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Der Eisenbahnzug ratterte dahin durch das flache Land. Man sah noch die Spuren von den Überschwemmungen des Winters. Hier und da stand das Wasser noch so hoch, daß man die Landstraßen nur an den beiden Baumreihen erkannte, die die blanke Fläche durchbrachen.
Einen Augenblick hatte die Gesellschaft die Möglichkeit erörtert, durch künstliche Dränage solche Überschwemmungen zu verhindern, aber bald kam man auf das frühere Thema zurück: das eigne Privatleben und das der andern.
Widrin hatte gerade vierundzwanzig Stunden in der Gesellschaft dieser Männer zugebracht, und er wußte bereits mehr über sie, als einer seiner Freunde über ihn wußte. Wie immer war er erstaunt über den grenzenlosen Mangel an Takt, womit der Europäer von seinen Mitmenschen sprach. Mit keinem Namen hielt man hinterm Berge, keine Einzelheit überging man. Es war, als könne weder Mann noch Weib ein Geheimnis bewahren, als wäre es ihnen ein Lebensbedürfnis, andre an ihrem geheimsten Wissen teilnehmen zu lassen. Es war ihm, als wäre das Heim nicht durch die vier Wände geschützt, als hätte es vielmehr Gucklöcher, durch die Unbefugte die intimsten Handlungen beobachteten und den intimsten Gesprächen lauschten.
Schon während seiner Studienjahre in Paris und Berlin hatte ihn die zudringliche Vertraulichkeit verletzt, deren Gegenstand er war. Die Freunde rissen, bildlich gesprochen, den letzten Fetzen vom Leibe, um mit einer Nacktheit zu prahlen, deren Unschönheit sie selbst nicht ahnten. In diesem Punkte stand Amerika himmelhoch über dem wegen seiner Kultur so laut gepriesenen Europa.
Widrin rauchte eine Zigarette nach der andern. Er verachtete sich selbst, weil er nicht Herr über dieses Laster werden konnte, das er vom Vater ererbt hatte. Wenn er streng arbeitete, konnten Monate vergehen, ohne daß er zur Zigarette griff, sobald jedoch die Nerven in Aufruhr waren, mußte er fortwährend rauchen. Nur das Stimulans des Tabaks hatte ihn instandgesetzt, die Unterhaltung dieser Männer Stunde für Stunde zu ertragen, ohne seinen höflich-wohlwollenden Ausdruck zu verlieren.
»Sie ist im Zuge!« sagte der Belgier auf einmal, als beantworte er eine an ihn gerichtete Bemerkung. »Wer? Welche ›sie‹?« fuhr der Doktor behend auf, in der Hoffnung auf eine neue Geschichte. »Gunhild von Payn natürlich, wer denn sonst?«
Der Doktor putzte seine goldne Brille: »Herrgott, Mann, sind Sie noch nicht weiter! Ich sage Ihnen, sie ist nicht hier. Ich bin ja in jedem einzelnen Kupee gewesen!« »Gleichviel, sie ist hier. Ich bin doch weder blind noch taub. Ich habe sie mit diesen meinen Augen gesehen – und ich frage, kann man Gunhild von Payn und andre Frauen miteinander verwechseln? Na also!«
Der Doktor streckte seine kleine fette Hand aus: »Es gilt eine Flasche Sekt. Der Gewinner bestimmt die Marke. Wir gehen zusammen durch den Zug von einem Ende bis zum andern. Einverstanden?« Der Belgier schlug ein. Lachend sprangen sie auf: »Finden wir sie, so stellen wir uns selber vor. Wer weiß, vielleicht hilft Madame uns dann den Champagner trinken!«
Widrin und der junge Ulanenoffizier blieben allein zurück. »Ich habe Frau von Payn nur einmal gesehen,« begann dieser. »Sie spielte die Kameliendame – ohne zu husten – bloß so mit der Hand zum Herzen hinauf. Nie hat mich jemand so hingerissen. Meine Mutter, die von der alten Schule ist, sagte immer zu uns Jungen, als wir etwa achtzehn, zwanzig Jahre waren: ›Ich nehme euch kein Versprechen ab, aber ich habe einen Wunsch: Seid gegen alle Frauen, wie ihr wünscht, daß andre Männer gegen eure Schwester sein sollen!‹ Als ich Gunhild von Payn sah, begriff ich, daß eine tiefe Wahrheit in diesen Worten steckte. Haben Sie sie spielen sehen?«
»Leider nicht,« erwiderte Widrin, »und jetzt ist es ja zu spät. Wie ich höre, spielt sie seit dem Tode ihres Mannes nicht mehr!« »Ja, das ist das Unbegreifliche. Eine wirkliche Schauspielerin kann nach meiner Ansicht ebensowenig aufhören, Komödie zu spielen, wie man sich vorstellen kann, daß eine Nonne plötzlich als Löwenbändigerin auftritt. Übrigens ist sie ja krank – auf offner Bühne ist sie ohnmächtig geworden. Kennen Sie die Geschichte nicht?«
Widrin schüttelte den Kopf. Es schwebte ihm dunkel vor, einmal etwas gehört zu haben … etwas, das ihn irgendwie an die » short stories« erinnerte, die ihm so nottaten, um das Essen hinabgleiten zu lassen.
»Ja, Frau von Payn war also mit einem Gutsbesitzer irgendwoher aus Ostpreußen verheiratet. Man sagt, er sei ziemlich verarmt gewesen. Jedenfalls hatte er Verwendung für all das Geld, das sie herbeischaffte, indem sie sich auf ihren Tourneen abjagte. In ihn verliebt war sie wohl auch, da man ihren Namen nie in Verbindung mit andern hörte … Na, sie kommt von Hamburg, glaube ich, um in Berlin zu spielen. Alles ausverkauft, wochenlang vorher. Vom Bahnhof fährt sie zum Theater. Große Plakate sind angeschlagen. Die Vorstellung ist abgesagt – wegen des tragischen Todes der Diva! … Sie sieht die Plakate nicht und geht geradeswegs zum Direktor hinein. Der fällt beinahe in Ohnmacht. Er bringt kein Wort hervor, reicht ihr bloß ein Bündel Telegramme. Da steht es schwarz auf weiß, daß Egmont von Payn und Frau in einem kleinen Hotel in der Nähe von Königsberg verbrannt sind. Sie liest ein Telegramm nach dem andern, wird nicht einmal weiß im Gesicht, ihre Hand zittert nicht, sondern sie sagt ganz ruhig: ›Sie sehen wohl ein, Direktor, daß ein Irrtum vorliegen muß. Ich bin hier, und ich spiele!‹ Er mochte sagen, was er wollte, sie setzt ihren Willen durch und spielt. Während die Zeitungen mit ihrem Nekrolog ausgerufen werden, spielt sie die Rebekka West. Am nächsten Abend spielt sie wieder, wird aber auf der Bühne ohnmächtig. Im Theater kannte ja jeder Mensch den Skandal. Der Mann hatte einfach die Frechheit gehabt, eine andre Dame als seine Frau einzuschreiben. Sie reist nach Hause zur Beerdigung und empfängt Beileidsbesuche, als wäre alles in schönster Ordnung. Die Tourneen werden abgesagt, ›auf Grund eines Todesfalls in der nächsten Familie‹. Ganz tüchtig, was?«
»Jedenfalls eigentümlich!« Widrin hatte sich so weit wie möglich gestreckt. Wozu sollte er sich auch in weitläufige Erklärungen mit diesem jungen Manne einlassen, dem doch jede Vorbedingung fehlte, ihn zu verstehen! Die Geschichte machte einen eigentümlichen Eindruck auf ihn, nicht weil er etwas andres von einer Schauspielerin erwartete, sondern weil er als Kind einmal eine Sage gehört hatte von einer Frau, die Gunhild hieß, und seitdem die Vorstellung von etwas Schönem und Edlem mit diesem Namen verband. Nun zerplatzte die kleine Seifenblase. Daß eine Schauspielerin – eine Gauklerin – sich der armseligen Reklame bediente, die im Skandal lag, dagegen ließ sich nichts sagen. Auch nichts dagegen, daß sie auf der Bühne stand und die Leute nach ihrer blutigen Herzenswunde tasten ließ. Aber er faßte es nicht, daß sie nach Hause fuhr und als trauernde Witwe eines Mannes auftrat, der sie auf so empörend rohe Art betrogen hatte. Natürlich begann sie wieder zu spielen. Der Nimbus des Skandals würde nur um so stärker strahlen, wenn das Publikum sie eine Zeitlang vermißt hatte.
Er fand einen Vorwand, sich zu entfernen, und ging durch den heftig schlingernden Zug zum Speisewagen. Die Bewegung des Zuges machte ihn fast seekrank, aber ein plötzliches Hungergefühl in Verbindung mit Widerwillen gegen die Gesellschaft, die er eben verlassen hatte, zwang ihn dazu, weiterzugehen. In Gedanken verhöhnte er seine zerrütteten Nerven. Er, der Strapazen ertragen hatte, denen die meisten erlegen sein würden, vertrug jetzt eine zweitägige Eisenbahnfahrt nicht mehr, und was hatte er noch vor sich!
Der Lärm von Tellern und Schüsseln, die von den Kellnern auf die Tische geworfen wurden, der gellende Laut von Messern, Gabeln und Gläsern und der Geruch von angeschmortem Fleisch, von Kohl und Obst ekelten ihn sehr. Aber er war hungrig, und er aß.
Während er seinen Hunger stillte, schaute er über die sommerüppige, so schöne, friedliche deutsche Landschaft, die jetzt gegen Sonnenuntergang von goldnen und purpurnen Lichtnebeln übergossen war. Er entsann sich eines Abends an den Pyramiden. Die ungeheuren Bauwerke hatten ihn kalt gelassen. Er brauchte Zeit, den Eindruck zu sammeln und zu verarbeiten. Zunächst erfaßte er nur, was er von vornherein über Konstruktion und Proportionen wußte, und er empfand vor allem müdes Mitleid mit den Legionen Sklaven, die die Steine auf meilenweiten, sandtiefen Wegen herangeschleppt hatten, während die Sonne ihre nackten, von Peitschen gestreiften Körper verbrannte. Mit einem Unwillen, der, wie er zugab, unberechtigt war, beobachtete er die Touristen, die sich bis zur Spitze hinaufziehen ließen, wie es auch mit den Steinen geschehen war, die in das Werk eingefügt werden sollten. Die Sphinx erschien ihm wie ein Märtyrer ohne Stolz, ein armseliges, angekettetes und erblindetes Ungeheuer, das sich ruhig necken und betasten ließ von dem neugierigen Haufen, der jetzt die Übermacht hatte.
Da merkte er, inmitten der gefühllosen Langeweile und Schlaffheit, eine Veränderung in der Atmosphäre, verspürte sie mit allen Sinnen. Es war, als ob der gelbrote Sand lebendig und fließend würde, als ob etwas, das weder ganz Blendwerk noch ganz Wirklichkeit war, der Erde entstieg und mit etwas Ähnlichem zusammentraf, das vom Himmel herabsank. Es hatte Farben, die sich nicht bestimmen ließen, aber die Gedanken auf Veilchen, Aurikeln und welkende Rosen lenkten. Er rieb sich die Augen, es fuhr fort zu steigen, fuhr fort zu sinken, fuhr fort zusammenzuströmen. Unwillkürlich hatte er seinen Freund Catalani am Arm ergriffen, und Catalani, dem es gegeben war, stets mitzuschwingen in den Stimmungen der anderen, genoß mit ihm den wunderbaren Naturanblick, ohne seinen Zauber mit Worten zu brechen. Es schien Widrin, als läge in diesem steigenden und sinkenden, sammetweichen, sammetblauen Dunkel etwas wie die Ahnung von Musik, und er hatte so gespannt gelauscht, daß schließlich das Rauschen der Stille und das zitternde Branden der fernen Wüstenwinde wirkten wie das Läuten von tausend gestimmten Glocken. Erst als die Kälte ihn durchschnitt, hatte er den Arm des Freundes losgelassen und mit Erstaunen bemerkt, daß sie im Dunkel standen wie auf dem Grunde eines tiefen Brunnens. Bald darauf funkelten die Sterne über ihren Köpfen.
Auf dem Heimweg hatte Catalani sich für sein langes Schweigen entschädigt und ihn von dem russischen Mädchen unterhalten, von Vera Stronski, die augenblicklich seine Seele erfüllte. Seine leicht entzündliche Phantasie gaukelte ihm die Möglichkeit vor, ihretwegen seine künstlerischen Studien abzuschließen, mit ihr nach der Schweiz zu übersiedeln und dort ein Leben in Einfachheit und Genügsamkeit zu verbringen zwischen den verbannten Nihilisten. Catalani sprach sich warm. Nach jedem neuen Weibe, das von seinem Herzen Besitz ergriff, wechselte er alles, vom Wesen bis zum Willen und bis zu seinen Zukunftsplänen.
Als sie ins Hotel kamen, lag ein Telegramm da, daß Anita, das Mädchen, das Catalani trotz des Widerstandes seiner Familie während des letzten Jahres bei sich gehabt hatte, bis er die Russin traf, in den Tiber gesprungen sei mit ihrem neugebornen Kinde, das sie an sich festgebunden hatte.
Vergessen war Vera Stronski. Catalani wollte sterben. Er hämmerte mit der Stirn gegen die Wände, daß es dröhnte, und versuchte, aus dem Fenster zu springen. Schließlich ergriff er ein Messer und hieb auf seine Pulsader ein. Widrin hatte ihn mit Gewalt verbunden und einen Arzt gerufen. Um Mitternacht lag er im Halbschlummer, durch Morphium beruhigt. Jetzt liebte er Anita. Sie war »die Einzige« geworden, »die Ewige«. Widrin saß bei ihm und hörte ein wenig teilnahmlos von dieser wiederauferstandenen Liebe.
Catalani war und blieb Augenblicksmensch, überempfindlich, leichtsinnig, konfus, weder gut noch böse, aber in Widrins Augen unverantwortlich. Er war der einzige seiner Freunde, mit dem Widrin Nachsicht hatte, ohne zu verurteilen. Und natürlich, im Jahr darauf zeigte ein wilder Brief seine Verlobung mit dem Baltimoremädchen an, dessen Haar »so hell war wie das Lächeln der heiligen Jungfrau« – und das er wohl durch sein vortreffliches Pferdepolo gewonnen hatte.
Wo war Catalani jetzt? Welche Torheiten hatte er in diesen Jahren wohl begangen?
Andreas Widrin lächelte. Welcher Friede, welcher Liebreiz lag über der Landschaft! Nie kam er frei von dieser weibischen Sentimentalität – denn daß sie weibisch war, wußte er aus manchen Geständnissen von Frauen – sobald ihn eine Landschaft fesselte, befiel ihn eine Art Zwangsvorstellung: er sah sich dort wandern mit »ihr«, der Nicht-Existierenden, dem idealen Weibe, das nur in seiner eignen Einbildung lebte. Besonders wirkte der Anblick von Wäldern auf ihn. Er stellte sich vor, wie er und »sie« ohne Ziel unter den laubschweren Kronen der hellen und dunklen Bäume dahingingen, wie er Moos sammelte und ausbreitete, wenn sie müde wurde, wie er die Zweige beiseite hob, damit sie nicht ihr Haar festhielten. Und sie vertraute ihm und er ihr alles an, was sie durchlebt und durchlitten hatten, bis sie einander gefunden. Er hatte sich kein Bild von »ihr« gemacht. Er wußte bloß, daß er nie jemandem begegnet war, der ihr glich. Er dachte es sich nicht als Lebensnotwendigkeit, sie zu treffen. Es war nur ein guter Traum, der in Zwischenräumen zu ihm kam.
Die Sonne war so tief gesunken, daß hier und da die Lichter angezündet wurden, bald in einzelliegenden Häusern, bald in den Straßenreihen kleiner Städte.
Der Kellner huschte um Widrins Tisch herum, er war der letzte im Speisewagen. Er zahlte und stand auf, konnte sich aber nicht dazu bequemen, zurückzukehren und das Resultat der Wette zu erfahren. Denn dann würde es schwierig sein, sich dem Trinkgelage zu entziehen. Noch kurze Zeit war er Herr in der Wahl seiner Gesellschaft. Bald würde das anders sein.
Wie er den Gedanken an die Zukunft, an kommende Monate und Jahre verabscheute! Nicht die Arbeit selbst. Jede Arbeit trug ihren Lohn in sich, und hier konnte er Verwendung finden für alle seine Fähigkeiten, für seinen ganzen Scharfsinn. Obwohl die Pläne fertig und gebilligt waren, bevor er hinzukam, konnte er alle Änderungen vornehmen, die er für gut hielt. Man hatte wohl gerade ihn dazu ausgewählt, nach Sartonis Tod die Leitung zu übernehmen, weil man wußte, daß er selbständig arbeitete und die volle Verantwortung tragen konnte. Nein, die Arbeit ängstigte ihn nicht. Die Gegend, das Klima und in erster Linie die Menschen flößten ihm Schauder ein. Freilich stand es in seiner Macht, einen Teil seiner Leute auszuwählen – wie der Kapitän, der die Mannschaft für sein Schiff aussucht. Aber was bedeutete das? Vermochte er auch die klarsten Hirne und die gesündesten Körper auszuwählen – bevor die Hälfte der Zeit herum war, würde doch jeder einzelne dem verderblichen Klima und der Absonderung erliegen und von jener krankhaften Anwandlung betroffen worden sein, die in solchen Gegenden vom Dasein selbst ausging.
Und er, der geschworen hatte, sein Leben auf Idealen aufzubauen, mochte auch die Menschheit zum größten Teil aus verworfnen Männern und verderbten Frauen bestehen – er war jetzt gezwungen, Jahre, vielleicht die letzten, unter tropenkranken, tropentollen Männern und Frauen der niedrigsten Art zu verbringen. Und warum? Des Gewinnes wegen! Er, der im Gelde nur eine zweischneidige, vergiftete Waffe sah, womit die Menschen einander in den Rücken fielen, er hatte sich jetzt dem Meistbietenden verkaufen, hatte wie ein richtiger Streber dem Golde nachjagen müssen!
Der Zorn gegen Cecil quoll in ihm auf, handgreiflich heftig. Er ballte die Fäuste und biß die Zähne zusammen. Die Trauer über den Tod der Mutter wurde beschattet von finsterm Haß gegen den Bruder, der sich feig aller Verantwortung entzogen hatte. Nie würde er ihm Aug' in Auge die Worte sagen, die ihm in der Seele brannten: Dieb! Muttermörder!
Was hatte er als Kind nicht alles Cecils wegen gelitten! Cecil war der Abgott der Eltern. Blind glaubten sie jede seiner seidensanften Lügen, und er, Andreas, bestärkte sie im Glauben, als er sah, daß dieser ihnen Glück brachte.
Er erinnerte sich des Vaters: groß, schwer, vornübergebeugt, von der Kälte und den Entbehrungen in den sibirischen Einöden gezeichnet, gezeichnet von den Jahren in dem unterirdischen Gefängnis von Schlüsselburg. Der Blick des Vaters wurde milde, wenn er Cecil streifte, das lichte Abbild der in Schottland geborenen Mutter. Cecil war in Amerika geboren, Andreas in Rußland, und der Vater hatte ihn nie naturalisieren lassen. Aus Ehrerbietigkeit vor dem Wunsch des Vaters hatte er nichts daran geändert.
Aber er begriff nicht, wie ein Mann seine ganze Jugend und seine besten Mannesjahre für eine Sache opfern und sie dann fallen lassen konnte. Für ihn war es unverzeihliche Feigheit oder Schwäche, was Alexis Widrin von allem Verkehr mit seinen Landsleuten in Amerika abhielt. Und doch wußte Andreas, daß der Vater im Herzen den Träumen und Idealen der Jugend nicht untreu wurde.
In den Kinderjahren hatte er so manche Nacht mit dem Vater durchwacht, ohne daß dieser davon wußte. Mit seinem ungeheuer feinfühligen Ohr hatte er nicht nur die rastlosen Wanderungen des Vaters durchs Zimmer auf und ab verfolgt, er hatte auch das Kritzeln der Feder übers Papier gehört, wenn er sich spät nach Mitternacht an den Schreibtisch setzte, um seinen Gedanken in Worten Luft zu machen, die hätten bestehen bleiben sollen, aber bei Tagesgrauen als Aschenhäuflein vorm Kamin lagen.
Erst als der Vater in den Fieberphantasien des Todes sich wieder nach Sibirien versetzt glaubte und klagend immerfort den Namen der Mutter rief, da erst offenbarte sich ganz, welche Leiden er ausgestanden hatte, und daß von diesen allen die Sehnsucht nach der Gattin am stärksten war, der er verboten hatte, sein Exil mit ihm zu teilen.
Cecil war der Lichtpunkt in dem Amerika-Dasein des Vaters. Kam Cecil und bat um Hilfe bei einer Schularbeit oder brachte er ein Spielzeug, das repariert werden sollte, dann strahlten die gequälten, glanzlosen Augen des Vaters, und jugendlicher Eifer kam in seine Bewegungen.
Daß Andreas begabt war, konnte nicht verborgen bleiben. Aber jede Auszeichnung, die ihm zuteil wurde, warf einen Schatten auf das Heim, weil sie nicht Cecil galt. Cecil war der Jüngste, doch er war von beiden Eltern dazu ausersehen, den Namen ans Licht zu tragen und neuen Glanz auf die Familien Archambault und Widrin zu werfen. Andreas lachte laut und gellend bei dem Gedanken.
Cecil war in die Diplomatie eingetreten. Sein geschmeidiges Wesen schien ihn geeignet dazu zu machen, Anmut lag über seiner Person, und er verstand es, mit Menschen umzugehen.
Nach des Vaters Tode wurde auf Andreas' Wunsch nicht zwischen den Kindern geteilt. Er wollte der Mutter die Demütigung ersparen, ihn um die Erlaubnis bitten zu müssen, daß auch Cecil von seinem Gelde brauchen dürfe. Es leuchtete ihm ein, daß Cecil für mehr als den armseligen Gehalt Verwendung hatte, den der Staat den jungen Leuten im Departement zubilligte. Und Andreas wußte auch, daß die Karriere zum großen Teil von den privaten Mitteln abhing, über die man verfügte, und er hatte einigermaßen damit gerechnet, daß der Bruder den größten Teil seines Erbteils gebrauchen würde. Aber es war ihm gleichgültig. Geld bedeutete nichts für ihn – außerdem konnte er durch seine Arbeit erwerben, was er brauchte, und noch mehr.
Darum verlangte und erhielt er keinen Rechenschaftsbericht über das Geld. Hin und wieder erzählte die Mutter in Briefen, daß das Kapital gut verwaltet werde, aber daß Cecil ja viel Geld brauche.
Es gab nur einen Fall, der Andreas an die Möglichkeit, Geld zu verschwenden, denken ließ: wenn »sie«, das Wesen, das auf dem Grunde seiner Träume lebte – wie jene feuerfarbigen Fische in den Tiefen des Stillen Ozeans, die bersten und sterben, sobald man versucht, sie an die Oberfläche zu bringen –, wenn sie eines Tages emporsteigen und Fleisch und Blut werden würde. Obwohl sein Idealweib keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem andern Wesen hatte, stellte er sich doch vor, daß ihr die Vorliebe des Weibes für schöne Gegenstände angeboren sei. So hatte er einmal eine hübsche Perle mit rosa Schimmer erworben und mehrere Jahre für »sie« verwahrt. Einmal zeigte er sie der Mutter, und da diese sie ungewöhnlich schön fand, gab er sie ihr für einen Ring, den sie immer zu tragen versprach. Als er Cecil das nächstemal sah, saß die Perle in seiner Schlipsnadel.
Cecil bekam den Posten als Zweiter Sekretär in Buenos Aires, und die Mutter schrieb: »Ich bin genötigt zu sparen. Cecil erhält alles, was ich entbehren kann …« Sechs Monate darauf bekam er ein Telegramm: »Komme sofort, es handelt sich um Cecils Zukunft.« Er reiste Tag und Nacht und fand die Mutter krank und vergrämt. Cecil hatte ihre und Andreas' Namensunterschrift gefälscht und das Kapital bis auf wenige tausend Mark durchgebracht. Gerade so viel war gerettet, daß die Mutter in dem kleinen Besitztum bei Lake George, das ihnen seit vielen Jahren als Sommerwohnung gedient hatte, wohnen bleiben konnte. Andreas' Zorn gegen den Bruder wurde nicht zu Groll. Er hatte zum erstenmal das Gefühl, wirklich einen Platz im Herzen der Mutter zu haben. Sie bat ihn, nach Buenos Aires zu reisen und alles zu ordnen, so daß Cecil im Dienst bleiben konnte, ohne daß ein Schatten auf seinen Namen fiel.
Er reiste, und er ordnete alles. Er erkannte alle Unterschriften an und enthielt sich jedes Moralisierens. Doch in seinem Innern erklang es laut und deutlich: Das ist der Anfang vom Ende.
Neun Monate später fiel der Schlag. Die Mutter klammerte sich an ihn: »Versprich mir, Andreas, daß du alles auf dich nehmen willst! Schwöre es mir!« Und er schwur. Und während Cecil umherstreifte, strömten die falschen Wechsel herein. Andreas und die Mutter saßen einander wie zwei Schatten gegenüber, ohne sich zu rühren. Sooft es läutete, fuhren sie zusammen.
Und Cecil ersparte ihm auch das letzte nicht: der Mutter die Nachricht von seinem Selbstmord überbringen zu müssen. Noch klang es ihm in den Ohren: »Gott im Himmel, warum Cecil? Warum er? Warum gerade er und nicht du?«
Als Cecils Leiche nach Hause gebracht wurde, richtete sich die Mutter ein letztes Mal auf, bevor sie erlosch wie eine Lampe, deren Öl ausgebrannt ist. Vor dem Sarge nahm sie Andreas abermals einen Eid ab. Er solle alle Verpflichtungen übernehmen, damit Cecil ohne Unehre im Grabe liegen könne. Sie dachte nicht daran, daß sie Andreas dadurch an Hand und Fuß fesselte und zum unfreien Manne machte.
In der Nacht, als die Mutter starb, saß er bei ihr. Sie zog ihn an sich, strich ihm übers Haar, küßte seine Augen und segnete ihn – in dem Glauben, er sei Cecil … Für ihn, für Andreas, hatte sie kein Wort. Es war, als erinnerte sie sich nicht mehr daran, daß sie ihn zur Welt gebracht hatte …
Widrin überlief ein Schauder. Die Sonne war untergegangen, und die Dämmerung erfüllte ihn mit drückender Trauer. Wieder fühlte er jene furchtbare Einsamkeit, die ihn oft befiel, selbst wenn er unter Menschen war, die sich seine Freunde nannten.
Er hatte viele Freunde, aber keinen, den er seinen Freund nannte. Er empfand warm für die große leidende Menschheit – wohl ein Erbteil vom Vater, wie er auch eine eigentümliche Gabe hatte, teilnehmend lauschen und anscheinend auf den Gedankengang anderer eingehen zu können, ohne je sein eignes innerstes Wesen zu erschließen. Er sprach ebenso leicht mit Frauen wie mit Männern, wenn auch in andrer Weise, und die Frauen zogen ihn gern in ihr Vertrauen, ohne zu ahnen, welch bittre Verachtung dem Geschlecht gegenüber sie dadurch bei ihm nährten.
Der ursprüngliche Altruist in ihm war nach und nach unterlegen, und er beurteilte den Menschen nach seinen Handlungen, ohne daran zu denken, wie vieles die Folge ererbter Eigenschaften und äußerer Bedingungen war, über die niemand Herr sein konnte. Er kannte die helle, milde Nachsicht nicht, die das Leben so leicht macht. Er urteilte und verurteilte – bewahrte aber alles in sich.
Die Menschen, die auf seinen Weg kamen, hielten dauernd an ihm fest und nannten ihn treu. Jeder gewann einen anderen Eindruck von ihm, weil er dem einzelnen gerade diejenige Seite seines Wesens zeigte, die am besten paßte. Er wechselte Briefe mit vielen Männern und Frauen, und es war ihm ein ewiges Rätsel, daß seine Briefe Bedeutung haben konnten, da er sich in ihnen niemals hingab.
Langsam durchschritt er den Zug, von neuem angefochten von jenem seekrankheitartigen Gefühl, das er vorher dem Hunger zugeschrieben hatte. Er ging in ein Kupee, wo der Schirm vor die Lampe gezogen war. Zuerst glaubte er, es sei leer; kurz darauf erkannte er in der einen Ecke eine anscheinend schlafende Gestalt. Er setzte sich auf den Platz gegenüber und merkte an einem leichten Blumenduft, daß es eine Frau sein mußte. Im Dunkel konnte er gerade das Weiße des Gesichtes schimmern sehen, ohne Form oder Züge wahrzunehmen.
Von den niedrigen Wiesen stiegen weiße Nebeldämpfe auf, die an treibende Wolken in Bergpässen erinnerten. Hier und da unterbrach den Nebel ein Gehöft, dicht von schwarzen Bäumen umgeben, und von Zeit zu Zeit ein hellblinkendes Fenster. Seine Augen fielen zu, er schlief.
Als er erwachte, war die Gegend in dem Licht des großen, beinah vollgerundeten Mondes gebadet. Aber nicht so sehr das Mondlicht weckte ihn als das anhaltende Starren von zwei fremden Augen. Die Dame ihm gegenüber sah ihn unverwandt an. Wie lange mochte sie so seinen Schlaf beobachtet haben? Verwirrt wurde er sich bewußt, daß sein Gesicht vollbeleuchtet war, während das ihre im Schatten lag; nicht einmal die Augen konnte er deutlich sehen. Aber es entströmte ihnen eine so lebendige Wärme, daß es ihn trieb, gleichfalls hinüberzustarren, um ihre lindernde Heilkraft eindringlicher zu spüren.
Der Bahnkörper machte eine Biegung, und der Zug schleuderte so heftig, daß ihm schwindlig wurde und er einen Augenblick die Augen schloß. Als er sich sammelte und sie wieder auftat, fiel das Licht auf die Dame.
Keine Sekunde war er im Zweifel.
Und nun saß er da, in eisiger Angst, daß der Zug halten, daß sie aufstehen und weggehen werde. Weggehen von ihm, der zum erstenmal im Leben das Weib gesehen hatte, um derentwillen er als Mann geschaffen worden war. Er konnte sie ja nicht zurückhalten. Er hätte es nicht vermocht. Dazu war seine Natur nicht hurtig und geschmeidig genug. Und er konnte ihr auch nicht nachgehen – darin kannte er sich selbst zur Genüge – er vermochte keinen Vorwand zu finden, sich ihr zu nähern und sie kennen zu lernen.
Aber außerdem … der Gedanke traf ihn wie einer der Peitschenschläge, mit denen man in den Gummigegenden von Südamerika aufrührerische Neger veranlaßt, für den Rest ihres Lebens wie Hunde zu kriechen, und sie für ewig ihrer Manneskraft beraubt … außerdem gehörte sein Leben nicht mehr ihm selber. Dahin, wohin er ging, ging man allein.
Als er sich vor vier Jahren, bei der Trockenlegung von Sümpfen, das erste leichte Fieber zugezogen hatte, gelobte er sich selbst, nie wieder auf diese Art sein Leben aufs Spiel zu setzen. Denn hatte ihm auch das Dasein kein Glück gebracht, so hielt er das Leben doch für etwas ungeheuer Kostbares, das bis aufs äußerste und mit allen Mitteln zu schützen die Pflicht der Menschen war. Nun mußte er in noch schlimmere Gegenden gehen. Die Mutter hatte ihn durch einen Schwur gebunden, den er nicht brechen konnte.
Die Dame sah ihn an und verbarg sich hinter einem Lächeln. Aber der Ernst seines Blickes zerschlug das Lächeln wie ein Stein, der durch eine Fensterscheibe geworfen wird. Ihr Ausdruck verwandelte sich, wurde scheu und leidend. Er glaubte, die Spuren eines Kummers zu sehen, den er nicht kannte, und der ihn nichts anging.
Doch, er ging auch ihn an. Alles, was sie und das Ihre betraf, betraf ihn; alles, was in ihrer Seele und ihrem Leibe vorgegangen war, seitdem sie träumend im Mutterleibe lag, betraf ihn. Gehörte ihm.
Wilde, ohnmächtige Leidenschaft durchglühte seine Adern, während die Gedanken ihre eignen schweren Wege gingen. Warum waren die Menschen so feig und langsam? Warum öffnete er nicht seine Arme und schloß dieses Weib fest und für ewig an sich? Warum flüsterte er ihr nicht zu: Du wurdest ja Weib für mich, wie ich für dich Mann wurde! Gib mir, was mir gehört, und nimm dein Eigentum! Lege deinen Kummer auf mich, ich will ihn tragen! Ich will dich mit Freude und Glückseligkeit füllen! Ich will dir alles geben, was du geträumt hast, und noch mehr. Ich habe alles wohl verwahrt für dich, für dich allein, habe es im Laufe der Jahre gesammelt und für dich aufgehoben! Denn ich liebe dich, wie du mich liebst, du Fremde, die ich gekannt habe seit meiner Geburt, und die ich nie gesehen habe, aber von der ich wußte, daß sie da war, für mich lebte und auf mich wartete …
So rief es in seinem Innern. Aber die Gedanken fanden keinen Weg über die Lippen. Die Brücke zwischen Gedanken und Rede war abgebrochen, und die Kluft zwischen ihnen war tief, weit und unüberwindlich. Kälte und Hitze durchrauschten ihn. Der einzig mögliche Augenblick war verloren. Er hatte nicht gesprochen, kam nicht zum Sprechen.
Stumm saß sie ihm gegenüber, stumm und unzugänglich. Sie wuchs, indem sie sich aufrichtete, wie um eine Stütze für Kopf und Rücken zu finden.
Eine kleine Weile blieb er sitzen, so sehr überwältigte ihn das Gefühl. Ihm blieb die Wahl, sich zu entfernen oder sich auf die Knie zu werfen und zu schluchzen, das Gesicht in ihrem Schoße. Mit einem Ruck riß er sich los und trat auf den Gang hinaus. Während er sich umdrehte, um die Tür behutsam zuzuschieben, sah er ihre Hand ausgestreckt auf dem Sitz liegen; aber er sah nicht, wie die Finger auf ihn zu krochen, wie um ihn zurückzuhalten.
Er verachtete Männertränen. Er entsann sich, als Erwachsener nur einmal geweint zu haben, beim Anblick eines kleinen, blondlockigen Mädchens, das mit seiner Puppe im Arm vor einem Straßenbahnwagen stolperte, und dem beide Füße abgefahren wurden. Jetzt stürzten ihm die Tränen hervor, heiß wie Blut. Der Duft von frischgemähtem Heu drang herein. Erst jetzt spürte er, was es bedeutet, ein Herz zu haben. Diese Tränen, dieser quellende Strom, sie kamen ja aus dem tiefsten Born des Herzens.
Warum wandte er sich plötzlich vom Fenster fort, öffnete die Tür und setzte sich ihr wieder gegenüber? War's eine Ahnung? Oder war es bloß blinder Instinkt? Er sah sie nicht mehr an, hatte jede Hoffnung aufgegeben. Er wollte bloß in ihrer Nähe sein.
Jetzt sprach sie mit ihm: »Sie sehen so müde aus! Legen Sie sich nur hin, wenn Sie des Schlafs bedürfen! Ich nehme keinen Anstoß daran!« Widrin brachte es kaum fertig, den Kopf zu schütteln. Er fühlte, wie seine Zähne klappernd gegeneinander schlugen, wie seine Lippen bebten. Und in Schweigen fuhren sie weiter.
– – – Ein schraubender, kratzender, zermalmender Laut. Ein heftiger, steigender, ohrenbetäubender Lärm. Ein Keulenschlag von hinten. Ein dröhnender Schmerz in der Stirn. Brennende Höllenqual von unten her, eine Qual, die plötzlich erlosch. Blut, das ihm übers Gesicht floß … Der Tod! dachte er.
Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung ward er sich bewußt, wo er war. Und in der tiefen atemlosen Stille, die auf den Lärm des Zusammenstoßes folgte, bevor das Jammern der Verwundeten und Sterbenden zum Ausbruch kam, hörte er seine eigne Stimme das Wort wiederholen: »Geliebte! Geliebte!«
Er erwartete keine Antwort. Der brühende, sägende Schmerz in den Beinen stieg zu einer solchen Höhe, daß die Bewußtlosigkeit sich seiner erbarmte. Dann hörte er das Klirren von Glasscherben, Axthiebe, jammernde Menschenstimmen. Er öffnete die Augen, Ströme von kühlendem Silberlicht sickerten durch das Dach herab, das sich geöffnet hatte.
Er sah ein mit Blut überspritztes Gesicht, das gegen das seine gepreßt war. Ein unkenntliches Gesicht mit zwei vor Angst weitaufgerissenen Augen. Er hörte sich selbst vor Schmerz brüllen, während Menschen hackten und sägten, um ihn loszubekommen. Neue Bewußtlosigkeit, und er lag auf der Erde, auf einer Matratze. Menschen beugten sich über ihn. Im Mondschein sah er die glänzende Spitze einer Morphiumspritze. »Wo ist sie?« rief er. »Wo ist sie?«
Menschen kamen vorbei, lange schlaffe Lasten tragend, die neben ihn gelegt wurden. Er merkte den Duft von frischgemähtem Heu. Träumte er, oder lag sie neben ihm? Fühlte er ihre Hand in der seinen? Weiße Wolken schwammen an einem Himmel, dessen Gewalt ihm ohnegleichen schien. Etwas abseits stand ein Gefäß, Männer und Frauen schöpften Wasser in ihre hohlen Hände und tranken, als hätten sie tagelang gedurstet. Andere spülten blutige Leinen in dem Gefäß. Ein Weib jammerte: »Laßt mich sterben! Helft mir, damit ich sterben kann!«
Alles, was er sah, war schön und herrlich. Er wurde emporgehoben, kam den Wolken näher, er glitt mit ihnen unterm Himmel hin. Das Heu duftete. Er war in Kairo. Die Knaben fütterten Esel. Die roten Fesse strahlten. Ein Kamel kniete. Er setzte sich zurecht, vor ihm saß sie. Sie … Er lag in einem Spitalbett. »Wo ist sie?« rief es in ihm. Er erhielt keine Antwort. Er sah sie seitdem nicht wieder. – –
Es kam vor, daß Ida Witts Freunde sie fragten, warum sie nicht heirate; und einmal antwortete sie – man glaubte jedoch, es sei Scherz: »Ich liebe einen Mann, den ich nur ein einziges Mal gesehen habe. Seinen Namen weiß ich nicht, aber ich will warten, bis er kommt. Und wenn es zu lange dauert, so ist es möglich, daß ich in die Welt hinausziehe, um ihn zu suchen!«
Man lachte. Es sah Ida Witt ähnlich, solche Antworten zu geben, wenn man versuchte, hinter die Mauer zu dringen, mit der sie, trotz aller äußeren Offenherzigkeit, ihr inneres Seelenleben umgab.
Aber mit monatelangen Zwischenräumen kam es vor, daß Ida Witt sich am Abend, beim Mondschein, ans Fenster stellte und leise, als spräche sie ein Gebet, das Wort flüsterte: »Geliebte! Geliebte!« Zweimal hintereinander, wie sie es in jener Nacht gehört hatte, als der Zug in ihr Schicksal fuhr und das Glück zermalmte, das soeben ihr Eigentum geworden war.