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Kurz vor Mitternacht hörte Thaddäus die Tür sich in ihren Angeln drehen. In einem Nu hatte er die Lichter angeknipst und stand ehrerbietig wartend vor dem Aufzug.
Die Fürstin grüßte mit einem abwesenden Lächeln: »Ich habe dir ja gesagt, daß du dich ruhig legen kannst, wenn die Uhr elf ist!« Thaddäus senkte den Kopf: »Durchlaucht werden mich nicht hindern, meine Pflicht zu tun!« »Sind meine Töchter zu Hause?« »Die Prinzessinnen haben sich gegen neun Uhr zur Ruhe begeben!« »Viele Briefe?« »Wie gewöhnlich, Durchlaucht, ein paar Handvoll!« »Telegramme?« Der alte Diener zögerte einen Augenblick, ehe er leise, bebend antwortete: »Drei Eiltelegramme, Durchlaucht … von unten her, vom Gut!«
Die Fürstin ließ, ohne es zu wissen, den Mantel von ihren Schultern gleiten, so daß er zur Erde fiel, ehe Thaddäus ihn ergreifen konnte. Ihr sonst so mutiges Herz begann zu pochen. Sie wußte nun, daß das Unglück, das sie so lange vorausgesehen hatte, im Begriff war, sich zu vollziehen. Sie eilte durch die hohen Säle, wo die Möbel in ihren grauen Überzügen an vermummte, zusammengekrochene Gestalten erinnerten, und wo die mit staubgrauem Flor umwundenen Kandelaber gleich Fledermäusen im Winterschlaf von der Decke herabhingen. Während des hastigen Laufens riß sie die Handschuhe ab, so daß die Knöpfe mit einem kleinen Schrei sprangen. Erst drinnen im Arbeitszimmer blieb sie vor dem mächtigen Arbeitstisch stehen, wo zwischen Stapeln von Briefen und Bittschriften von Flüchtlingen die zuletzt angekommenen Briefe lagen, und davor die drei Eiltelegramme. Auf einer Karte hatte Aglaja geschrieben: »Wir sind so unruhig, Mama, komm' zu uns herein, wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist.«
Die Fürstin pflegte sich nicht überwältigen zu lassen, aber hier ließ ihre ganze Selbstbeherrschung sie im Stich. Schluchzend warf sie sich über den Tisch. Die drei Telegramme meldeten alle das gleiche – sie hatte es erwartet, und doch, jetzt wo sie dem Erwarteten gegenüberstand, erschien es ihr entsetzlicher als alles, was sie erlebt hatte, seit der Tod sie des Mannes beraubte, den sie liebte. Um sein Heim handelte es sich, um das Heim seiner Väter … Was bedeutete dies Palais für sie? Nicht mehr als ein fremdes, gemietetes Haus. Das Heim, das Heim war da unten, wo sie ihre Kinder geboren, sich durch den Kummer hindurchgekämpft und fast über ihre Kräfte gearbeitet hatte. Dann erhob sie sich, richtete sich straff auf, zerknitterte die Telegramme und warf sie auf das Feuer. Aber der Anblick des dicken Holzscheits, das, auf den eisernen Böcken liegend, einen letzten Kampf kämpfte, ehe es sich den Flammen auf Gnade und Ungnade ergab, erregte von neuem ihr Gemüt. Sie sah die wilden, mächtigen Wälder vor sich, spürte den Dunst der bodenlosen Moräste, wo die Riesenbäume langsam umsanken und verschwanden. Die fetten, gefährlichen Sümpfe, die zuweilen, wenn das Licht die Oberfläche berührte, aussahen, als seien sie mit Spinnweben in allen Farben des Regenbogens übersponnen. Nach diesen Sümpfen hatte sie sich hinausgeflüchtet in Tagen, die diesem Tage fern lagen, um in Einsamkeit ihren Kummer auszuschreien. Einmal war sie zu weit hinausgegangen und eingesunken – sie entsann sich noch des lindernden Gefühls, widerstandslos tiefer und tiefer zu sinken. Da aber war das Pflichtgefühl gegen die Lebenden in ihr erwacht und hatte sich stärker erwiesen als die Sehnsucht nach dem Toten. Mit einem Ruck hatte sie sich auf eine Baumwurzel hinaufgerettet.
Die halbverkohlten Holzscheite bargen die Erinnerung an den unerschütterlichen Frieden der ausgedehnten Wälder. Verzaubert von der Stille unter den verflochtenen Kronen, hingerissen von dem Gurren der wilden Tauben, war sie tagelang zu Fuß und zu Pferd umhergestreift mit ihm, dem Geliebten, dem Einzigen, die Welt ringsumher vergessend, vervollkommnet in seiner Nähe. Er hatte sie gelehrt, die Raubvögel an ihrem Flug und ihrem Schrei zu erkennen, er hatte sie in die eigenartige Wollust der Jagd eingeweiht. Von ihm beeinflußt, hatte sie ihren Widerwillen gegen das Töten lebender Wesen überwunden. Einmal hatte sie selbst das Messer in einen wilden Eber hineingerannt, während er lächelnd zusah, siegreich sicher, daß sie das wütende Tier bezwingen konnte.
Die Fürstin sah nach der Uhr. Sie hatte Lust, sich hinzulegen, zu schlafen – zu schlafen und auszuruhen. Ihr Arm und ihre Schulter schmerzten empfindlich, hatte sie doch Suppe für endlose Scharen von Flüchtlingen aufgefüllt. Oft hatte sie ein schwindelndes Gefühl, als müßte sie ein bodenloses Gefäß leeren. Aber jedesmal, wenn der Arm niedersank, sah sie wie durch einen Nebel die abgezehrten Gesichter vor sich, und sie begann von neuem.
Ein Gedanke durchzuckte sie: Hatte sie das Recht, jetzt nach dem Gut zu reisen? Fortzugehen, um sich ihrer eigenen Angelegenheiten anzunehmen, während ihre Nähe hier nach allen Seiten erforderlich war? Und doch, wer hatte Anspruch auf ihre Hilfe und ihren Rat, wenn nicht die Bauern da unten? Sie sah im Geiste die stillen, freundlichen Dörfer vor sich, sie schlug die Hände vor das Gesicht, schaudernd bei dem Gedanken an ein Schicksal, das sie nicht abzuwenden vermochte.
Auf einem kleinen Tisch stand ein Teebrett mit kaltem Huhn und Salat. Es kam in dieser Zeit häufig vor, daß sie den ganzen Tag von der Tasse Kaffee lebte, die sie am Morgen eilig trank. Da war dann ihre Hauptmahlzeit dieser späte Imbiß, den sie in der Regel allein zu sich nahm, da sich die Töchter auf ihren Wunsch früh zur Ruhe begaben.
Sie griff nach dem Telephon, es war notwendig, sich ein paar Güterwagen zu sichern zum Transport von Möbeln, Bildern, Silberzeug und Büchern. Man versprach ihr bereitwillig die beiden Eisenbahnwagen, die sie wünschte, machte sie aber darauf aufmerksam, daß die Frist nicht verlängert werden könne. Dann klingelte sie Ida Witt an und bat sie, so viel von ihrer Arbeit zu übernehmen, wie ihr möglich sei, und auch eine Art Aufsicht über die Töchter während ihrer Abwesenheit auszuüben. Ida versprach, sofort zu kommen, um alles zu besprechen. Die Fürstin schrieb ein paar Telegramme, sah die Aufschriften der Briefe durch – da war ein langer Brief von der Schwester in Berlin. Eine halbe Stunde später war sie zur Reise umgekleidet; sie trug ein Kostüm, das für jedes Wetter geeignet war. Die Handtasche, die stets für alle Fälle mit dem Notwendigsten gepackt bereit stand, lag vor ihr. Dann zündete sie die beiden Kerzen neben dem lebensgroßen Bildnis des Fürsten an. Es war ihr, als sähe sie, wie das Blut unter der goldbraunen Haut pulsierte, als sähe sie die Züge Leben annehmen und das Lächeln in den dunklen, schönen Augen aufblitzen. Ja, er war der ewig Junge, der Unveränderte und Unveränderliche! Würde er sie wiedererkannt haben, wenn er sie jetzt hätte sehen können?
Leise begab sich die Fürstin in den Teil des Palais hinüber, wo die Zimmer der Töchter lagen. Nadja schlief. Das schwache Licht vor dem Madonnenbilde warf einen Schimmer über ihre reinen, ruhigen Züge. Die Mutter beugte sich herab und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn.
Aglaja saß aufgerichtet in ihrem Bett, als die Mutter hereinkam: »Was ist nur los, Mama?« Die Fürstin setzte sich auf den Rand des Bettes: »Nichts von Bedeutung, Kind, ich muß nur auf ein paar Tage nach dem Gut hinunterreisen!« »Da ist mehr, Mama, sage mir alles! Es ist so schwer, wenn du fort bist und wir nicht wissen, was da vor sich geht!« Die Fürstin verriet sich mit keinem Blick: »Du bist so nervös, Aglaja. Du bist überanstrengt. Gib acht auf dich, daß du nicht krank wirst!« Als aber Aglajas Augen fragend an den ihren hingen, fügte sie hinzu, in leichtem Ton, als handle es sich um gleichgültige Dinge: »Du weißt ja, daß die Rede davon war, einige Bäume zu fällen … ein paar Hügel zu rasieren … vielleicht ein paar Hütten abzubrennen … Man wünscht meine Gegenwart, um die Bauern zu beruhigen. Die verstehen sich ja nicht auf strategische Maßregeln …«
Aglaja schmiegte sich eng an die Mutter: »Du brauchst nicht mehr zu sagen. Ich kann fühlen, wie dein Herz pocht … Jetzt weiß ich, was du dich zu verbergen bemühst. Aber, Mama, du wirst sehen … du wirst sehen, daß Nadja und ich stärker sind, als du glaubst …«
Die Fürstin schlug die Augen nieder: »Nun ja, du bist also vorbereitet … Mein tapferes Töchterchen …«
Aglaja nahm Gaston le Lys' Bild von dem Tisch neben dem Bett: »Ich bin nicht tapfer, aber ich will stark sein … Sage, daß du glaubst, daß er sich nicht verändert hat … Sage, daß er noch derselbe ist! Hörst du, Mama, sage das! Sage das!« Die Mutter erhob sich: »Sei stark auch im Glauben an ihn, den du liebst …« Und sie ging.
Ida Witt war schon da. Die beiden Frauen umarmten einander, und ohne Zeit mit persönlichen Gesprächen zu verlieren, setzten sie sich an den großen Tisch und fingen an, die Gesuche durchzulesen. Erst als alles vorläufig geordnet war, fragte Ida: »Hat Aglaja noch immer nichts von ihrem Verlobten gehört?« Die Fürstin seufzte: »Nein, und ich fange an zu glauben, daß das etwas anderes und mehr bedeutet, als daß der Brief nicht über die Grenze kommen kann. Wir bekommen ja doch alle Briefe aus dem feindlichen Ausland, und le Lys hat so viele Verbindungen, daß es ihm ein leichtes sein würde …«
Ida nickte zustimmend. »Und die Mutter in Reims … Wäre es nicht besser, eine Entscheidung herbeizuführen?« Die Fürstin nahm einen neuen Haufen Geschäftsbriefe auf: »Wenn es sich um Nadja handelte, würde ich unbedingt eine Entscheidung erzwingen, aber jetzt … Ich kenne Aglaja … Sie ist wie ein Licht, das von dem leisesten Windhauch ausgeblasen werden kann. Sie gehört zu den Menschen, die sich selbst und damit alles aufgeben … Wenn er an der Front wäre, und es käme die Nachricht, er sei gefallen, so würde das, glaube ich, zu überwinden sein. Aber das andere, das, was ich befürchte … Ich kenne Aglaja, sie ist nur Gefühl. Schon jetzt, sehe ich, ist sie nahe daran zu verbluten, und ich kann ihr nicht helfen … Ach, als der Krieg ausbrach, dachte ich an meine arme Schwester, die ihre Söhne hinaussenden mußte. Gar manches Mal hab' ich meinem Gott gedankt, daß er damals, vor langer Zeit, mein Gebet nicht erhörte, wie unsagbar gern wir auch einen Sohn gehabt hätten, um den Namen und die Familie weiterzuführen … Aber nun weiß ich, daß nicht nur die Mütter, die Söhne haben, schwer tragen müssen …«
Und die Damen gingen wieder an ihre Geschäfte.
Spät am Nachmittag langte die Fürstin auf der kleinen Landstation an, wo der Wagen wartete, um sie auf das Schloß zu bringen. Der alte Kutscher weinte, als er ihr die Hände küßte. Die Zerstörung war im vollen Gange. Die hundertjährige Allee, die zum Schloß hinaufführte, war gefällt. Der Park war rasiert. Im Schein der untergehenden Sonne sah sie überall Arte und Sägen blitzen, hörte sie das krachende Fallen von Bäumen, Sprengungen und Knittern von Feuer. Am nächsten Morgen zog sie die hohen Schaftstiefel an, die sie immer trug, wenn sie mit dem Inspektor oder dem Verwalter hinausging, und begab sich ins Dorf.
Man wußte, daß sie gekommen war, und alte und junge Frauen, die meisten barfuß, standen in ihren bunten Röcken vor den Hütten. Überall küßte man ihr die Hände, kniete und weinte. Überall trat ihr dieselbe bange Frage entgegen: »Wo ist der Feind? Wann kommt er? Was soll aus uns werden?« Sie konnte ja keine Antwort geben, sie wußte es selber nicht. Nur das eine wußte sie, und sie scheute sich, es zu sagen: Eine jede dieser Hütten ist verurteilt, der Erde gleich gemacht zu werden. Weder Baum noch Strauch darf zurückbleiben! Sie kannte ihre Leute hinreichend, um zu wissen, daß ihre Gehirne unempfänglich für jede Erklärung einer strategischen Notwendigkeit waren. Wer würde es nicht vorziehen, den Feind abzuwarten! Vielleicht kam er gar nicht! Man durfte doch hoffen.
Die Fürstin ging von einem Dorf zum anderen. Sie hatte diese armen Menschenkinder gelehrt, Freude aus dem Dasein zu schöpfen. Jetzt hielten sie ihre Kinder frei von Ungeziefer. Jetzt schickten sie sie willig zur Schule und waren stolz darauf, daß sie lesen und schreiben konnten. Jetzt bebauten sie den Boden, der ihre Häuser umgab, und bewahrten das Obst auf oder verkauften es. Die Frauen klöppelten Spitzen oder flochten Körbe. In mehreren Hütten gab es eine Nähmaschine. Die Fürstin wußte, daß sie sie als Urheberin ihres Wohlstandes ansahen und fast wie ein höheres Wesen betrachteten. Und nun sollte sie kommen und ihnen den Erdboden und die Häuser nehmen, sie hinausjagen, sie heimatlos machen! Aber wenn sie ihnen diese Botschaft von anderen überbringen ließe, würden sie sich zur Wehr setzen. Sie durfte nicht zögern.
Aus jedem Dorf ließ sie die klügsten Männer und Frauen kommen. Sie hieß sie im Rittersaal Platz nehmen, wo sie die Diener die Lichter auf allen Leuchtern und den Kerzenringen unter der Decke hatte anzünden lassen. Aber als sie zu reden anfing, glitten die Bauern auf ihre Knie nieder und beugten die Köpfe bis auf den Fußboden. So geziemte es sich für sie anzuhören, was ihre gute Mutter und Frau zu sagen hatte.
Die Fürstin sprach zu ihnen in schlichten Worten, als spräche sie mit kleinen Kindern. Sie sprach in Bildern, so wie sie selber zu tun pflegten, bald ernsthaft, bald so, daß sie vor Lachen glucksten. Sie erzählte von ihrem verstorbenen Mann, der selbst so glücklich war, und der deshalb alle anderen glücklich machen wollte. Was sie für ihre Leute getan, war nur, was er geplant hatte. Sie erinnerte sie daran, wie ihre Eltern vor langen Jahren kein Obst hatten ziehen wollen, und als man ihnen die Bäume schenkte, sie mit der Wurzel nach oben und der Spitze nach unten eingepflanzt hatten. Da hatte der Fürst die Peitsche über ihnen geschwungen, und plötzlich begriffen sie, wie Bäume gepflanzt werden mußten. Die Bauern kannten die Geschichte, wie sie ihre Sonntagskleider kannten. Sie hatten die Uralten erzählen hören, daß dies geschehen war, ehe sie geboren waren; aber jetzt tat es ihnen gut, sie wieder zu hören. Mehrere von ihnen murmelten mit, als sie darauf zu sprechen kam, wie die Bäume zu wachsen anfingen.
Sie erzählte von den Wäldern, die so alt waren, daß nur die ältesten Berge sie als Kinder gesehen hatten. In diesen Wäldern waren der Fürst und seine Vorfahren seit Hunderten von Jahren als Knaben in die Bäume geklettert, hatten sie Fuchs und Marder Fallen gestellt und als erwachsene Männer das Wildschwein und den braunen Bären gejagt. Sie nahm die Geschichte der Petroleumquellen durch, vom ersten Tage bis jetzt, wo die Bahn bis ganz in diese Gegend hinabgeführt wurde, so daß man nicht mehr mit Wagen durch Hohlwege und Bergpässe zu fahren brauchte, um Waren zu holen und Korn zu verkaufen. Die Bauern nickten mit ihren Köpfen bis zur Erde, und die klugen Frauen seufzten zum Zeichen, daß sie verstanden. Die Fürstin sah mit tränenden Augen über sie hin. Noch hatte sie kein Wort gesprochen, das ihnen wehe tun konnte.
Dann sprach sie von dem Schloß, in dem der Fürst geboren war, und wo ihre Töchter das Licht erblickt hatten. Sie streifte die Geschichte Polens, und ihre Stimme klang so traurig, so schwach, daß die Bauern die Köpfe erheben muhten, um die Worte zu hören. Sie sprach von den großen Gastmählern für die Könige Polens. Sie sprach von dem Krieg. Jetzt war Krieg im Lande. Jedem Befehl von oben mußte gehorcht werden, als sei er mit Gottes eigener Hand geschrieben. Ob der Feind kam oder nicht, die Gegend hier mußte glatt rasiert werden, um ihn an der Möglichkeit zu hindern, sich festzusetzen und Vorräte für Mannschaft und Pferde zu finden.
Die Bauern hatten sich aufgerichtet. Ihre Pelzmützen lagen an der Erde, sie hoben sie nicht auf. Die Frauen verließen ihre Plätze und drängten sich um die Fürstin wie um einen Altar, dem man mit seinen Bitten nicht nahe genug kommen konnte.
»Wenn der alte Kaiser zu euch käme und einem jeden von euch einzeln sagte: ›Ich bin durstig, gib mir die Milch von deiner Kuh! Ich bin hungrig, gib mir die Frucht von deinen Bäumen! Ich habe kein Dach über dem Haupt, gib mir deine Hütte!‹ Ihr würdet ja alle hinausgehen und sagen: ›Tritt ein, guter Herrscher, es ist alles dein!‹ Ihr würdet nicht fragen: ›Warum bist du durstig? Wovon bist du hungrig? Warum hast du kein Dach überm Haupte?‹ Ihr würdet wissen, daß sich solche Fragen nicht geziemen. Auch würdet ihr nicht denken: ›Woher sollen wir nun die Nahrung für uns und die Milch für unsere kleinen Kinder nehmen? Woher sollen wir das Dach über dem Haupte nehmen?‹ Ihr würdet wissen, daß über dem Kaiser ein noch höherer Herrscher steht, der einen jeden von euch im Auge behält, und der euch in der Stunde der Not nicht verlassen wird.«
Einer der alten Bauern fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Jesus, Maria, steht es so schlecht mit unserem Kaiser? Ist es so, wie du sagst?« Aber die klugen Frauen suchten ihn zum Schweigen zu bringen, sie begriffen, daß es auf andere Weise aufzufassen sei.
Die Fürstin trat an den Mann heran, der gesprochen hatte: »Ja, Alter, der Kaiser hat deine Hütte nötig … und deine … und die deine … Alle eure Hütten und noch viel mehr. Ihr denkt, das Schloß hier und die Ställe und die Scheunen stehen so sicher wie die Berge selber. Aber nun bin ich gekommen, um euch zu sagen, daß ihr und ich diese Mauern und Türme zum letztenmal gesehen habt. Und hört ihr mich klagen?«
Sie waren fort. Die Fürstin stand noch auf demselben Fleck. Ihre Hand war naß von den Tränen der alten Männer. Sie hatten sich von dannen geschleppt, zu Boden gebeugt, als trügen sie ein unsichtbares Kreuz, an dem sie gekreuzigt werden sollten.
Aber es war keine Zeit zu verlieren. Ingenieure und Forstbeamte, Inspektoren und Knechte strömten zusammen, um Befehle zu empfangen, nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Gegend. Alle Wagen und Pferde des Gutes sollten den Bauern zur Verfügung gestellt werden, die es vorzogen, Hausrat und Familie auf eine Karre zu laden und sich selber einen Weg zu schaffen. Wer wollte, konnte noch am selben Tage oder auch am nächsten mit dem Zuge fortkommen. – –
Drinnen im Schloß war alles Aufbruch. Möbel, die nicht durch Türen und Fenster kommen konnten, wurden auseinandergenommen. Große Bilder wurden aus den Rahmen geschnitten, um aufgerollt zu werden, denn so nahmen sie am wenigsten Platz ein. Bücher und Handschriften wurden in Säcke gestopft und auf den Hof geworfen. Silberzeug ward zusammen mit Gedecken und Bettwäsche in Weidenkörbe gepackt. Die Fürstin dirigierte mit überlegener Ruhe, als habe sie nicht achtundvierzig Stunden, sondern ein ganzes Jahr zur Verfügung. Plötzlich hörte sie draußen verwirrten Lärm. Der ganze Schloßhof war voll von jammernden Frauen und Kindern. Sie schleppten Hausgerät, Körbe mit Hühnern und Enten, sie kamen mit Ziegen, Eseln und Schafen. Eine von ihnen drängte sich durch die Menge hindurch und erzählte schreiend, daß keine von den alten Frauen von dannen ziehen wolle. Sie wollten sterben, wo sie gelebt hatten. Sollten die Hütten niedergebrannt werden, möge man sie mit verbrennen.
Die Fürstin fühlte, wie ihr eisige Kälte durch Mark und Bein drang. Sie wußte, was sie zu tun hatte. Ihr blieb keine Wahl. Sie wandte sich an die Leute, die mit der Räumung des Schlosses beschäftigt waren, und befahl ihnen, alles von den bereits gefüllten Wagen abzuladen. Sprachlos vor Staunen starrten sie ihre Herrin an. Sie rief: »Alls bleibt hier! Ich nehme nichts mit!«
Sie trat auf die große Sandsteintreppe hinaus, so daß sie allen sichtbar wurde, und mit einer Handbewegung zwang sie die schreienden Weiber zu schweigen: »Geht nach Hause und sagt den Alten, daß ich kommen werde, um sie zu holen. Sagt, daß ich sie mitnehme! Sagt, daß sie bei mir und meinen Töchtern wohnen sollen! Sorgt aber dafür, daß ihr selber bis morgen mittag fort seid, und rettet das Kleinvieh, damit es nicht verhungert!«
Am nächsten Tage führte sie ihr Vorhaben aus. Achtzig alte Frauen wurden aus ihren Hütten herausgelockt. Humpelnd und an Stöcken schwankend, einige mit einer Katze auf der Schulter, andere mit einem Bündel voll Eier oder einer Handspindel, stolperten sie hinter ihr drein zum Schloß hinauf, von wo aus sie nach der Bahnstation fuhren. Die beiden Güterwagen, die für ihr Hausgerät bestimmt gewesen waren, wurden mit Stroh und Decken und Betten gepolstert und die alten Weiber der Reihe nach hineingelegt und zugedeckt wie kleine Kinder. Sie jammerten vor Angst, leisteten aber keinen Widerstand.
Spät am Abend trugen Soldaten Fackeln nach den Dörfern hinab. Die Luft war ganz still. Kein unnötiger Lärm störte den Frieden. Das Feuer tat seine Pflicht. Willig wie Torf brannten die lehmverstrichenen Hütten. Spärliche Flammen leckten in die Luft hinauf und sogen sich fest in den kahlen Bäumen. Langsam sanken die Mauern, rotglühend, fast durchsichtig, sanken und fielen zu Aschenhaufen zusammen. Ein paar Krähen schrien, als ihre Nester Feuer fingen. Der Gestank verbrannter Schaffelle lockte die Hunde herbei. Im übrigen aber war es so still, daß man das Plumpsen hörte, wenn der Eimer von dem durchgebrannten Strick in den Brunnen hinabfiel.
Der Offizier, der die Arbeit leitete, trat an die Fürstin heran: »Die Leute erzählen, Durchlaucht wollen Ihr Mobiliar im Schloß zurücklassen. Verhält es sich so?« Die Fürstin antwortete: »Ich habe das Wichtigste gerettet, den Rest übergebe ich der Hand des Schicksals.«
»Durchlaucht wissen, daß der Befehl des Oberkommandos lautet, die ganze Gegend sei zu rasieren. Das Schloß wird in die Luft gesprengt werden, und die Wälder …« Sie ließ ihn nicht zu Ende sprechen: »Ich kenne den Umfang der Pflichten, die uns beiden auferlegt sind!« Und sie entfernte sich.
So lange sie aus den Fenstern des Schlosses die Flammen der brennenden Dörfer sehen konnte, blieb sie stehen, als aber alles dunkel und still war, schnitt sie die Bilder ihres Gatten und seiner Vorfahren aus den Rahmen, rollte sie auf und umwand sie mit einer Schnur. Dann leerte sie ihren Koffer und füllte ihn bis an den Rand mit alten Handschriften. Und in der stillen Nacht ging sie in die Schloßkapelle hinab und hielt Andacht an dem Marmorsarkophag, der den Staub des Fürsten barg.
Während sie sich dort unten aufhielt, vernahm sie einen wunderlich dumpfen Laut, der an fernes Donnern erinnerte; da wußte sie, daß der Feind näher war, als man es sie hatte wissen lassen.
Am nächsten Morgen verließ sie das Schloß, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Sie vermochte es nicht.
Sie setzte sich nicht in ein Abteil erster Klasse, sondern blieb im Güterwagen bei den alten Frauen. So kehrte sie nach Wien zurück.