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Die Insel liegt weit draußen im Meere, und von allen Seiten sausen die Stürme darüber hin. Ein jeder Windhauch findet sie auf seiner Wanderung; denn sie hat keine Hügel, um Widerstand zu leisten. Die Bevölkerung ist arm, und arm ist auch der Boden. Alte Leute schneiden das Getreide mit derselben Schere, mit der sie den Schafen die Wolle scheren.
Aber es gibt Blumen auf der Insel. Die Heide selbst blüht rot – Jahr um Jahr. Sie blüht so rot, daß man sich irren könnte und glauben, sie sei mit den süßesten, saftigsten Beeren angefüllt. Und dann sind da die Glockenblumen; die schwanken und schweben und bilden sich ein, sie klängen ebenso schön wie die sonntäglichen Kirchenglocken. Endlich sind da die Schmetterlinge. Vielleicht wird manch einer sagen, das seien keine richtigen Blumen, und doch sind sie ebenso bunt und ebenso hübsch, und außerdem genießen sie den Vorteil, daß sie, um auf eigne Faust auszufliegen, nicht zu warten brauchen, bis sie verwelkt sind und vom Stengel fallen, sondern schweben können, wohin sie Lust haben, und wann sie nur wollen. Die kleinen Kinder der Insel spielen ein Spiel, das darin besteht, ganz still zu stehn und zu sehn, wer zuerst einen Falter in seinem blonden Kraushaar fängt – der Falter sitzt dann da und bewegt sich wie eine Blüte, die vom Winde gewiegt wird.
Die Häuser sind mit Heidetorf gedeckt, den man mit dem Messer von der Erde abschälen muß, wie man Kartoffeln schält; aber dort auf der Insel gibt es viele, die die Kartoffeln mit der Schale essen, weil das besser vorhält. Alle Häuser liegen nach Ost und West. Nach Westen reicht das Heidedach fast ganz bis auf die Erde – wer den Mut hätte, das Dach auf die übliche Art über das Haus zu hängen wie einen Sattel, der könnte eines Morgens leicht mit einem kalten Gefühl im Gesicht aufwachen, während der Wind seelenvergnügt heulte und das Dach, nachdem es einen Purzelbaum geschlagen hätte, platsch! auf der Erde läge.
Wer Weideland für eine Kuh hat, hält sich für reich, aber nur der Säugling und die neugebornen Kälber sind in der Lage, süße Milch zu trinken. Die Schafe sind die Haustiere der Insel. Sie finden sich gut zurecht im Heidekraut, wo sie umherrennen und versuchen, sich an die Tüderstricke zu hängen, und sie blöken ihre einförmigen Klagelieder, die vom Meeresgebrause zusammen mit all den anderen Lauten verschlungen werden.
In alten Zeiten, sagt man, war die Insel von dichtem, struppigem Wald bedeckt, und man verschwendete das Brennholz, bis keins mehr da war. Dann kam der Flugsand und begrub die Wurzeln. Und jetzt ist die Insel im Grunde ein einziger großer Kirchhof, der mit Baumleichen angefüllt ist. Aber wenn der Schulmeister davon erzählt, machen die Kinder zweifelnde Gesichter; da wollen sie lieber an Jonas im Walfisch glauben.
Die Leute auf der Insel kennen nur den Schatten der Wolken, ihres eignen Körpers und der Hütte, in der sie wohnen. Die Heidedächer sind für sie das, was an anderen Orten der Welt Theater, Verkaufsläden und Gesellschaften für die Leute sind. Dort oben wächst der gelbe Hauslauch, dort sonnt sich die Katze, und dort schlafen die kleinen Kinder in einem Weidenkorb, den die Mutter an den Schornstein festbindet. Da sitzen die alten gichtkranken Männer und starren mit halbblinden Augen übers Meer, während sie mit ihren knorrigen Fingern Fischnetze flicken. Die Frauen stricken Strümpfe aus eigengesponnener und eigengefärbter Wolle, weiß und grün. Die Strümpfe sehen aus, als wären Strohhalme hineingeflochten. Dort oben verlobt sich das junge Volk. Und erkrankt ein Kind, und hustet es garstig, so daß der Arzt sagt, die Lungen seien schuld, dann hüllt es die Mutter in eine dicke Decke oder in ein Schaffell und trägt es mitten im bösen Winter aufs Dach: die Kälte wird die Ungeheuer schon töten! Der Arzt nennt sie verrückt, aber wenn er ein halbes Jahr später wiederkommt, sind die Lungen gesund, und das Kind läuft vergnügt umher und nagt an einem gedörrten Fisch.
Wie man aufs Dach kommt? O, da steht ja eine Leiter, die die Alten mühsam hinaufstolpern, und die andre leichtgliedrige Leute wie die Katzen erklimmen.
Die Hausdächer haben einen Rücken, so breit wie der Rücken eines tüchtigen Brauerpferdes, und von dort oben sieht man in allen Himmelsrichtungen Wasser, und draußen auf dem Wasser sieht man Schiffe und rollende Wellen. Etwas Höheres als die Dächer gibt es nicht – abgesehen von der Kirche, der Strandbake und ein paar Dünen. Die Bake ist dazu da, daß man hinaufsteigt und schaut, was das Meer zu melden hat …
Marylka heißt sie, die Tochter des Schulmeisters. Marylka. Das ist so ein Name, auf den er im Traume geraten zu sein schien. Im übrigen kann ein jeder hören, daß er klingt wie der Schrei der Meervögel, die am Strande entlanglaufen und ihre Eier bewachen.
Marylkas Vater war also Schulmeister und wußte mit allem Bescheid. Es gab nichts, das er nicht zu erklären verstand; mochte es eine Krankheit, eine Erfindung oder der Name eines Sternes sein – er wußte über alles Bescheid, falls es nicht gerade mit den Buchstaben von Su bis z begann. Das war ja freilich ein Loch in seiner Allwissenheit, und das empfand niemand bittrer als er selber. Über dieses Loch kam er nie hinweg, obwohl seine Frau und Tochter die einzigen waren, die das Loch und den Grund davon kannten.
Als er jung war, hatte er einen ganz unvernünftigen Drang, alles zu wissen; und so klug war er, daß er einsah, Allwissenheit gebe es nur beim lieben Gott und im Konversations-Lexikon. Er knauserte und sparte und wartete fünf Jahre mit dem Heiraten, bis er so weit war, daß er das größte Allwissenheits-Lexikon kaufen konnte, das existierte. Das Werk bestand nicht aus einem Band, sondern aus vielen, und jeder einzelne wog mehrere Pfund.
Er war gründlich und begann mit dem Anfang, der in dem Lexikon nicht die Schöpfung war, sondern der Buchstabe A. Mitten im A heiratete er, und vom Hochzeitstage an benutzte er jede Mußestunde dazu, seinen und seiner Frau Geist zu bilden. Sie schlief oft ein beim A, B und C; es half nichts, daß er sie ausschalt, sie ließ doch das Strickzeug fallen und schlummerte ein.
Der Schulmeister las dann für sich weiter, laut und langsam, wie drüben in der Kirche am Sonntag, wenn er der Gemeinde das Vaterunser vorsprach.
Marylka wurde beim L geboren. Und während seine Frau im Wochenbett lag, las der Schulmeister ihr von Lacedämon und Lucifer vor, von Lykurg und Lysistratos, bis sie Fieber bekam und der Arzt sagte, die Wiege müsse ins Schulzimmer hinübergebracht werden. Da trat er fleißig die Wiegengängel und las Marylka dabei weiter vor. Im Jahre darauf war er bis zum M gekommen, und obwohl Marylka noch nicht sprechen konnte, hatte sie doch vom Mond, von der Mandschurei und dem Moschusochsen gehört.
Sie war gerade fünf Jahre alt, als der Vater beim S war. Eines Tages ging ein Gewitter über die Insel nieder. Das kam nicht oft vor, aber wenn es vorkam, dann war den Leuten zumute, als müßten sie sich nun damit beeilen, sich ein bißchen zu bessern, weil jetzt der liebe Gott im Begriff war, zornig zu werden. Der Schulmeister war zu »wissenschaftlich«, um zu glauben, daß der liebe Gott seinen Zorn just in Elektrizität äußere, und etwas anderes war das Gewitter ja nicht. Trotzdem war ihm nie besonders wohl, wenn das starke Dröhnen oben in der Luft erscholl und ihn, die Schulbänke und den dreibeinigen Ofen erzittern ließ. Darum setzte er sich hinter die Tür in den großen Stuhl, breitete ein rotes Taschentuch übers Gesicht, faltete die Hände und begann nachzusinnen über den seelischen Unterschied zwischen Mormonentum und Islam. Seine Frau hatte die garstige Angewohnheit, beim Gewitter unters Bett zu kriechen.
Marylka lag in dem kleinen Tuchkorb, der das Bett überflüssig machte, und wollte ihren Mittagsschlaf halten. Aber die Blitze waren so belustigend, daß sie danach greifen und versuchen mußte, sie festzuhalten. Sie lachte laut, wenn sie von ihr wegflogen. Dem Schulmeister erschien es nicht angebracht, in ernster Stunde zu lachen, wenn es auch nicht der Zorn Gottes war, sondern die reine Elektrizität, nachdem »im Jahre 1752 von dem Amerikaner Benjamin Franklin festgestellt worden war, daß der Blitz ein elektrischer Funke ist«.
Weiter kam er nicht. Er machte einen Sprung, fiel auf den Stuhl zurück und blieb wie gelähmt sitzen. Es wurde ihm schwarz vor den Augen, und die Nase spürte einen abscheulichen Schwefelgestank. Marylka schrie, und unterm Bett schrie seine Frau: »Jesus Maria, das Haus brennt!« Aber das Haus brannte nicht. So unberechenbar-launenhaft kann sich nur ein Blitz benehmen: durch Dach und Mauer rennen, am Bett entlanglaufen, einen Streifen am Vorhang versengen, fünf Eier in einem Korbe zerdrücken und schließlich den letzten Band des Lexikons verbrennen, den größten irdischen Schatz des Schulmeisters!
Stundenlang und einen Tag nach dem andern saß er da und bastelte mit den rußigen Überresten, während er mit dem Munde meckerte wie ein hungriger Hase. Aber kein Wort kam über seine Lippen. Es gibt Kummer, der die Menschen stumm macht. Hier und da war ein Satz ganz leserlich: berührte man jedoch das Papier, so zerfiel es zu Asche wie die Leichen der alten Römer, die man in Pompeji ausgegraben hat. Eine Woche lang brütete er stumm über den Verlust, und dann hüllte er die letzten irdischen Reste des teuren Bandes in ein Tuch und begrub sie auf dem Grunde der großen Truhe. Aber er hörte nicht auf, seinen Geist durch Lesen in den übrigen Bänden zu bereichern, und er blieb seiner großen Weisheit wegen berühmt. Nur wenn jemand unglückseligerweise nach Dingen fragte, die mit S oder U anfingen, dann sahen Marylka und die Mutter einander an und wagten kaum Atem zu holen, bis es dem Schulmeister gelang, die Frage so zu drehen und zu wenden, daß sie sich unter einem andern Buchstaben beantworten ließ.
Daß Marylka ein Mädchen war, war gleichfalls eine bittere Enttäuschung für ihn. »Frauen«, sagte er, »sind nicht für das Wissenschaftliche veranlagt. Im Altertum waren sie die Sklavinnen ihrer Männer, und dazu eigneten sie sich. Sie plagten und rackerten sich gerne ab, und viel Hirn hatten sie nicht.«
Als Marylka heranwuchs, verrichtete sie alle grobe Arbeit im Hause. Jeden Monat lag sie auf den Knien und scheuerte mit Sand und Aschenlauge die ganze Schmutzschicht ab, die die Kinder ins Schulzimmer hineintrampelten. Im Winter warf sie des Morgens den Schnee zu zwei hohen Mauern beiseite, so daß die Kinder, ohne in den Schneewehen steckenzubleiben, mit ihren kleinen schwankenden und blakenden Handlaternen den Weg zum Schulhause finden konnten. Sie trug Eimer auf Eimer von kochendheißem, geschmolzenem Schnee hinaus, um den bis auf den Grund gefrorenen Brunnen aufzutauen. Und im Sommer lag sie von Tagesgrauen an in der glühenden Sonne und stach Heidetorf, den sie dann auf den Schubkarren lud, heimfuhr und im Schuppen aufstapelte.
Schön war sie nicht. Aber ihre Augen waren wie die allerfeinste Schreibtinte, und sie lachte, wie eine Amsel pfeift. Weich und rank war ihre Haltung. Der Kopf saß hoch auf dem Halse, als strecke sie ihn zur Sonne auf. Er nannte sie »Leuchtturm«, weil ihre Nase rot wurde, wenn sie froh oder traurig oder verlegen war, und der Spitzname blieb an ihr hängen. Vielleicht war die Nase daran schuld, daß die hübschen jungen Burschen nicht um ihre Hand anhielten, aber als ein mürrischer Witwer mit sieben Kindern sie zur Frau haben wollte, sagte sie nein. Der Schulmeister wurde böse. Was dachte sie sich denn? Sollten ihre alten Eltern sie bis in alle Ewigkeit ernähren und kleiden? Marylka schwieg und dachte nach.
Nahe bei der Schule lag die Telegraphenstation, und an manchem Abend, wenn die Eltern eingenickt waren, bevor die Lampe angezündet wurde, lief sie hinüber, um mit dem Telegraphisten zu plaudern. Er war ihr einziger Freund. Er hatte mitgeholfen, Kabel im Stillen Ozean zu legen. Wenn er davon erzählte, sah sie, wie die Kabelschlange sich auf dem Grunde des Weltmeeres hinwand, sich durch Urwälder und über Steppen schlängelte, Städte und Berge umfaßte und Abgründe überspannte. Da verstand sie, warum es in den Telegraphenstangen so rauschte und sang, stärker als in den größten Muscheln, die die Seeleute mit nach Hause brachten. Die bargen ja nur das Rauschen von einem einzigen Fleck in der Tiefe, aber drinnen in dem Pfahl brauste die ganze Welt. Im Kabel sangen Meer und Land. In Entzücken verloren stand sie oft da, die Arme um eine winterkalte Telegraphenstange, und es war, als würde sie selber ein Teil des Rauschens und des Märchens da drinnen. Es hämmerte und pochte in ihr wie das Blut in Millionen Pulsen. Selig lauschte sie, und ihr schien, als würde sie weit in die Ferne getragen, oder als käme die unendliche Ferne ganz nahe zu ihr. Sie stand dann so ganz in Lauschen versunken, daß sie der Kälte nicht achtete, bis diese sie an den Zehen zwickte wie die Krabben am Strande, wenn sie im Sommer hinauswatete, um die Beine in dem seichten Wasser zu kühlen.
Als sie noch ein Kind war, gab ihr der Telegraphist die benutzten Papierstreifen zum Spielen, und sie dichtete lange Erzählungen von der Bedeutung der blauen Striche und Pünktchen. Später lehrte er sie den Finger auf den Apparat setzen, er selbst legte seine Hand über die ihre, und so telegraphierten sie zusammen.
In stummer Andacht folgte sie den weißen Streifen, wenn sie wie schmale Leinenbänder von der Walze glitten, während der Apparat tickte, fein und klar wie eine Uhr, die Eile hat. Und ihr Herz dehnte sich und zog sich zusammen wie eine Harmonika, die einen Laut von sich gibt. Tränen traten ihr in die tintenblauen Augen, und ihre Nase flammte.
War ein Schiff in Not, so brauchte man nur den Finger auf den Knopf zu setzen; in demselben Augenblick war die Nachricht drüben am Festland, und der Rettungsdampfer konnte auslaufen, um Hilfe zu bringen. Der Telegraphist lehrte sie den Apparat eigenhändig bedienen. Bald konnte sie Meldungen geben und empfangen, die Festlandstation begrüßen und nach Neuigkeiten fragen. Der Telegraphist sagte: »Schade, daß du kein Mann bist, sonst hättest du das Amt nach mir übernehmen können!« Und sie seufzten um die Wette.
An ihrem innern Auge vorbei, durch die wilden Wege der Gedanken glitten die weißen Papierstreifen – unaufhörlich wie die Schaumwellen gegen den Strand. Sie hatten ihr etwas zu sagen, auf die eine oder andere Art, obwohl sie nur ein Mädchen war.
Marylka wohnte in der »Stadt«, wie man den Schwarm Häuser nannte, die an dem einen Ende der Insel wie zusammengeweht waren; an dem anderen jedoch lag die Bake, und von dort wurden die meisten Strandungen gemeldet. Das Gerüst erinnerte sie an ein Bild, das sie einmal gesehen hatte, ein Gerippe an einem Galgen. Es war weißgestrichen und ganz durchsichtig. Auf vielen offnen Leitern gelangte man über die drei Plattformen zur Spitze, wo das ellenlange Drehfernrohr in seinem Lager wie eine feine, kleine Messingkanone lag. Bei Sturmwetter schwankte das Gerüst hin und her, beinah wie ein fest verankertes Schiff, und verankert war es an seinen vier Stahltauen. Durch das Fernrohr schaute man weit aufs Meer hinaus. Es erschien Marylka unfaßlich, fast vermessen, zuerst so halbwegs in den Himmel hineinzuklettern und dann das Unsichtbare zu zwingen, sichtbar zu werden. Mit bloßem Auge waren die Feuerschiffe bei Tage nicht zu sehen – im Fernrohr sah man sogar den Wimpel am Mast ganz deutlich.
Der Konsul war der vornehmste Mann in dieser Gegend – wie der Krugwirt der reichste war. Der Krugwirt hatte seine Geldkasse wie einen bissigen Köter an eins der Beine des Kachelofens angebunden, und der Konsul gebot über die Strandbake, war Konsul für drei Länder und trug Uniform. Wurde in Portugal eine Prinzessin geboren, so flaggte er portugiesisch, hielt ein argentinischer Präsident Hochzeit, so illuminierte er, und ereignete sich etwas Trauriges im griechischen Königshause, so flaggte er Halbmast in den griechischen Farben. Wenn er aber Gäste erwartete oder selber Geburtstag hatte, so pflanzte er alle Konsulatsflaggen im Sande vor seiner Wohnung auf.
Der Konsul nannte es einen Skandal, daß man an dem Ende der Insel, wo gerade am meisten Gefahr sei, weder Hafen noch Telegraph habe. Bis er Nachricht zur Stadt sende, könnten die armen Schiffbrüchigen auf den gefährlichen Gründen längst zerschellt sein. Er schrieb lange Artikel darüber für die Zeitungen, und die Sache wurde im Landtag erörtert.
Eines Nachts lag Marylka wach. Sie stand auf, ging zur Tür und sah auf die Heide hinaus, wo im Mondlicht die Sturmwolken dahinjagten. Sie sah, wie sich die weißen Wogenriffe an den Sandbänken draußen im Meere brachen. Fern am Horizont sah sie die roten Sekundenblitze der Feuerschiffe. Wachend träumte sie …
Ein wilder, wirrer Gedanke war in ihr aufgeflammt. Und am nächsten Morgen, bevor der Tag anbrach, stand sie in der Stube des Telegraphisten, außer Atem vor Erregung. Sie wollte sich um die Stellung als Telegraphist an der neuen, noch nicht bewilligten Station bewerben. Sie verschaffte sich gestempeltes Papier, setzte sich hin und schrieb. Der Telegraphist schüttelte den Kopf. Die Feder lief ihr fast davon. Man hätte glauben sollen, daß sie jeden Tag Briefe ans Ministerium schriebe. Sie erzählte, wer sie sei, und daß sie hören könne, was der Apparat melde, ohne auf den Papierstreifen zu sehen. Man brauche kein Geld für das Telegraphengebäude auszugeben, sie habe welches. Und wenn man ihr nur einen jährlichen Lohn von dreihundert Mark zugestehen wolle, so könne sie durchkommen.
Der Telegraphist sah ihr über die Schulter: man merke, daß der Schulmeister ihr Vater sei. Als er aber fragte, woher sie das Gebäude habe, lächelte sie und schwieg.
Der Brief wurde abgeschickt. Und Marylka ging umher, bald brennendheiß, bald fröstelnd. Zwei Wochen dauerte es, dann kam die Antwort. Ein großer, steifer, versiegelter Brief: »Bewilligt!«
Was sonst noch in dem Briefe stand, war gleichgültig gegenüber dieser neuen Tatsache. Man sei einverstanden damit, daß das Stationsgebäude gesichert sei. Das Gehalt wurde auf sechshundert Mark jährlich angesetzt, nur müsse sich Fräulein Marylka Owesen einer kleinen Prüfung in der nächsten Festlandstation unterwerfen.
Der Schulmeister wollte seinen Augen nicht trauen; als er jedoch verstand, daß seine Tochter, das Weibsbild Marylka, Beamter sein sollte wie er, da bekam er auf einmal Respekt vor ihr. »Sie hat es von mir! Sie hat es von ihrem Vater!« wiederholte er. »Aber vergiß nicht, daß Pflichten damit verbunden sind, große Pflichten!« Er las den Brief zum drittenmal. Nun stockte er bei dem Stationsgebäude: »Was ist das für ein Unsinn! Woher hast du das?«
Marylka sah ihrem Vater in die Augen: »Ich habe vierhundert Mark von Mutters Vater. Davon bau' ich das Haus!« Er wollte eben auffahren, als ihm einfiel, daß er ja zu seinesgleichen sprach, und er begnügte sich damit zu sagen: »Du bist ja ganz verrückt! Ein Haus bauen und Boden schaffen – für vierhundert Mark, das kann der tüchtigste Mann auf der ganzen Insel nicht!« »Ich bin ja auch kein Mann!« antwortete Marylka mit ihrem hellsten Lächeln, und – der Schulmeister schwieg.
Marylka fuhr zum Festland. Die Leute dort sahen beinahe so aus wie die Leute auf der Insel, nur mit dem Unterschiede, daß sie leise sprachen und so flink auf den Füßen waren, als hätten sie beständig Angst, der Pfarrer habe seine Predigt schon begonnen, so daß es peinlich war, zu spät zu kommen. Die Häuser waren auf mehrere Arten gebaut, aber das wußte sie ja schon. Hatte sie doch Bilder von Häusern und Schlössern gesehen, ja selbst von dem Turm zu Babel, so daß sie nicht erstaunt darüber war. Aber erstaunt war sie, daß so viele Dächer aus Schiefer waren. Eine solche Verschwendung! Sie berechnete, wieviele Schultafeln aus einem einzigen Dach verfertigt werden könnten. Und sie dachte an die armen Kinder, die mit Kreide auf einem Topfdeckel anstatt auf einer Tafel schrieben.
Ihre Prüfung bestand sie mit Glanz, der Vorsteher hieß sie »im Etat willkommen«, und es wurde Wein auf silbernem Tablett gereicht, was Marylka nur beim Kaiser und in den Märchen für möglich hielt. Die größte Überraschung aber war, daß sie einen richtigen Wald sah und unter großen Bäumen spazierte, die sich über ihrem Kopfe bewegten.
Als sie zurückkam, erfuhr sie, daß das Geld ihres Onkels in der Bank gestanden und sich vermehrt hatte, genau wie ein Dorsch, aus dessen rotem Rogen zahllose Dorschkinder kamen. Die vierhundert Mark hatten sich verdoppelt. Marylka nahm nur den Anteil, der ihr nach ihrer Ansicht zukam, und gab den Rest dem Schulmeister – für ein neues Lexikon!
Jahr für Jahr seit dem Unglückstage hatte er die Anzeigen in den Zeitungen verfolgt; während aber viele vorhanden waren, die zu einem Spottpreise die ersten Bände des Lexikons verkaufen wollten, hatte bisher kein einziger zufällig einen der letzten Bände übrig gehabt. Gerührt nahm er Marylkas Geschenk entgegen und übergab ihr zur Entschädigung das alte Lexikon als erstes Mobiliar für die neue Amtswohnung.
Marylka verschlief die Zeit nicht. Auf ihren starken, fliegenden Beinen, die gleich gut durch Sand und Heide wateten, trabte sie täglich die anderthalb Meilen zurück zwischen der Schule und dem anderen Ende der Insel. Daß die Station an der Landstraße liegen sollte, verstand sich von selbst, aber es kam darauf an, einen Mann zu finden, der wohlfeil Land verkaufte. Sie fand ihn und erstand für einen Spottpreis eine Tonne Heideland. Der Handel galt für Zeit und Ewigkeit, und das Grundstück gehörte nun Marylka, ganz hinab bis zu der Stelle, wo die Eingeweide der Erde brennen, und hinauf bis zu den treibenden Wolken. Am gleichen Tage begann sie einen Gürtel von Ellenbreite als Grenze rund um den Besitz zu schälen.
Nun kam die Reihe an Latten und Hölzer, um das Haus zu errichten. Holz war teuer, und man behalf sich mit so wenig wie möglich – begnügte sich besonders mit Planken und Brettern von aufgelaufenen Fischerbooten und den Hölzern, die von gestrandeten Schiffen ans Land trieben; aber die waren oft schief und krumm. Da fiel es Marylka ein, daß draußen am Strande noch die schweren Eichenbalken von der finnischen Barke lagen, die strandete, als sie ein Kind war. Die Inselleute hatten gerettet, was ganz bis ans Land trieb, aber die Balken, die weit draußen im Sande feststaken, ließen sie liegen. Nun wollte Marylka mit den Leuten handelseinig werden, sie loszureißen; aber alle schüttelten den Kopf. Eines schönen Tages schürzte sie dann ihre Kleider um den Leib auf, ging selber an den Strand und begann, an einem der Balken zu rütteln. Ihre Geduld war ohne Ende, und nach stundenlanger mürrischer Halsstarrigkeit gab der Balken nach. Darauf band sie das eine Ende eines starken Taues um den Balken, das andere um den Leib, und so zog sie ihre Beute aufs Land. Die jungen Burschen schämten sich gründlich und halfen ihr von nun an willig.
Einige von den Balken waren gerade, andere krümmten sich wie ein Katzenbuckel. Marylka lachte, die krummen waren gut, das Dach zu tragen.
Bevor man sich's versah, half die ganze Inselbevölkerung beim Bau von Marylkas Hütte. Wie das lustigste Spiel ging es vor sich. Junge und Alte wetteiferten. Ein so tüchtiges Mädchen hatte man hierzulande nie gesehn. Bald grub sie Löcher, die Balken einzurammen, bald nahm sie Maß zu Fenster und Tür, bald füllte sie die Wände mit Heidetorf, den sie selbst geschnitten hatte. Sie sang bei ihrer Arbeit. Als sie Torf genug hatte für die Wände und das Dach, schnitt sie für Winterfeuerung.
Aber als sie die Heide von ihrem Stück Land abschälte, schüttelten die Leute den Kopf: »Weiß sie nicht, daß jetzt weder der Herrgott noch der Kaiser den Sand halten kann!« »Aber ich kann's!« sagte Marylka, und dann stopfte sie Kartoffeln in den Sand hinein.
Die Kartoffeln wuchsen, und das Haus wuchs. Einer schenkte ihr eine grüngestrichne Tür, die einmal in eine Kajüte gehört hatte; niedrig und breit war sie; ein anderer gab ihr zwei Bullaugen mit veilchenblauem Rand darum, die waren von einem holländischen Obstkahn. Und dann stand das Haus fertig mit gemauerter Feuerstelle, einer Klinke an der Tür und einer breiten Feldsteinfliese vorm Eingang.
Eines Tages kam drüben vom Festland eine ganze Sendung Weidenzweige und Tannen, so klein, daß sie in Bierflaschen gesteckt werden konnten. Da hieß es: »Marylka ist vom Teufel der Großmannssucht besessen! Sie glaubt, es könnten Bäume wachsen, wo kein Wasser ist!« »Kein Wasser!« sagte Marylka. »Das werden wir bald sehen!« Und nun ließ sie einen Brunnen graben. Es wurde tief gegraben und immer tiefer und tiefer. Jeder Meter kostete blankes Silber, obwohl die Erde ja bis hinab zu den brennenden Eingeweiden Marylkas Eigentum war. Die Schulkinder standen ringsum. Dauerte es noch lange, so kam man gewiß bald nach China, meinten sie. Aber schließlich sprudelte und sprang das eiskalte Wasser hervor.
Die Kartoffeln blühten, und Marylka zog ein. Der Sommer war heiß und trocken. In den sternschönen Augustnächten stand sie am Brunnen und wand den Eimer vierzig Ellen hinab und hißte ihn vierzig Ellen herauf und trug den gefüllten Eimer hinters Haus und goß das Wasser in die Löcher, wo Tanne und Weide gepflanzt waren. Die glucksten förmlich vor Vergnügen, wie die Kinder, wenn sie am Strande wateten.
Zur Oktoberzeit wurde der letzte Telegraphenpfahl eingerammt. Aufrecht stand die Landstraße entlang die ganze Reihe der funkelnagelneuen Pfähle, als wären sie einzig und allein gepflanzt, um den Leuten den Weg zu Marylkas Hütte zu zeigen. Die Drähte waren ausgespannt und die Glocken aufgesetzt. Von dem letzten Pfahl ging der Draht in die Erde hinab unter die Schwelle und hinein in die Hütte zu dem rotgestrichnen Tisch, wo der leuchtende Apparat stand und wartete.
Die fahrende Post brachte einen ganzen Möbelwagen vom Schulmeister. Da waren Betten und eine Bettstelle, irdene Schüsseln und Kupfertöpfe, Truhe und Pökelschüssel, Mehl und Zucker, Tinte und Bibel, – sowie die elf Lexikonbände mit der Weisheit der ganzen Welt.
Als der Telegraphenapparat zum erstenmal zu ticken begann, erbebte Marylka am ganzen Körper. Es war nur ein Willkommgruß des alten Telegraphisten, und doch – Marylka kniete nieder und betete. Sie getraute sich beinahe nicht, den Finger auf den Apparat zu setzen: Wenn sie nun das Alphabet vergessen hatte!