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Der Sturm

Zwei Tage lang hatte der Sturm gewütet. Die Rettungsmannschaft kam nicht aus den Kleidern. Von allen Seiten wurden Strandungen gemeldet. Daß eins der Feuerschiffe sich losgerissen hatte, machte die Lage noch schlimmer. Marylka sah in der Nacht die rötlichen Lichter aus den Hütten hervorleuchten. Sie dachte überhaupt nicht an Schlaf. Die Weiden bogen sich zur Erde, und sie erwartete, daß die Telegraphenstangen zerbrechen würden. Das Brausen des Meeres und das Heulen des Sturmes verkündeten Tod. In Marylkas Stube war es warm und traulich; öffnete sie jedoch die Tür bloß einen Spalt, so drang ein ganzes Gestöber von nadelspitzen Schneekristallen herein, und sie mußte alle Kraft aufbieten, um die Tür wieder zu schließen.

Am dritten Tage gegen Abend meldete der Konsul, daß weit draußen ein großes Segelschiff stampfend liege. Es schicke unaufhörlich Raketen empor. Marylka wartete nicht ab, bis er ausgesprochen hatte; schon hatte sie die Hand auf dem Apparat. Um Mitternacht kam einer der Fischer herbeigestürmt: weiter nördlich signalisiere man nach schneller Hilfe. Marylka konnte nichts anderes tun, als die Meldung weitersenden. Ihr Gemüt war in seltsamem Aufruhr. Sie hatte die deutliche Empfindung, daß ihre Arbeit nicht beendet war. Wer wenn noch mehr Unglücksfälle kamen, so genügte es ja nicht, Meldung nach dem Festlande zu machen. Der Rettungsdampfer war längst draußen. Die Zeit schritt so langsam vor.

Heftiger und krachender schlugen die Windstöße gegen die Hütte. Marylka dachte: Wenn die Pfosten nun nachgeben würden! Aber dann fiel ihr ein, wie viele Jahre sie am Strande festgestanden hatten, und dann später an Land. Die hielten gewiß aus, Marylkas Zeit hindurch. Und doch, Simson stürzte den ganzen Philistertempel, indem er bloß zwei Pfosten losriß! Was vermochte nicht Gottes allmächtige Hand! Sie setzte den Kaffeekessel aufs Feuer, mehr um eine Beschäftigung zu haben, als weil es sie nach Kaffee verlangte. Doch der Duft regte sie an. Da stürzte der älteste Sohn des Konsuls herein: »Das eine Rettungsboot ist gekentert, drei Mann sind ertrunken!« Marylka hielt die Hand ans Herz. Aber er war noch nicht fertig: »Vater glaubt, daß sie alle als Leichen an Land treiben.«

Marylka ertrug die Einsamkeit in der warmen Stube nicht. Sie wickelte einen gestrickten Schal um Kopf und Schultern und zwang sich in den Sturm hinaus, der ihr sofort den Atem benahm. Himmel und Erde waren ein einziges wirbelndes Gestöber. Sie schmeckte das Salz des Meeres, Augen und Mund schmerzten. Von Zeit zu Zeit, nach einem besonders heftigen Windstoß, bemerkte sie schwachen Lichtschimmer am Strande: das war die Stelle, wo die Rettungsboote in See gegangen waren. Dort standen jetzt die Frauen mit Laternen in den Händen und Angst im Herzen und warteten – auf Leben oder Tod.

Sie ließ sich peitschen vom Sturm und Schneegestöber. Plötzlich lauschte sie: Erscholl dort nicht in weiter Ferne, hergetragen vom Geheul des Windes, eine klagende Menschenstimme, ein langgedehnter Schrei um Hilfe? Sie sagte sich selbst, es sei Einbildung; in einem solchen Orkan könne man auf zwanzig Schritt Entfernung nichts hören. Aber sie ging vorwärts. Wieder lauschte sie. Nur der Sturm schrie. Nur er. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, aber mit der Willenskraft, die sie seinerzeit instandgesetzt hatte, die Balken aus dem Sande zu reißen, kämpfte sie sich jetzt gegen das Ungestüm des Sturmes vorwärts. Sie hatte alte Schiffer von den Polypen erzählen hören, die mit ihren vielen Armen die Taucher umklammerten und das Leben aus ihnen preßten. Es war ihr, als würde sie von solchen Armen gedrückt und gezwängt – aber vorwärts schritt sie.

Was wollte sie? Sie wußte es nicht. Wohin wollte sie? Sie wußte es nicht. Sie wurde getrieben und gezogen den Weg entlang, den die Füße ihr erkämpften, zum Meere hinab, aber fern von der Stelle, wo die Rettungsboote in See gingen und die Fischerfrauen standen und mit ihren Laternen und ihrer Angst warteten. Mehrere Male wurde sie umgeweht. Die Heidekrautreiser schlangen sich um ihre Füße. Der Wind schlug gegen ihre Brust. Durch den Schal stachen die Eisnadeln der Kälte. Ihre Augen brannten, als wäre Feuer darin. Sie spürte ihr Rückgrat wie ein hohles Rohr, worin die Kälte auf und nieder sauste.

Endlich besann sie sich. Sie hatte gar kein Recht, sich so weit von der Station zu entfernen; es konnte jemand mit einer Meldung kommen, die eilig war, wie in der vorigen Woche, als Elias Enesens Kind die Bräune hatte und es darauf ankam, den Doktor vor Tagesanbruch herbeizuschaffen. Ja, sie wollte zurückgehen. Sie wollte. Aber – es war zu spät. Ihre Füße gehorchten nicht mehr. Sie gingen vorwärts. Jetzt wurde der Sand tiefer, die Heide hörte auf. Die struppigen Halme des Sandhaargrases durchschnitten ihre Strümpfe. Sand und Gischt wirbelten ihr in Augen und Mund hinein. Sie war unten am Meere. Sie stand in den angespülten Tangbüscheln, wo jeder Schritt das Gefühl brachte, als träte sie in Eier, die unter ihren Füßen zerdrückt würden.

Sie lauschte. Ja, sie verhörte sich nicht: »Hilfe! Hilfe! …« Es klang so hoffnungslos, als hätte der Rufende nicht mehr den Glauben, daß seine Stimme gehört würde. Marylka setzte die Hand als Sprachrohr an den Mund und schmetterte: »Ja, ja, ich komme!« Und sie wunderte sich über die Kraft ihrer Lungen.

Es war ihr so klar, daß sie hinausmußte zu dem, der da rief. Aber wie sollte sie hingelangen? Wie sollte sie die Stelle finden? Sie konnte ja nicht schwimmen! An dem Jammer, der sie durchzitterte, war nicht die Angst um ihr eignes Leben schuld, sondern die Furcht davor, die Tat, die vor ihr lag, zu vollführen. Da war es, als schlüge ein Blitz in sie ein. Sie entsann sich, wie ihr vor vielen Jahren – sie war noch ein kleines Kind – der alte Telegraphist ein Glas mit Fröschen gezeigt und ihr erzählt hatte, wie schändlich es sei, daß nicht einer unter zehn von den Inselbewohnern schwimmen könne, obwohl es doch so leicht sei. Marylka hatte auf die Frösche gestarrt und gestarrt und gesagt: »Ich kann wohl schwimmen!« Er lachte und antwortete ihr: »So leicht ist das denn doch nicht, aber ich kann dich die Stöße im Lauf von fünf Minuten lehren!« Und er hatte sie über einen Stuhl gelegt und ihr die Bewegungen beigebracht, zuerst die mit den Armen, dann mit den Beinen und dann mit Armen und Beinen.

Seitdem hatte sie es nie wieder versucht. Aber: das Wasser trägt! Diese Worte hatte sie so oft gehört. Nun sollten sie ihre Probe bestehen. Marylka legte sich über ein Tangbüschel nieder. Sie nahm die Hände vor der Brust zusammen und streckte die Arme nach den Seiten aus. So war es gewiß. Sie machte ein paar Schwimmbewegungen. Und dann mit den Beinen. Wieder erscholl der Ruf: »Hilfe!« Und wieder antwortete sie.

Marylka watete hinaus. Sie dachte nicht an die Kälte des Wassers, oder sie fühlte sie nicht, aber die Röcke hinderten sie am Vorwärtskommen. Sie riß sie herunter, im Dunkel vor Scham tief errötend. Ein Menschenleben stand auf dem Spiel.

Jeden Augenblick wurde sie von den heranspülenden Wellen umgerissen, aber sie kannte ihre eigne Kraft – sie sollten nicht Gewalt über sie gewinnen. Jetzt war sie bis an den Leib im Wasser, jetzt bis an die Schultern. Während sie sich vorwärtskämpfte, fuhr sie fort zu rufen, und die Stimme draußen antwortete: »Schnell! Ich kann nicht mehr!« Sie war bis an den Hals im Wasser. Das Wasser trägt! erscholl es in ihr. Sie warf sich den Wellen entgegen, ruderte mit den Armen vorwärts, trat das Wasser mit den Beinen. Der feste Halt unter ihr schwand. Ein Augenblick, und das Meer hätte sie an sich gerissen. Aber in diesem Augenblick bekam sie eine Schulter zu fassen. Beide sanken unters Wasser, aber die blitzschnelle Erkenntnis, daß sie die Verantwortung für zwei Leben hatte, verlieh ihr die Kraft, wieder an die Oberfläche zu kommen.

Keiner von beiden sprach. Marylka schnob heftig und biß die Zähne zusammen. Der Ertrinkende ließ nicht los, sie brauchte ihn nicht festzuhalten. Sie sah ein, es gab nur eine Möglichkeit, das Land zu erreichen: die Wellen tragen lassen dem Lande zu und gegen sie ankämpfen, wenn sie zurückliefen. Kurz darauf hatte sie wieder festen Fuß gefaßt, aber mit jedem Schritt wurde die Bürde schwerer und schwerer. Es war, als zerbrächen die Knochen in ihrem Rücken. Doch pries sie den Schmerz; er verhinderte sie, sich niederzulegen, um auszuruhen.

Strandeinwärts warf sie sich nieder, und mit ihr fiel die Last. Einen Augenblick wünschte sie nur zu schlafen. Sie war so müde, und nun fror es sie nicht mehr. Dann kam sie zur Vernunft und erhob sich: »Können Sie gehen?« Sie beugte sich über die Gestalt, ohne sie sehen zu können. Eine schläfrige Stimme – jetzt hörte sie, daß sie fast wie die eines Kindes klang – antwortete: »Ich glaube nicht, ich habe gewiß das Bein gebrochen!«

Marylka überlegte den Bruchteil einer Sekunde. »Fassen Sie mich um den Hals!« Sie bat nicht, sie befahl. Die Stimme antwortete: »Sie können nicht … Sie sind ja ein Weib …« »Fassen Sie mich um den Hals!« Marylka hatte nie in diesem Ton zu jemandem gesprochen. Sie hörte selber heraus, daß er, an ihren Vater, den Schulmeister, wenn er zornig war, erinnerte. Die Gestalt umfaßte ihren Hals, und sie hob sie in die Höhe. Ein langer, schlanker Körper. Ob Knabe oder Mann, wußte sie nicht. Schwer vom Wasser, schwerer vor Erschöpfung. Marylka trug ihn vorwärts, unter der Bürde taumelnd, voll Furcht zu stolpern oder zu fallen. Nun spürte sie wieder die Kälte. Ihr Blut war wie Eis. Die Gestalt ließ los und sank in ihren Armen zusammen wie ein Tuch. Trug sie eine Leiche?

Marylka schauderte es. Zum erstenmal taumelte sie. Der Tod hatte sie immer mit Schrecken erfüllt. Als ihre Eltern starben, hatte sie nicht den Mut, das Zimmer mit dem entseelten Leib zu teilen. Der Fremde wurde schwerer und schwerer.

Konnte sie ihn nicht niederlegen, zum Konsul hinüberlaufen und die Söhne oder auch nur eine Laterne holen? Aber in ihrer Seele seufzte es, und sie ging weiter, ohne zu wissen, ob sie einen Menschen zum Grabe oder zum Leben trug.

Vor der Türschwelle mußte sie ihn niederlegen, während sie die Klinke drehte. In der Stube brannte die Lampe klar und friedlich, die warme Luft schlug ihr wohltuend entgegen. Aber der Anblick der hellen Stube rief ihr ins Gedächtnis zurück, daß ihre Röcke am Strande lagen, wenn sie nicht draußen auf den Wellen umhertrieben. Bevor sie die Gestalt hineintrug, beeilte sie sich, einen alten Rock umzuwerfen. Dann hob sie den Schiffbrüchigen auf. Er stieß einen Schrei aus: Sie hatte das gebrochne Bein angefaßt. Also lebte er! Gott sei Dank!

Marylka legte ihn aufs Bett. Herr Jesus, er war nicht über fünfzehn Jahre! Er stöhnte unaufhörlich. Marylka dachte an die Kampfertropfen der Mutter und andere starke Dinge. Sie besaß weder Branntwein noch Hoffmannstropfen. Aber sie hatte kochend, heißen Kaffee. Den nahm sie, streute etwas Pfeffer hinein – stark mußte das Getränk sein – und schüttete die Flüssigkeit in den Mund des Knaben. Und nun holte sie hervor, was sie an Wollzeug und Wäsche hatte, und bündelte ihn ein, so daß er einem gefüllten Sacke glich. Es kam darauf an, ihn so schnell wie möglich in Schweiß zu bringen; hernach war Zeit, an das Bein zu denken. Aber er jammerte in einem fort. Marylka war gezwungen, ihn wieder auszuwickeln. »Das Bein! Das Bein!« stöhnte er. Behutsam ließ sie die Hand über das Bein gleiten. Sicherlich war es gebrochen; um das zu merken, dazu brauchte man kein Doktor zu sein. Aber es konnten viele Stunden vergehen, bevor der Doktor in diesem furchtbaren Wetter kam. Guter Rat war teuer. Marylka nahm, was sie bei der Hand hatte, einen alten baumwollenen Regenschirm, legte ihn das Bein entlang und band ihn oben und unten fest. Nun war getan, was getan werden konnte. Abermals bündelte sie den Jungen ein, und zehn Minuten später schlief er.

Marylka setzte sich an die Feuerstelle; es fror und brannte sie zu gleicher Zeit. Die nassen Kleider klebten sich eisig an ihren Körper, und sie war zu müde, sie zu wechseln. Es rauschte und sang ihr vor den Ohren. Sie stand auf, nahm die Lampe in die Hand und ließ den Schein auf das Gesicht des Schlafenden fallen. Welch hohe, offne Stirn! Welch guter, tapfrer Mund! Die Hände waren, selbst im Schlaf, geballt, wie um die Klagerufe zurückzuhalten. Marylka traten die Tränen in die Augen. Sie hatte gewiß zu hart zu ihm gesprochen. Wenn der Knabe eine arme Waise war und ebendeshalb zur See gegangen war, weil es niemand gab, sich seiner anzunehmen … Marylka beugte sich über ihn und küßte ihn leicht auf die Stirn. Er regte sich im Schlafe. Sie war beinah überzeugt davon, daß er elternlos war. Und ein unbesonnener Gedanke durchblitzte ihr Gehirn. Vielleicht fuhr er gar nicht gerne zur See. Wer weiß … Dann konnte er ja hier auf der Insel, bei ihr bleiben als eine Art Pflegekind oder auf weite Fahrt ziehen und zurückkehren und sich einmal hier auf der Insel verheiraten. Wer weiß … vielleicht Telegraphist werden und die Station nach ihr übernehmen … Sie konnte ihre Gedanken nicht mehr bändigen, sie flogen nach allen Richtungen wie Daunen im Winde. Sie taumelte wie ein Betrunkener. Du großer Himmel! Sie hatte vergessen, zum Doktor zu schicken, und wenn der Junge drüben wach war, würden die Schmerzen erst ernstlich anfangen. Mit zitternden Fingern rief sie an. Es war ihre Absicht, dem alten Telegraphisten von dem Fund draußen am Strande zu erzählen, aber sie war zu müde. Es kam nur zu den wenigen Worten, ob der Arzt sofort kommen wolle, es sei ein Unglück geschehen.

Kaum hatte sie den Finger vom Apparat genommen, als es an ihre Tür hämmerte. »Öffnen Sie, öffnen Sie, ein fürchterliches Unglück ist geschehen!« Es war der Konsul, bleich und verwirrt. »Man denke sich, daß das gerade hier geschehen mußte! Daß ich die fürchterliche Botschaft überbringen soll! …« Er ergriff Marylkas Hände: »Er ist tot, ertrunken … hier, keine Meile von der Insel! Das Meer hat seine Leiche genommen! … Ich kann nicht mehr … Den ganzen Weg bin ich gelaufen, als ob ihn das lebendig machen könnte … Aber es muß ja getan werden … Geben Sie mir einen Bleistift … Ein solches Telegramm muß überlegt werden …«

Marylka verstand kein Sterbenswort. Aber als der Konsul lauter und lauter schrie, als wäre er noch draußen im Unwetter und müßte Himmel und Meer übertönen, gab sie ihm ein Zeichen: »Geben Sie acht, er schläft …« »Wer?« »Ein junger Bursch, den ich unten am Strande fand …« Der Konsul sah flüchtig nach dem Bett hin: »Es werden viele antreiben, ehe der Tag graut …« Und er setzte sich und fing an zu schreiben. Marylka sah ihm über die Schulter, und als sie die Überschrift las: »An Seine Majestät den König von …,« rief sie aus: »Gott im Himmel, was ist denn geschehen?« Der Konsul raufte sich das Haar: »Für ein Licht hab' ich Sie nie gehalten, aber gesunde Vernunft müssen Sie doch haben, wenn Sie ein Amt übernehmen, das Verantwortung verlangt. In den letzten zehn Minuten hab' ich nichts anderes getan, als Ihnen das Unglück erzählt, und noch immer verstehen Sie kein Wort: Prinz Georg ist tot, ertrunken, verstehen Sie jetzt?« Er brüllte die Worte hervor, und Marylka, die vor Schreck erstarrt war, begann unwillkürlich das Vaterunser zu beten. Doch nun erzählte der Konsul im Zusammenhange von den jungen Kadetten, die an Land getrieben waren, sich anklammernd an die Ruder und Planken der zerschellten Boote. Alle berichteten das gleiche: daß der Prinz bis zuletzt an Bord blieb, zur Seite des Kommandeurs. Man wollte ihn in das Boot zwingen, aber er war standhaft. Und als endlich alle von Bord gegangen waren, brach das Tau mit dem letzten Boot. Der Prinz sprang, verfehlte aber das Ziel und wurde von irgendeinem Gegenstande getroffen; man hörte einen einzigen Schrei, und er war verschwunden. Das Schiff war mit einem fremden Dampfer zusammengestoßen, der selber so beschädigt worden war, daß er keine andere Hilfe leisten konnte, als Raketen emporzusenden, um Rettungsboote herbeizurufen.

Marylka lauschte wie einem unheimlichen Märchen: »Ja, aber was hatte der Prinz auf dem Meere in diesem bösen Wetter zu tun?« Der Konsul schüttelte abermals zornig den Kopf: »Sie wissen ja auch nichts! Wenn Sie nicht einmal wissen, daß Prinz Georg mit einem Schulschiff auf der Fahrt im Mittelmeer war und sich jetzt auf der Heimreise befand. Es hat in allen Zeitungen gestanden, aber Sie können wohl nicht lesen!«

Ja, es dämmerte Marylka. Der Konsul schrieb und schrie, schrie und schrieb. Drüben vom Bett her erscholl unterdrücktes Jammern. Der Konsul wurde ungeduldig. »So halten Sie doch so lange den Mund!« brüllte er, griff sich an den Kopf und las den Wortlaut des Telegramms vor: »So geht es wohl?« Während Marylka versuchte, ihre Gedanken zu sammeln und die Worte zu zählen, schlenderte der Konsul zum Bett hin, wo der in Decken gehüllte Bursche lag und im hohen Fieber mit den Armen umherfocht. »Haben Sie etwas vom Prinzen gesehen?« fragte er. Der Bursche heftete seinen verirrten Blick auf den Konsul, ohne zu antworten. Die Augen fielen ihm wieder zu. »Der arme Tropf!« sagte der Konsul, »er wird kaum durchkommen. Wer weiß, wieviel Stunden er im Wasser gelegen und geplätschert hat …« Der Konsul ging. Er mußte nach Hause, um einen zusammenhängenden Bericht für die Zeitungen zu verfassen.

Marylka mußte mitten im Telegramm innehalten. Punkte und Striche tanzten vor ihren Augen. Das Zimmer war mit roten Funken angefüllt. Sie sagte zu sich selbst: ›Über ein Weilchen falle ich um, und dann wird das Telegramm nicht abgeschickt, und ich habe meine Pflicht nicht erfüllt.‹ Da entsann sie sich, daß man häufig, um zu sehen, ob einer wirklich tot sei, ihn mit einer Nadel stach. Sie nahm die Nadel aus dem nassen Schal und stach sich damit mehrmals in den Arm. Das half. Jetzt konnte sie ihre Gedanken wieder sammeln; aber da wurde sie von neuem gestört. Vom Bette her jammerte es so erbärmlich: »Ach, bitte, geben Sie mir doch ein wenig Wasser!« Marylka holte Wasser und goß dem Kranken vorsichtig ein klein wenig davon in den Mund: »Tut es so weh?« Er nickte. Marylka strich ihm über die Stirn: »Danke du deinem Gott, daß du hier liegst! Der junge Prinz Georg treibt draußen auf der See, seine Eltern werden ihn erst als Leiche wiedersehen, wenn sie ihn überhaupt jemals wiedersehen werden …«

Der Junge sah Marylka an, als kämpfe er, um den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Dann sagte er: »Der Prinz … der Prinz, das bin ja ich …«

Marylka strich ihm wieder über die fieberhafte Stirn: »Großer Gott, er phantasiert!« Sie setzte sich auf den Rand des Bettes: »Versuche jetzt zu schlafen! Der Doktor wird bald kommen, und dann wird alles gut …« Und sie ging wieder an die Abfertigung des Telegramms. Gegen ihre Gewohnheit wiederholte sie die Worte, gleichsam um ihrer selbst sicher zu sein. Da rief es vom Bette her: »Aber hier bin ich ja … Sie wollen doch meine Eltern nicht um Sinn und Verstand bringen!«

Marylka erhob sich, ein wenig ungeduldig: »Lieg' nun ganz still, mein lieber Junge, ich muß wirklich meine Pflicht tun!« Da kam ihr ein Einfall: »Kannst du mir den Namen und die Adresse deiner Eltern sagen, dann will ich sie wissen lassen, daß du am Leben bist!« Der Junge lächelte schwach: »Ich sehe also nicht aus wie ein Prinz?« »Nein, das tust du allerdings nicht, aber darum kannst du ebenso gut sein. Wie heißt also dein Vater?« »Ich kann wirklich nichts dafür, aber der Kön… ist mein Vater …«

Marylka konnte sich des Lachens nicht enthalten: »Du glaubst wohl, ich bin so dumm, daß man mir alles einreden kann!« Er sah mit einem lustigen Bubenlächeln zu ihr auf: »Es ist wirklich fatal, daß ich Sie nicht dazu bringen kann, mir zu glauben … Was soll ich nur tun?« »Du sollst ganz still liegen und versuchen zu schlafen!« »Wollen Sie mir dann versprechen, das Telegramm nicht abzusenden?« »Das kann ich nicht. Es ist meine Amtspflicht. Wenn ich es nicht absende, laufe ich Gefahr, meine Stellung zu verlieren!«

Der Kranke streckte den Arm vor. Am Handgelenk saß ein Lederriemen mit einer Uhr. »Öffnen Sie die!« Marylka dachte: Wenn ich ihm den Willen tue, bekomme ich am Ende Ruhe. Sie schnallte die Uhr ab, öffnete die Kapsel und hielt sie unter die Lampe.

Marylka barg das Antlitz in ihren Händen. Sie hatte den Namen des Königs und die eingravierte Krone gesehen. Sie hatte die Worte gelesen: »Benutze jede Stunde mit Ehre!« Ihr allererster Gedanke war: Und ich habe keine reine Laken auf das Bett gelegt! Der zweite: Und ich habe ihn auf die Stirn geküßt!

Der Prinz sagte: »Sie sind doch nicht böse, weil ich es bin?« Sie fand keine Worte, um zu antworten. Von ihm hatte sie geglaubt, daß er eine Waise sei! Daß er die Telegraphenstation nach ihr übernehmen könne! Zu ihm hatte sie »du« gesagt und sich geweigert, ihm auf sein Wort zu glauben! Sie trat an das Bett und verneigte sich, so gut sie es vermochte, ganz richtig war es gewiß nicht. »Verzeihen Sie!« sagte sie. Aber der Prinz griff nach ihrer Hand, die immer rot und hart war, die aber jetzt noch obendrein spröde und naßkalt war von dem Salzwasser, und er führte sie an seine Lippen mit einer Ehrerbietung, als sei sie die vornehmste Dame am Hofe: »Sie haben mir das Leben gerettet, und ich habe Ihnen nicht einmal gedankt! Ich muß Sie um Verzeihung bitten!« Marylka lauschte, als höre sie die Engel im Himmel singen. Hatte sie es bis dahin nicht gewußt, so wußte sie es jedenfalls jetzt: Nur ein Prinz konnte so sprechen!

Plötzlich fand sie ihr Gleichgewicht wieder: »Zuallererst muß ich das Telegramm an Ihren … an Seine Majestät absenden!« Sie lief an den Apparat, der in diesem Augenblick ganz heftig zu ticken begann. Der alte Telegraphist glaubte sicher, daß Marylka verrückt geworden sei. Sie besann sich nicht, die Worte tanzten von selbst herab – aber sie vergaß, sie zu zählen.

Eine Stunde später kam der Arzt gefahren. Marylka hatte gerade die Tür geöffnet, als der Apparat wieder rief. Ein Telegramm vom König: »Dem Himmel Lob und Dank, daß Prinz Georg gerettet ist. Erbitte umgehend ausführlichen Bericht …«

»Können Sie mir helfen?« fragte der Doktor. Marylka nickte, und nun folgte eine Zeit, die ihr fast schlimmer erschien als die ganze Wanderung ins Wasser hinaus.

Der Doktor riß und zerrte an dem gebrochenen Bein, so daß ein gellender Schrei nach dem andern hörbar wurde. Marylka mußte die Lampe halten. Endlich lag der Prinz verbunden, das Bein in eine steife Gipsbandage geschient, da: »Nun noch eine kleine Einspritzung, und wir haben Ruhe!«

Das Morphium wirkte schnell. Nach einer kleinen Weile schloß der Prinz die Augen in einem fast seligen Lächeln. »Ich fühle mich so wohl,« murmelte er; und da erst fiel es Marylka ein, daß der Doktor gar nicht wußte, wen er behandelt hatte. Als er es vernahm, setzte er die goldene Brille auf, sah den Prinzen an und schlug sich gegen die Stirn: »Hab' ich je so etwas …« Den Nachsatz hörte sie nicht. Hinaus fuhr er wie ein Sturmwind.


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