hätte doch in ihrem Bett liegen müssen, ja, das hätte sie müssen … wie sie sich also den mächtigen Strick verschafft und in den Kirchturm hinaufgeschleppt, ihn dort festgebunden, ihn quer über die Straße geschafft, ihn an die Stange gebunden hatte, die die Wetterfahne auf Riebers Haus hielt.
Fränzes kleiner roter Mund war über das Geheimnis geschlossen wie eine Tür, deren Schloß übergeschnappt ist, und die kein Dietrich aufzuschließen vermag. Man sah ja freilich den Strick oben in der Luft, aber wer dachte weiter darüber nach?
Die Kirche war gefüllt wie immer; denn man hatte den Prediger gern. Er hatte keine Ahnung davon, denn sonst hätte er nicht so ruhig dort gestanden und darüber geredet, »daß kein Sperling ohne Seinen Willen zur Erde fällt«. Niemand hatte eine Ahnung davon, ehe die Leute aus der Kirche kamen und das Plakat an die Tür geklebt sahen. Mit großen, roten Kreidebuchstaben stand da: »Um zwölf Uhr geht Fränze auf dem Seil vom Kirchturm herunter. Alle, die es ansehen, müssen Geld in die Kruke legen zu einem hölzernen Bein für den alten Martin.«
Daß niemand sie zurückhielt! Daß niemand auf den Einfall kam, die Wendeltreppe im Turm hinaufzulaufen und mit einer Axt die Tür zu sprengen, die sie verriegelt hatte!
Die Leute wollten ja nun nach Hause zu ihrem Sonntagmittagessen, und es herrschte bei dem Gedanken daran eine Freude, die gleichsam in einem Bogen von dem einen Sonntag bis zu dem anderen ging. Es ist ja nicht gut für einen Braten, wenn er zu lange gebraten wird, nicht wahr? Und für den Fisch ist das Warten der reine Ruin. Gar nicht zu reden von dem Pudding, der wie ein Schneemann im Sonnenschein zusammenfällt. Aber nicht einer ging fort, nicht ein einziger. Sie blieben draußen vor der Kirche in ihren guten Kleidern stehen, das Gesangbuch in der Hand, unschlüssig murmelnd. Sie sahen in die Luft hinauf, spähend nach allen Richtungen, als schauten sie nach einem Kometen, von dem in der Zeitung gestanden hatte.
Herr Jesus, da kam sie! Ganz still stand sie da, während die Kirchenglocken klangen und schwangen, daß die Luft erzitterte. »Fränze! Fränze!« Wann hatte man so einen Ruf gehört? Aber Fränze stand da, als höre oder sähe sie nicht. Jetzt verstummten die Kirchenglocken. Es wurde so still, daß man förmlich das Brüllen der Kühe draußen von den Weiden her hörte.
Ein Fenster tat sich auf. Betten und Kissen wurden herausgeworfen, ein zweites Fenster, immer mehr, viele … Aber die Menge da unten stand wie gelähmt. Rührte sie sich, oder waren es nur die Augen, die vom Starren angestrengt waren? Ja, sie rührte sich. Sie trat in die Luft hinaus, nicht hastig und mit Tanzschritten so wie sonst, sondern gleitend, schwebend, erst auf dem einen Bein, dann auf dem anderen. Sie hob die Arme hoch empor und streckte sie weit aus. Sie trug eine lange Stange in den Händen.
Das Seil bewegte sich, es schaukelte stark nach Osten hinüber. Gott im Himmel! Jetzt schaukelte es nach Westen hinüber. Fränze schaukelte mit wie ein Schmetterling auf einem Blatt. Die alten Leute dachten an die, so da unter der schwarzen Erde lagen. Aber dann sprachen sie wieder: »Nein, Fränze fällt nicht herunter! Wir können Fränze nicht entbehren! Sie ist wie die Sonne an einem Wintertag! Sie ist wie die Schwalben im Frühling! Sie ist wie ein weicher Sessel, wenn man müde ist! Wie ein Schlummer in der Dämmerstunde! Wie das gute Feuer, wenn die Kälte kommt! Wie eine Katze, die spinnt! Wie eine alte Melodie! Sie ist wie Goldlack und Walderdbeeren! Sie ist wie alles das, was vor langer Zeit war, das, wovon zu träumen gut ist! Der liebe Gott halte seine Hand über ihr! Sie soll nicht sterben!«
Und Fränze glitt, vorwärts, abwärts, schaukelnd nach Osten, schaukelnd nach Westen. Jetzt war sie in der Mitte des Seils. Jetzt sah man sie lächeln. Ein vorsichtiges Lächeln, ein wenig ängstlich, ein wenig stolz. Es war still wie in einem großen Walde, ehe das Unwetter losbricht. Der Pfarrer stand da im vollen Ornat, mit entblößtem Haupt. Die Schweißtropfen rollten ihm über die Stirn hinab. Fränze! Kleine Fränze! Herzenskind!
Das Seil hing wie in einem Bogen; jetzt ging es wieder aufwärts. Der Wetterhahn drehte sich, es klang wie ein kleiner Schrei. Fränze ging in der blauen Luft. Jetzt war sie über dem Dach und doch in der blauen Luft. Sie machte einen letzten Schritt, wie wenn man einen Anlauf auf einer Glitschbahn nimmt. Jetzt, Gott sei ewig Lob und Dank! Da stand sie, den einen Arm um die Stange, die den Wetterhahn trug, den anderen auf die Balancierstange gestützt.
Wer war es doch, der Hurra rief? Wer fing an? »Hurra! Hurra! Hurra!« Seht das Lächeln! Fränzes Lächeln! Sie will etwas sagen, aber der Laut ertrinkt in dem Lärm, sie will mit der Hand winken und vergißt, daß sie sich festhalten muß. Oder erschrickt sie über ihre eigenen Tauben, die gerade über das Dach hinfliegen und an ihr vorüberschwirren?
Zuerst rollt der lange Stock, rollt und rollt, wird aber von der Dachrinne aufgefangen. Warum läßt sie doch mit der anderen Hand los? Warum läuft sie plötzlich mit vielen, vielen kleinen, munteren Trippelschritten die roten Dachsteine hinunter, als laufe sie mit ausgebreiteten Armen hinter einem Schmetterling drein?
Wer sah sie durch die Luft fliegen? Wer konnte es aushalten, mit geöffneten Augen dazustehen und sie im Fall rundherum wirbeln zu sehen? Wer? Arme erheben sich und breiten sich aus wie Zweige, die im selben Augenblick aufschieben, alle Gesangbücher liegen an der Erde.
Man hört den Fall. Es klingt wie ein Platschen im Wasser. Nicht anders. Alle Herzen stocken einen Augenblick, wie Uhren, die plötzlich stillstehen. Jeder Mensch fühlt die Eiskälte durch Mark und Bein dringen.
Dann wurde Fränze aufgehoben. Sie atmete. Sie lebte. Sie lächelte. Wer hat das kleine bleiche Lächeln vergessen, das flehte: »Seid nicht böse, weil ich euch bangemachte, ich fiel ja nicht mit Willen!« Sie schloß die Augen, und diejenigen, die nahe genug waren, sahen, wie der Schmerz ihr in den Augenlidern und um den Mund zitterte und zuckte. Dann wurde sie ganz still, wie jemand, der schläft.
In jedem Hause wartete der braune Braten. Der Fisch glitt im Kessel auseinander und zerfiel in weiße Blätter. Der Pudding sank in seine eigene Ruine zusammen. Auf dem Marktplatz vor Riebers Haus war die ganze Stadt versammelt, während drei Ärzte sich um Fränze abmühten. Nach einer Weile lag sie in gellenden Schreien. Auf einen jeden der fürchterlichen Schreie folgte ein Seufzen draußen in der Menge. Und das hielt an. Es hielt an.
Konnte man es draußen in den Bergen hören? Oder war es, weil man die Kirchgänger zurückerwartete und sie nicht kamen? Draußen aus den Bergen und nahe aus den Wäldern kam eine ganze Schar alter Frauen und Männer gewandert, die sich sonst daran genügen ließen, den Text des Tages in ihrem Bibelbuch zu lesen. Sie hielten kleine Kinder an der Hand, Kinder, auf die sie achtzugeben versprochen hatten, oder Kinder, die versprochen hatten, auf sie achtzugeben. Auch sie versammelten sich auf dem Marktplatz vor Riebers Haus.
Da blieben sie stehen, bis die Finsternis hereinbrach und die Schreie verstummten. Dann ging ein jeder nach Hause, aber niemand zündete Licht an oder klappte die Spieltische auf. Und in den Straßen spielten die Kinder nicht Räuber und Soldat wie sonst. Oben in der Luft hing, leise schaukelnd, das Seil, das Fränze zwischen dem Kirchturm und der Wetterfahne auf des Vaters Haus ausgespannt hatte. –
An jenen Tag dachten die Leute jetzt, während die Hochzeitsglocken für Fränze Rieber läuteten.
Zwischen den Häusern in den Straßen, durch die die Hochzeitskutsche fuhr, waren grüne Girlanden gespannt, die Straßen selbst waren mit weißen Narzissen bestreut, und die Kirche war in eine Laubhütte verwandelt. Aber als Fränze an Albert Vogts Seite vor dem Altar kniete, sah sie plötzlich alle die Abenteuer ihres Lebens vorübergleiten, und es durchschauerte sie. Sie hatte sich gerade so inniglich sicher gefühlt, und nun kam die Angst wieder. Sie wollte vergessen und konnte nicht. Diese Treue gegen jeden gedachten Gedanken und gegen jedes noch so kleine Erlebnis machte sie immer sich selbst gegenüber unsicher und bange vor dem Leben, das sonst so schön war. Jetzt war ihr, als stünde hinter jedem Pfeiler der Schatten eines Mannes, dem sie ein Versprechen gegeben, und der deswegen Anspruch auf sie hatte. Sie hörte sie ihren Namen flüstern.
Jedoch Albert hielt sie fest an der Hand und merkte nichts. Sie hatte ihm ja nichts vorgelogen oder verschwiegen. Sie hatte ihm alle die Briefe gezeigt und ihm alle ihre Tagebücher gegeben, und immer hatte er so überlegen gelächelt: »Kindereien! Damit werden wir schon fertig werden! Das war nur Einbildung, ich bin die Wirklichkeit!« Darin hatte er vielleicht auch recht. Aber er nahm die Last nicht von ihr. Wenn er sagte: »Jetzt liebst du zum ersten und einzigen Mal!« dann gab es ihr einen Stich durchs Herz. Das hieß ja alle die andern verleugnen.
Nach dem Festmahle fuhr das junge Paar, Fränze in ihrem weißen Kleid mit Schleier und Kranz, im offenen Wagen durch Straßen und Gassen, um die beflaggte Stadt zu sehen und Abschied zu nehmen. Jeden Augenblick mußte der Wagen halten. Hier war das alte Gerberhaus, von dem sie so viel geschrieben hatte; das mußte, ja, das mußte er sehen. Hier wohnte eine arme lahme Näherin, der sie versprochen hatte, sich im Brautkleid zu zeigen. Hier war das Holzlager, wo sie einmal einen ganzen Bretterstapel fortgeräumt hatte, weil sie glaubte, daß da eine Katze in der Klemme sitze. Hier war die rote Speicherwand, an der sie sich im Hinaufklettern geübt hatte, so wie der berühmte Gefangene, der an allen Mauern hinaufklettern konnte. Und hier war die Brücke, von der sie, um eine Wette zu gewinnen, mit allen Kleidern hinabgesprungen war.
Sie fuhren in die Berge hinaus. Fränze mußte sich von allen Freunden und allen Stätten verabschieden. Die Dämmerung brach herein, ehe sie wieder nach Hause gelangten, gerade noch früh genug, um sich umzuziehen und Fränzes Vater und Maja Worm, ihrer Base und allerbesten Freundin, Lebewohl zu sagen.
Kaum waren sie allein im Abteil, als Fränze ihren Mann anflehte, bei der nächsten Haltestelle auszusteigen. Sie könne ihre Berge noch nicht entbehren. Einen Augenblick später bat sie ihn weinend um Verzeihung, weil sie so unvernünftig war. Er nahm ihre Hände in die seinen, und das Lächeln um seinen Mund war so strahlend und selbstbewußt, daß sie alle Angst und Unruhe vergaß.
Auf ihren eigenen Wunsch hatte Albert sie mit dem Plan für die Hochzeitsreise überrascht. Anfangs begriff sie den Zweck dieser sprunghaften Fahrt nicht, als er ihr aber klar wurde, staunte sie wie nie zuvor.
Es war ganz natürlich, daß sie erst nach Rothenburg fuhren, wo sie im vorigen Jahr einander gefunden hatten. Sie kehrten in demselben Gasthof ein, in dem Fränze mit ihrem Vater gewohnt hatte, und wo sie, seit die erste Begegnung geschah, jeden Morgen auf dem Balkon einen ganzen Teppich von Blumen vorfand, die ringsumher auf den grünen Hügeln gepflückt waren. Fränze erinnerte sich so deutlich der kleinen – längst überwundenen – Enttäuschung, als sie erfuhr, daß Albert Vogt nicht Naturforscher war, wie sie ganz bestimmt angenommen hatte, sondern schlecht und recht Zigarrenfabrikant.
Eines Morgens, als sie ihm zufällig – das geschah immer zufällig – begegnete, zeigte er auf einen kleinen Riß in ihrem hellgeblümten Batistkleid. Sie betrachtete ihn und versprach, ihn zu nähen, sobald sie nach Hause käme. Am nächsten Tage machte er sie darauf aufmerksam, daß der Riß noch da war. Sie lachte ein wenig verlegen und – vergaß, den Riß zu nähen. Am dritten Tage gingen sie rund um die Stadtmauer herum. Schließlich führte er sie durch die schmalen, steilen Gassen auf den Marktplatz in die Apotheke, wo er sich Heftpflaster geben ließ. »Die junge Dame hat nämlich ein kleines Malheur gehabt und ihr Kleid zerrissen!«
Fränze hätte sich lieber mit Brennesseln peitschen lassen. In jener Nacht weinte sie sich in den Schlaf – und am nächsten Tage hielt Albert Vogt um ihre Hand an. Das war das letztemal, daß jemand sie mit einem Riß im Kleide oder mit Handschuhen ohne Knöpfe sah.
Sie paßte sich immer unwillkürlich ihrer Umgebung an, namentlich aber dem Manne, dem sie zugetan war. Albert Vogt war ordentlich, und sie erzog sich zur Ordnung. Er war Geschäftsmann, und sie machte sich mit einer solchen Leidenschaft mit der Tabakfabrikation vertraut, daß sie bald die Marktpreise von Rohtabak auf der ganzen Welt kannte. Sie studierte die Form der einzelnen Zigarren, die Marken, die Art, wie sie gerollt waren. Sie übte sich darin, die Farben der Deckblätter zu unterscheiden.
Vogt interessierte sich für Naturwissenschaften; und sie saß bis tief in die Nacht hinein in die schwierigsten wissenschaftlichen Werke vertieft, die sie allerdings nicht verstand, von denen sie aber, infolge ihres weiblichen Instinkts, dennoch einen Begriff bekam. Daß sie so ungeheuer leicht lernte, kam ihr auch hier zugute.
Sie bemühte sich, ihr Inneres nach dem seinen auszubilden und die Welt und die Menschen mit seinen Augen zu sehen, aber hier versagte ihr Bemühen. Wenn er ihr erzählte, daß Gefängnisse ein notwendiges Schutzmittel für die Aufrechterhaltung der Gesellschaft seien, daß es Menschen gäbe, die ausgerottet oder auf Lebenszeit eingesperrt werden müßten, daß ein Falschmünzer unter Umständen ein größerer Verbrecher sei als ein Raubmörder, weil sich dieser gegen einen einzelnen versündigt, jener aber gegen das Vertrauen der ganzen menschlichen Gesellschaft, dann lauschte sie mit großen Augen, ihr Herz stimmte ihm aber nicht zu. Er hob stets hervor, daß sie ihre Persönlichkeit bewahren solle, er wolle nur ihre verkehrten Anschauungen ändern. Für sie waren Persönlichkeit und Anschauungen dasselbe.
Jeder Schritt, den sie jetzt hier in Rothenburg, an der Seite ihres Gatten wanderte, überzeugte sie davon, daß sie schon verwandelt war, umgeformt nach seinem Willen. Nur in einer Beziehung war sie dieselbe: Treue gegen die Vergangenheit, gegen die Erinnerung.
Sie fuhren nach Ostende. Am liebsten hätte Fränze gebeten, mit diesem Ort verschont zu bleiben. Ostende war ja unlöslich verknüpft mit der Erinnerung an Gaston le Lys, den französischen Attaché, den sie vor drei Sommern kennengelernt hatte. Seine anziehenden, bald leidenschaftlichen, bald neckischen Briefe lagen zusammen mit den anderen Briefbündeln auf dem Boden ihres Koffers.
Wenn sie seinerzeit mit ihm am Strande entlang ging in einer der Pariser Toiletten, mit denen ihr viel zu nachgiebiger Vater sie überschüttete, fühlte sie, daß sie, seit dem Morgen aller Ewigkeiten, füreinander bestimmt waren. Die anmutigen Wendungen seiner Sprache, die Vornehmheit seiner Denkweise, der Sturm in seinen Gefühlen, alles harmonierte mit ihrem eigenen Wesen. Zusammen hatten sie ein Zukunftsmärchen gedichtet, so schön, daß die Erinnerung daran sie noch jetzt vor Wonne erschauern machte. Wie hatte sie nicht die Abende im Kasino genossen, wenn das unübertreffliche Orchester spielte, wenn der Saal von Toiletten und Uniformen erstrahlte und die Luft betäubend von Wohlgerüchen war. Und später, wenn sie mit ihm tanzte, so daß sich alle im Kreise um sie scharten, um zu sehen … um die Tänze zu sehen, die der spanische Maestro mit den beiden allein studierte. Sie verfolgte das Bakkaratspiel, an seiner Seite stehend, erregt von der allgemeinen Erregung, hingerissen von dem Glanz und dem Funkeln des Goldes. Er hatte den Sinn für französische Poesie in ihr geweckt, und um ihm zu gefallen, lernte sie Dutzende von Gedichten von Baudelaire, Victor Hugo und de Vigny auswendig. Sie schaffte sich Werke über französische Heraldik an und studierte die Jahrbücher des französischen Adels mit demselben Eifer, mit dem sie ein Jahr zuvor, während der kurzen, aber heftigen Verliebtheit in den Ingenieur, der in einem Duell gefallen war, die Brückenbaukunst studiert hatte.
Während sie jetzt mit ihrem Gatten auf der kleinen Bahn von Brügge an die Küste hinausfuhr, sah sie das Ganze wieder leibhaftig vor sich. Sie schmiegte sich eng an Albert und flüsterte: »Ich bin so bange! Ich denke an so vielerlei, was ich vergessen sollte! Ich bin eine schlechte Person!« Albert aber lächelte: »Mein kleines Herzblatt soll sich keine überflüssigen Sorgen machen! Vertraue du nur mir, ich ordne alles aufs beste für dich!«
Sie waren einen einzigen Tag in Ostende geblieben. Sie hatten jeden Fleck aufgesucht, der Fränze an die Vergangenheit erinnerte. Hier hatte Gaston zum erstenmal die Spitze ihres weißen Schuhs geküßt, als das Band sich gelöst hatte und er es ihr wieder binden wollte. Hier hatte er von seiner Mutter erzählt, die schneeweißes Haar habe und eine Haut wie ein junges Mädchen. Hier hatte er von den harten, trübseligen Jahren im Internat erzählt, wo er sich jeden Tag danach sehnte zu sterben. Hier hatte er ihr seine Liebe erklärt. In diesem Hotel hatten sie Fünfuhrtee getrunken, und das ganze Tischtuch war mit Orchideen bedeckt gewesen. Und genau auf diesem Fleck war sie ohnmächtig geworden vor Spannung, als sie ein Zwanzigfrancsstück setzte und fünfhundert Francs mit nach Hause brachte. Albert ließ sie reden. Aufmerksam hörte er zu, als schreibe er die Worte auf. Und wenn ihr glühendes Antlitz ihm zugewendet war mit der Frage: »Bist du auch böse?«, dann lächelte er zurück: »Ich könnte ebenso gut auf eine Blume oder auf eine Wolke böse werden wie auf dich.«
Als die Dunkelheit hereinbrach, machten sie eine letzte Wanderung am Meeresstrande, und Fränze fing heftig an zu weinen. Jetzt faßte sie es gar nicht, wie sie es hatte übers Herz bringen können, kaum drei Monate später an Gaston zu schreiben, daß das Ganze nur ein Irrtum wäre, daß sie ein kleines Mädchen aus der Provinz sei, das nicht in die große Welt da draußen hineinpasse, daß sie sich nur aus ihren Bergen und ihren Wäldern etwas mache, und daß sie außerdem einen anderen liebe.
Seine Antwort war würdevoll und förmlich, aber der Schmerz zitterte hinter seinen Worten. Er wollte an keine Wandlung, an keinen Irrtum glauben; entweder habe sie ihn nie geliebt, oder sie liebe ihn noch jetzt. Und als sie kurz vor Weihnachten von seinem Selbstmordversuch hörte, mußte der Vater sie mit Gewalt daran hindern, zu ihm zu reisen. Der Vater hatte gefragt: »Liebst du ihn, Fränze?« Und sie mußte den Kopf schütteln. Sie liebte nur die Erinnerung an das, was vorbei war. Außerdem liebte sie ja auch einen anderen.
Am nächsten Tage reisten sie nach Brüssel. Albert bat sie, sich während des Vormittags selbst zu beschäftigen, er habe Geschäfte zu ordnen. So wanderte denn Fränze allein von dannen, sie schwelgte in dem Anblick der alten Patrizierhäuser auf dem Marktplatz, kaufte sich eine kleine Spitze und kehrte nach dem Gasthof zurück. Albert war nicht gekommen, aber da lag ein Telegramm: »Ich bringe einen Gast zu Tisch mit!«
Fränze breitete ihre Kleider aus und wählte ein schwarzes, tüllüberzogenes seidenes Gewand, weil sie meinte, das sähe am frauenhaftesten und würdigsten aus. Lange schwankte sie zwischen schwarzen Schuhen und Schuhen in der Farbe der Orchideen, die Albert geschickt hatte. Dann stellte sie sich vor den Spiegel, tat eine Ahnung von Rot auf ihre Lippen, gab den Augenbrauen einen Hauch von Schwarz und war sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Das gehörte ja auch zu Fränze. Sie richtete sich nicht nur nach dem Menschen, den sie liebte, sondern auch nach dem Land, in dem sie sich zufällig aufhielt. In Frankreich und Belgien war sie eine kleine Pariserin und benutzte Augen und Ohren, um den Eingeborenen ihre kleinen Toilettengeheimnisse abzulauschen, in England war sie eine schmale, korrekte Lady mit vollkommenen Bewegungen und einem linealgeraden Rücken, wenn sie speiste. Daheim in Deutschland benahm sie sich je nach den verschiedenen Kreisen in den verschiedenen Städten. Sie konnte den einen Tag mit wollenen Strümpfen und dicksohligen Schuhen gehen, in den Bergen herumklettern und in den Alpenhütten auf Stroh schlafen und sich in Schnee waschen, und am nächsten war ihre Haut so empfindlich, daß nur die allerfeinsten Handschuhe und Schuhe aus dem ersten Geschäft in Athen oder Paris gut genug waren. Sie konnte das Haar mit der linken Hand aufdrehen, während sie mit der rechten sich die Zähne putzte, und sie konnte einen Friseur zwei Stunden lang mit dem Haar herumwirtschaften lassen, ehe es ihr nach Wunsch saß. Zu der Pariser Toilette und der Frisur und den lila Schuhen und den künstlich roten Lippen gehörte ein kleines, feines, verschmitztes Lächeln, das zwar nicht Fränzes eigenes Lächeln war, das aber trotzdem in ihr Gesicht hineinpaßte.
Die Tür tat sich auf. Das Blut wich aus ihren Wangen, sie mußte sich Hinsehen, um nicht zu fallen. Gaston le Lys kam ihr entgegen, beugte sich herab und küßte ihr die Hand: »Ich habe soeben die Freude gehabt, die Bekanntschaft Ihres Herrn Gemahls zu machen. Darf ich mir erlauben, meinen besten Wünschen für eine glückliche Zukunft für Sie beide Ausdruck zu verleihen?«
Albert stand im Hintergrund des Zimmers. Jetzt näherte er sich und legte den Arm leicht um ihre Schulter: »Liebe Fränze, ich habe Graf le Lys von deiner Treue für die Erinnerung an alte Zeiten erzählt, und nun, denke ich, habt ihr vielleicht Lust, ein wenig allein miteinander zu plaudern. In einer halben Stunde speisen wir!«
Er war fort. Fränze wollte rufen: »Geh' nicht von mir!« Aber es war zu spät. Sie war allein mit Gaston le Lys. Eine Weile schwiegen sie beide, dann sprach er: »Ich bin sehr dankbar für die Erlaubnis Ihres Gemahls. Wäre er nicht gekommen, hätte ich mein ganzes Leben lang Groll gegen Sie gehegt. Jetzt weiß ich, daß Sie recht hatten. Sie waren Ihrer Natur treu …«
Fränze barg den Kopf in den Händen und weinte leise. Wieder sprach Gaston le Lys: »Ihr Gatte fragte, ob ich Sie vergessen habe, und ich antwortete so, wie es war. Die Wunde schmerzt noch, aber sie blutet nicht mehr!« Fränze griff blindlings nach seiner langen, schmalen Hand und legte sie auf ihre nassen Augen. Die Hand war kalt, und sie zitterte: »Verzeihen Sie mir … Gaston … verzeihen Sie mir …« Der junge Mann flüsterte kaum hörbar zurück: »Ich empfinde keinen Kummer bei dem Gedanken, daß Sie verheiratet sind!«
Sie standen beide am Fenster und sahen aus der Höhe hinab auf die schöne Stadt. Von Sainte Gudule und den anderen Kirchen läuteten die Vesperglocken. Fränze bat: »Wenn Sie einstmals … die Rechte … finden, darf ich sie dann kennen lernen?« Gaston le Lys atmete tief auf: »Der Tag liegt hinter dem Horizont. Aber ich verspreche Ihnen, Fränze, nach meiner Mutter sollen Sie die erste sein, die es erfährt!«
Albert trat ein, in Frack und weißer Binde. Unwillkürlich stellte Fränze einen Vergleich zwischen den beiden Männern an. Beide waren gesund, schlank, gutgebaut, aber Albert hatte nichts von Gastons Eleganz. Albert war Deutschland, Gaston Frankreich. Und sie fühlte mit unumstößlicher Sicherheit, daß Albert der einzige Mann war, der ständig die Herrschaft über sie behaupten und ihre Zeit und ihre Gedanken ausfüllen würde.
Es ward ein wohlgelungener Abend. Die beiden Männer waren, jeder auf seine Weise, weltgewandt. Sie kannten die Länder nicht nur durch Landkarten und Lektüre. Die Eindrücke, die sie von ihren vielen Reisen mitgebracht hatten, waren so verschieden wie ihr Wesen, ihre Erziehung und die Umgebung, der sie entstammten, aber sie waren einander ebenbürtig. Und späterhin am Abend, als Fränze an dem grünen Likör nippte, war sie so übermütig glücklich, daß sie drauflos erzählte: Hunderte von kleinen munteren Geschichten, die sie selbst nie müde wurde zu hören. Sie erzählte auf eine eigene, vorsichtige Weise, immer ein ganz klein wenig ängstlich, die Pointe zu verderben; aber wenn die Herren lachten, zwitscherte sie selbst auf wie eine Lerche.
Ihre Seele war erfüllt von Neugier zu erfahren, »wie es zugegangen war«. Ob es ein bloßer, reiner Zufall war, oder …? Aber sie konnte sich nicht entschließen zu fragen, und Albert gab keine Aufklärung.
Dann reisten sie nach Osnabrück. Was Albert dort wollte, war Fränze ein Rätsel, es sei denn, daß er plötzlich Sinn für Aussichten bekommen hatte, die an Rembrandtsche Landschaften erinnerten.
Am Abend gingen sie ins Theater. Kleists »Prinz von Homburg« wurde gegeben. »Du hast wohl das Stück schon früher gesehen?« Weshalb fragte er nach etwas, das er doch so gut wußte? Sie senkte das Köpfchen, versunken in alte Erinnerungen. Dann ging der Vorhang auf. Fränze hatte ein Gefühl, als wenn sie sich im Traum plötzlich nackt mitten auf der Straße befände. Ihr Mann beobachtete sie von der Seite. Sie schloß die Augen und wollte nicht sehen – hörte aber. Nach einer Weile sah sie auch. Den Kopf vorgestreckt, mit pochenden Pulsen, in fieberhafter Spannung, folgte sie dem Spiel.
Sie war wieder sechzehn Jahre alt. Ja, das war er, ihr Prinz, ihr armer, geliebter Prinz, der nicht die Mittel besaß, das Hemd öfter als einmal die Woche zu wechseln. Ihr Prinz, der seine Unterhosen selber stopfte und eigenhändig sein Essen kochte, um seiner armen alten Mutter Geld senden zu können …
Sie war wieder sechzehn Jahre alt. Er spielte für sie allein. Sie fühlte es. Sie wußte es. Sie trug eine rote Rose im Gürtel, die warf sie ihm auf die Bühne, und sie fiel zu seinen Füßen nieder. Und nun wußte sie, daß sie ihm ihre Seele verschrieben hatte. Am Abend, als sie nach Hause kam, schrieb sie einen langen Brief an ihn und schlich selbst hinüber und steckte ihn in den Postkasten. Er antwortete – auf rosafarbenem Papier. Er bat um eine Begegnung.
Sein Rock war zu eng. Die Ärmel waren zu kurz. Er brachte ihr einen Veilchenstrauß. Er war dreiundzwanzig Jahre alt, und sein Gehalt betrug zweihundert Mark im Monat – wenn gespielt wurde – und seine Garderobe mußte er sich selber halten. Er fragte, ob sie auf ihn warten wolle, bis er berühmt sei, und sie versprach es. Sie erbot sich, mit ihm zu fliehen, aber er schüttelte den Kopf. Er sei zu stolz, um ein »reiches Mädchen« zu entführen. Zum erstenmal ging es ihr auf, daß ihr Vater wohlhabend war. Sie ging nach der Bank und erhob die fünfhundertundsiebenundzwanzig Mark, die in ihrem eigenen Sparkassenbuch standen, und sandte sie an die Mutter »des Prinzen«, mit einem Brief, der mit den Worten schloß: »Ihre treue, ewig unglückliche Schwiegertochter.«
Aber sie schrieb keinen Namen darunter.
Von dem Prinzen kam, zwei Monate nach seiner Abreise, ein Brief, der von Tränen befleckt war: »Das Leben trennt uns, bleib' du mir aber treu! Unsere Liebe ist stärker als das Schicksal. Wenn mein Name auf aller Lippen ist, komme ich und führe meine Braut heim!« Es waren welke Rosenblätter in den Brief gelegt.
Aber der Brief kam gerade am Tage nach Fränzes erstem Karneval, auf dem sie ihr ganzes Herz an einen florentinischen Jüngling verloren hatte, der sich später als Ulanenoffizier entpuppte. Sie beantwortete den Brief deswegen nicht, und »der Prinz« kam niemals. Sie vergaß ihn nicht, es kamen nur andere dazwischen. Eines Tages las sie »Die Frau vom Meer« – und seither träumte sie mit einem Zwischenraum von Monaten, daß »der Fremde« in Gestalt »des Prinzen« sie rufe und ein Anrecht auf sie habe, weil sie ihm ihr Versprechen gegeben hatte.
Wie eine Nachtwandlerin folgte sie nun dem Spiel, und wie eine Nachtwandlerin folgte sie Albert aus dem Theater hinaus.
War er noch immer so arm? Wartete er noch auf den Tag, »an dem sein Name auf aller Lippen sein würde«, um zu kommen und sie zu holen?
Albert schien vertieft in die Lektüre der »Kölnischen Zeitung«. Rings um sie herum setzten sich die Leute an die Tische. Der Kellner näherte sich, aber Albert winkte ihm ab mit einem: »Noch nicht!«
Plötzlich erhob er sich und ging schnell durch den Speiseraum. Fränze stand das Herz still … »Der Prinz« – und eine Dame! Wie durch einen Nebel sah sie die Herren sich begrüßen, sah sie »den Prinzen« die kleine Dame vorstellen, deren hochrote Sammetbluse mit schwarzen Stickereien zu dem schwarzen Sammetrock mit roten Stickereien aussah, als sei der ganze Staat eben aus einem Leihhause geholt. Albert bahnte dem Paar einen Weg und stellte vor: »Meine Frau, Schauspieler Werner und Frau Gemahlin!«
Der Rock des Prinzen von Homburg war nicht zu eng, und die Ärmel waren nicht zu kurz. Sein Haar duftete nach Rosen. Er sah Fränze mit einem Blick an, der voll von Wiedererkennen sein sollte – aber der Blick hatte vergessen! Die kleine Frau ließ sich, halb stolz und halb verlegen, zwischen ihrem Gatten und Albert Vogt unterbringen. Der Prinz fing an, von »den schönen, längst entschwundenen Zeiten« zu reden, während Albert mit großer Sorgfalt das Abendessen zusammenstellte.
Fränze hatte während der ganzen Zeit ein Gefühl, als fülle sie die Hände mit trocknem Sand, der ihr wieder zwischen den Fingern hindurchsickerte. Die kleine Frau sprach mit ihr, und nach einer Weile wußte sie, daß »der Prinz« zwei Kinder hatte, und daß er augenblicklich damit beschäftigt sei, »Hamlet« einzustudieren. »Das ist ja eine Riesenrolle, wie Sie wohl wissen – eine Riesenrolle! Hat er aber Erfolg, so steht ihm die ganze Welt offen!« Fränze nickte und verstand.
Das Essen kam, und sie machte die Erfahrung, daß Herr Werner Austern mit dem Bart vorzog. Es wurde Champagner getrunken, und Fränze dachte an die alte Mutter des Prinzen.
Die kleine Frau rückte ihren Stuhl zu Fränze hinüber und ließ die Hand über ihr Kleid gleiten: » Crêpe de Chine! das ist aus Paris, nicht wahr? Das ist teuer gewesen?« Fränze errötete und ärgerte sich über ihr Erröten und begann Frau Werners schönes goldiges Haar zu loben: »Was geben Sie mir, wenn ich Ihrem Haar im Laufe von vierundzwanzig Stunden dieselbe Farbe verschaffe?« Fränze schauderte und fragte, ob sie auch Komödie spiele. Die kleine Frau sandte ihrem Mann einen hastigen Blick zu und sagte: »Ja, ich spiele … das heißt … ich bin ja nicht so ein Genie wie mein Mann … Ich … ich … helfe mehr so aus …« Sie senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern: »Unter uns gesagt, ich schminke. Ich verdiene meine dreißig Mark die Woche, außer dem, was ich bekomme, wenn ich in kleinen Rollen auftrete … Aber sprechen Sie nicht davon … es ist meinem Mann ein bißchen peinlich …«
Fränze hörte wie im Schlaf die kleine Frau in ihr Ohr hinein flüstern: »Ach, Sie sind, weiß Gott, weder die erste noch die letzte, die ganz weg in meinen Mann gewesen ist. Er kriegt Briefe, kann ich Ihnen sagen, von Dienstmädchen und von vornehmen Damen … Einmal kamen sechs Flaschen Champagner und ein Gedicht von einer Justizrätin! …«
Als sie wieder allein oben in ihrem Zimmer waren, verkroch sich Fränze hinter der Gardine. Sie konnte Albert nicht in die Augen sehen. Aber er nahm die elektrische Lampe vom Schreibtisch und ließ ihr das Licht gerade in das schamrote Gesicht fallen. »Nun, Herzchen, was sagst du denn dazu, die Vergangenheit wieder aus dem Grabe erstehen zu sehen?« Fränze schnuckste zwischen Weinen und Lachen: »Ich habe einmal ein Tintenfaß über ein neues weißes Kleid verschüttet, gerade als ich zum Ball gehen wollte. Genau so ist es …«
Er hob sie in die Höhe und trug sie vor den Spiegel, damit sie sich einprägen könne, wie ein kleines Mädchen aussieht, das sich schämt.