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Die Fürstin

Als Laura Anastasia nach dem frühen Tode ihres geliebten Mannes selber die Verwaltung ihrer ausgedehnten Güter übernahm, als sie, die Frau, die Fürstin, im Herzen der Wälder, in den großen weglosen Morästen Galiziens nach Petroleum zu bohren begann, als sie anfing, ihre Bauern zu erziehen und zu zwingen, ein menschlicheres Dasein zu führen, entstand nach und nach ein leerer Raum um sie.

Man achtete sie zwar nicht weniger als früher. Man zog sich zwar nicht zurück, aber man suchte sie nicht mehr. Sie war herabgestiegen und hatte auf Kaufmannsart ihre Hände mit Geld beschmutzt.

Lange nach dem Tode des Fürsten erzählte man von seinen großen Kostümfesten und Wildschweinjagden, wo der polnische Adel auf allen Landstraßen herbeiströmte mit den Viergespannen von Vollblutpferden vor gewaltigen wiegenden Karossen mit vergoldeten Adelsschilden und Initialen auf den Türen. Aus Krakau und Lemberg, von den Gütern längs der galizischen Grenze, ja von drüben aus Russisch-Polen, aus Warschau waren sie gekommen.

Sie trafen einander und fühlten sich als eine große Familie, was sie auch waren, durch Einheiraten von Jahrhunderten her. Sie waren miteinander verknüpft durch Tradition, durch die Geschichte des Geschlechtes und Landes und durch die Kunst und Kultur, die zu blühen fortfuhr, selbst als das Land in Verfall war. Sie verstanden sich untereinander durch einen Blick, ein Lächeln, eine Handbewegung. Sie waren sich selber genug und sahen mit offenkundiger Verachtung auf alle Außenstehenden herab, wie sie auf alles herabsahen, was Kaufmännisches betraf. Wer kannte wohl den genauen Umfang seiner Grundstücke? Wer führte Buch über seine Pferde oder Bauern? Wer untersuchte die Abrechnungen des Jahres und verglich die Einnahmen aus der Ernte, dem Holzschlag und Viehverkauf? Dazu hatte man Verwalter und Gutsinspektoren. Sie allein hatten mit Überschwemmungen, Rinderpest, Eintreibung der Steuern und Mißwachs zu tun. Sie waren verantwortlich dafür, daß Geld genug vorhanden war: sie hatten es herbeizuschaffen.

Man lebte, um zu genießen. Die Feste in den alten Palästen in Krakau, wo ungarische Zigeunerorchester aufspielten zu Diners, bei denen auf Gold serviert wurde, sie konnten mit davon reden.

Die Bauern vergingen vor Ungeziefer, Schmutz und Armut. In Hütten, die oft aus einem einzigen lehmverstrichenen Raum bestanden, lebten Menschen und Tiere zusammen, so gut es ging. Im Rausch, der ihre größte Freude war, kam es zu Schlägereien und Anklagen wegen Diebstahls von Korn oder Saat. Sie führten Prozesse, die jahrelang dauerten, und bei denen ihre letzten Pfennige in die Taschen kluger Advokaten wanderten. Sie hatten sich an ihre Erniedrigung gewöhnt und verlangten nichts sonst.

Die Zeiten hatten sich nach dem Tode des Fürsten wohl nicht sehr verändert, aber die Fürstin war eine andere geworden, oder richtiger, sie hatte begonnen, alle die Verbesserungen auszuführen, die ihr Mann vorgeschlagen hatte, ohne ihre Verwirklichung zu erleben.

Mit seinem Tode schwand die Freude aus ihrem Dasein; sie wünschte nur, ihm zu folgen, aber die Pflichten gegen ihre beiden Töchter hielten sie zurück.

Mit einem Schlage änderte sie ihre Lebensführung. Zwei von den Flügeln des Schlosses wurden abgesperrt. Die großen Säle durften hinter Fensterläden schlafen, die weder Winter noch Sommer geöffnet wurden. Die persischen Teppiche und Gobelins mit ihren Schäferszenen und venezianischen Festen lagen zusammengerollt und mit Pfeffer bestreut da. Die Kronleuchter waren in Laken gehüllt. Die mächtigen vergoldeten Spiegel wurden stockfleckig in Räumen, in denen nie geheizt wurde. Die Parkettböden warfen sich und lösten sich in den Fugen.

Einmal im Monat hielt die Fürstin Gericht über ihre Bauern. Dann saß sie im Rittersaal unter dem Bilde jenes Fürsten, dem einmal die Krone Polens angeboten wurde, der sie aber mit den Worten ausschlug: »Andere sind würdiger als ich!« Nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen konnten bei ihr jegliche Klage vorbringen. Und sie vermittelte zwischen ihnen, so daß nur selten Verwendung für den kostspieligen Anwalt war. Früher hatte man sich oft selber sein Recht verschafft, indem man aus Rache die Hütte des Gegners abbrannte; seit jedoch einmal die Fürstin alle für die Handlung des einzelnen zur Rechenschaft zog und den Bauern eines ganzen Dorfes den Wiederaufbau einer abgebrannten Hütte auferlegte, war es vorbei mit den Brandstiftungen. Die Bauern wußten, daß auf den Tisch der Fürstin nur Wasser kam, und langsam erreichte sie, daß das Trinken abnahm.

Die kleinen Prinzessinnen Nadja und Aglaja wuchsen unter der Aufsicht der Mutter auf. Sie hatten freien Zugang zu den Büchern in der großen Bibliothek, die die Fürstin beständig vergrößerte. Nichts Menschliches blieb ihnen fern. Ohne Schmutz oder ansteckende Krankheiten zu fürchten, gingen sie in den lehmverstrichenen Hütten ein und aus. Sie besuchten und verbanden die Aussätzigen, die von ihren Angehörigen verabscheut und gefürchtet in einer Einfriedigung lebten.

Sie wurden dazu erzogen, ihre Geburt als Verpflichtung statt als Vorrecht zu empfinden. Sie wurden daran gewöhnt nachzudenken, bevor sie sprachen, und frei ihre Gedanken zu äußern. Ihre Kindheit war ernst, ohne streng zu sein.

Von Zeit zu Zeit waren sie zu Besuch auf einem der Nachbargüter oder hatten gleichaltrige Gäste; aber keine Freundschaften wurden geschlossen, die Kluft war zu groß. Früh erfuhren sie, daß ihre Mutter das ganze Vermögen, auch das Erbteil der Kinder, in den ungeheuer kostspieligen Bohrungen nach Petroleum angelegt hatte. Glückten diese, so bedeutete das Wohlstand für große Teile des Landes; schlugen sie fehl, so konnte es Armut für sie selber bedeuten. Manchmal brachte die Fürstin ganze Wochen in einer Holzhütte draußen bei den Sümpfen zu, um die Arbeit zu verfolgen und dem Ergebnis näher zu sein. Hier und da wurde den Töchtern erlaubt, sie dort zu besuchen, herumzulaufen und das emsige Treiben der Ingenieure zu beobachten. Oder sie streiften aufs Geratewohl in den Wäldern umher. Verirrten sie sich, so wußten sie den Weg mit Hilfe des kleinen Taschenkompasses, den sie immer bei sich trugen, wiederzufinden. Mehr als einmal kam es vor, daß sie in das Dorf mit einer Tracht Brennholz zurückkehrten, die ihnen zu schwer erschienen war für den gekrümmten Rücken eines alten Bauern.

Die Fürstin, die ihnen einen möglichst großen Bestand von Kenntnissen zu verschaffen wünschte, ohne sie von Hause fortzuschicken, hatte ihren treuen Freund, den Professor Witt in Jena, gebeten, die richtigen Lehrer für sie auszuwählen und den Plan für ihre Unterweisung zu entwerfen.

Professor Witt, der seine eigenen Kinder als Kosmopoliten erzogen hatte, empfahl ihr Unterricht in fremden Sprachen, nicht nur, um die Kinder auf die internationale Geselligkeit vorzubereiten, die sie erwartete, sondern auch – und ganz besonders, damit sie sich leichter die Kultur und Poesie anderer Länder aneignen könnten.

Sie schossen schnell in die Höhe und wurden groß, schlank wie die Mutter. Aglaja hatte das vollkommene Gesichtsoval des Fürsten, goldene Haut, schwarzes Haar und ein heftiges Gemüt, während die rotblonde Nadja durch und durch harmonisch war. Aglaja war musikalisch, und Nadja hatte Anlagen für Philosophie. Sie kamen vortrefflich miteinander aus, und Nadja verstand es immer, Aglajas leidenschaftliches Gemüt in ruhige Schwingungen zu versetzen.

Seitdem sie halberwachsen waren, nahm die Fürstin sie jeden Winter ein paar Monate auf Reisen mit, bald nach Italien und bald nach Frankreich, vor allem aber nach Berlin, wo ihre Schwester Therese, die Witwe des Generals Kasimir von Treschau, sich aufhielt. Die beiden ältesten Söhne der Generalin, Helwig und Konstantin, waren schon Offiziere. Ernst August, der jüngste und der Abgott der Mutter, hatte es sich in den Kopf gesetzt, Künstler zu werden.

Für die Generalin, die außer ihrer Witwenpension nur die Zinsen eines sehr kleinen Kapitals hatte, war der tägliche Haushalt ein Problem, das sie viele schlaflose Nächte kostete. Sie fühlte sich verpflichtet, standesgemäß zu leben, und war nicht dazu zu bewegen, Hilfe irgendwelcher Art von Laura Anastasia entgegenzunehmen. Mit ihren Söhnen schlossen sich Nadja und Aglaja fast wie Geschwister zusammen, und eine Reihe von Jahren hindurch waren sie die einzigen Sommergäste auf dem Gut.

Nadja verbrachte in ihrem achtzehnten Jahr ein Semester in Jena, wo Professor Witt nicht nur privatim mit ihr arbeitete, sondern sie auch wie eine nahe, liebe Verwandte in sein Heim aufnahm. Dort lernte sie seine Tochter Ida kennen, und es wurde der Grund zu einer dauernden Freundschaft gelegt, die sich weiter entwickelte, als die Fürstin im Jahre darauf das Familienpalais in Wien instandsetzen ließ und ihre Töchter dort einführte.

Nadja und Aglaja sahen sich auf einmal mitten in einen Wirbel von Geselligkeit versetzt, der sie verwirrte und ängstigte. Die Fürstin ließ ihnen freie Hand in der Wahl ihres Umganges. Sie hoffte, die Mischung von Geistes- und Geburtsaristokratie werde beiden Teilen in gleichem Maße zugute kommen. Aber die Gesellschaft fühlte sich gegenseitig bedrückt. Die wissenschaftlich ausgebildeten und künstlerisch begabten Menschen glaubten den »geborenen« weit überlegen zu sein; es fehlten ihnen jedoch die Leichtigkeit ihres Wesens, ihre Eleganz in den Umgangsformen und vor allem ihre jongleurartige Behendigkeit darin, oberflächliche Gespräche zu führen. Sie waren nicht immer korrekt in der Kleidung, und ihr Freimut konnte in peinliche Verlegenheit umschlagen.

Beide Teile machten einander gewissermaßen den Hof. Der eine versuchte rücksichtsvoll von dem zu sprechen, was nach seiner Ansicht den anderen interessierte, aber es kam zu Unterhaltungen, die von zwei Ufern eines Flusses geführt wurden, über den keine Brücke führte. So wenig es einer jungen Dame aus der aristokratischen Gesellschaft Spaß machte, eine philosophische Abhandlung von Wundt zu erörtern oder eins von Leonardos wissenschaftlichen Problemen, so wenig interessierte es einen gelehrten Professor, von Golf und chinesischen Hunden zu reden.

Endlich gelang es Ida, die Fürstin zu bewegen, den einzigen natürlichen Ausweg zu wählen: die Böcke von den Schafen zu scheiden. Und wie durch einen Zauberschlag waren die Dinge in Ordnung gebracht.

Nun erstrahlte der Palast an dem einen Abend im Glanze aller Kerzen, von Gala-Uniformen und jungen schönen Damen. Es wurde getanzt, geflirtet, Hofneuigkeiten und kleine Intimitäten aus dem Privatleben wurden erzählt, das Lachen klang, und die Fächer schlugen.

An dem andern Abend erörterte man soziale Reformen, redete von Kunst, musizierte und trennte sich spät nach Mitternacht. Ida zeigte sich zuweilen, wenn die Oper aus war, und dann kam es vor, daß die Gesellschaft, mit ihr an der Spitze, im Halbkreis das Klavier umstand und die ganze Oper unter Lachen und Jubel durchging. Singmüdigkeit war Ida fremd. So schroff ablehnend sie sich verhielt, wenn es sich um ihre Mitwirkung bei Basaren und wohltätigen Fünfuhrtees handelte, so verschwenderisch unterhielt sie ihre Freunde mit ihrer Kunst.

Ida Witt war im Besitz einer unbezähmbaren Naturkraft, die ihr nicht gestattete, sich irgendwelchen gesellschaftlichen Zwang aufzuerlegen. Während der ersten Jahre ihres Aufenthaltes in Wien hatte man sie von allen Seiten umworben, man hatte versucht, in allen Kreisen Nutzen von ihr zu haben, und einen Winter hindurch hatte sie sich feiern lassen sowohl ihrer Stimme wie ihrer Persönlichkeit wegen. Aber dann hatte sie genug bekommen. Im nächsten Winter schlug sie jede Einladung glatt ab. Sie wollte ihre Zeit nicht verschwenden, ihre Lebensfreude nicht opfern und ihre Entwicklung nicht vernachlässigen um leerer, öder Abende willen, deren einziger Ertrag fade, einförmige Komplimente waren. Sie hatte das Gefühl, geistiger Hungersnot nahe zu sein.

Da aber ihre Persönlichkeit von magisch bezauberndem Reiz war, konnte sie sich das Unerhörte, das Einzigdastehende gestatten – und gestattete es sich: sie sammelte um sich einen Kreis, der aus allen Lagern ausgewählt war, aber sie selbst nahm nicht teil an irgendwelcher Geselligkeit außerhalb ihres Heims.

Anscheinend stand dieses einem jeden offen, der durch einen ihrer Freunde eingeführt wurde, aber diese waren mit einem so wählerischen Sinn ausgesucht, daß nur sehr selten ein Fehlgriff begangen wurde.

Und geschah es, so zeigte sich der Gast zum ersten- und letztenmal bei ihr. Man wußte, daß jede Erweiterung des Kreises eine Steigerung der Qualität bedeutete. Man wußte, wenn Ida einen neuen Freund aufgenommen hatte, so war dieser Mensch im Besitz von Eigenschaften, die allen zugute kommen würden. Und ohne Kritik wartete man ab. Idas mit Stolz gemischte Freude, wenn sie sah, wie die verschiedensten Elemente in harmonischer Einheit verschmolzen, war nicht gering.

Bei ihr versammelten sich Künstler und Staatsmänner, Offiziere und Gelehrte, Diplomaten und Sonderlinge – jeder für sich eine Persönlichkeit, die unter anderen Umständen den Mittelpunkt eines Kreises gebildet hätte, hier aber sich dem Ganzen unterordnete. Einige wenige besonders wohlhabende Menschen waren – trotz ihres Reichtums – aufgenommen worden, und sie waren die einzigen, die zunächst gewissermaßen um Entschuldigung für ihre Anwesenheit baten; doch bald fand man, daß sie im Besitz von Eigenschaften waren, die ihren Reichtum wieder gut machten.

Ida Witt stellte ungeheuere Anforderungen an ihre Freunde in bezug auf ihr Verhältnis zur Menschheit, zugleich aber räumte sie ihnen vollkommene Freiheit ein, ihrem Naturell zu folgen.

Beging dagegen jemand eine Handlung, die ihr mit seinem Naturell in Widerspruch zu stehen schien, so forderte sie ihn auf der Stelle zur Rechenschaft, und dann konnte ein Gewitter losbrechen, daß man glaubte, die Welt werde untergehen. Wurde das Unrecht eingestanden oder das Mißverständnis erklärt und berichtigt, so war der Frieden sofort wieder hergestellt.

Der Kreis hatte Bestand, und doch glitt ein Strom von neuen Menschen ein und aus. Es waren die Freunde von draußen, diejenigen aus anderen Ländern und anderen Weltteilen. Ida war ja von ihrer Kindheit und frühesten Jugend in Jena an durch den Vater mit einer Heerschar von bedeutenden Männern und Frauen bekannt geworden, die kamen, um ihm ihre Huldigung und Hochachtung zu bezeigen. Viele von ihnen blieben fürs Leben ihre Freunde, und in jahrelangen Zwischenräumen kamen sie nach Wien, um für kurze Zeit das Beisammensein mit ihr und ihrem Kreise zu genießen.

Für Ida war Laura Anastasia nicht die Fürstin, sondern eine ungewöhnlich tatkräftige und menschenfreundliche Frau, die ihre Kinder erzog, wie es sich einer guten Mutter geziemt. Aber oft wurde die Fürstin wehmütig bei dem Gedanken, daß Nadja und Aglaja sich wahrscheinlich im eigenen Kreise verheiraten würden; und sie ahnte, daß ihre Töchter nicht dort das Glück finden würden, das sie suchten.


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